Urteil des LG Ellwangen vom 14.05.2004

LG Ellwangen: medizinische abklärung, behandelnder arzt, dokumentation, operation, eltern, verdacht, anhörung, auflage, beweislastumkehr, kopfschmerzen

LG Ellwangen Urteil vom 14.5.2004, 1 S 25/04
Arzthaftung: Hinweispflicht des Arztes bei Verdacht auf einen Fremdkörper in der Nase eines Kindes; Dokumentationspflicht und Folgen
lückenhafter Dokumentation; Schmerzensgeldanspruch des Kindes wegen schmerzhafter, verzögerter Entfernung einer leicht
eingewachsenen Uhrenbatterie
Tenor
1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Amtsgerichts Heidenheim vom 23. Januar 2004 abgeändert:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1000, - Euro nebst Zinsen von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 18.
September 2003 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
3. Von den Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin 4/5 und die Beklagte 1/5.
4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
1
(§§ 313 a, 540 ZPO):
2
Die zulässige Berufung der Klägerin hat teilweise Erfolg.
3
Der Klägerin steht gegen die Beklagte nach §§ 823 Abs. 1, 280 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB ein Schmerzensgeldanspruch in Höhe von 1000, - Euro
zu.
4
Der Entscheidung ist zugrunde zu legen, dass ein pflichtwidriges Fehlverhalten der Beklagten zu einer Gesundheitsverletzung der Klägerin mit
schmerzhaften Beeinträchtigungen geführt hat. Nach der Anhörung des Vaters der Klägerin und dem persönlichen Eindruck von der Mutter ist
das Gericht davon überzeugt, dass die Eltern der Klägerin weiter hätten abklären lassen, ob bei der Klägerin eine Uhrenbatterie in die Nase
eingeführt wurde, wenn sie von der Beklagten auf die Erforderlichkeit weiterer Untersuchungen hingewiesen worden wären. Dann wäre mit an
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, etwa durch Röntgenaufnahmen, der damals unstreitig im Nasenraum der Klägerin vorhandene
Fremdkörper entdeckt und unverzüglich auf weniger schmerzhafte Weise entfernt worden.
5
Da die Beklagte diesen Hinweis nicht dokumentiert hat, muss nach Beweislastgrundsätzen davon ausgegangen werden, dass dieser Hinweis
nicht erfolgt ist. Die Beklagte kann nicht beweisen, dass sie diesen Hinweis erteilt hat. Zweck der ärztlichen Dokumentationspflicht ist nach der
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH NJW 1999, 3408 ff.) die Sicherstellung wesentlicher medizinischer Daten und Fakten für den
Behandlungsverlauf, nicht die Sicherung von Beweisen für einen späteren Haftungsprozess. Deshalb ist eine Dokumentation, die aus
medizinischer Sicht nicht erforderlich, auch aus Rechtsgründen nicht geboten. Geiß/Greiner (Arzthaftpflichtrecht, 4. Auflage, Rz 203) folgern aus
der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, dass aufzeichnungspflichtig die für die ärztliche Diagnose und Therapie wesentlichen
medizinischen Fakten sind, in einer für den Fachmann hinreichend klaren Form mit der Maßgabe, dass die Dokumentationspflicht nicht weiter
reicht als das medizinische Erfordernis. Steffen/Dressler (Arzthaftungsrecht, 7. Auflage, Rn 458) führen aus, dass die wichtigsten diagnostischen
und therapeutischen Maßnahmen und Verlaufsdaten zu dokumentieren sind. Martis/Winkhart (Arzthaftungsrecht aktuell, S. 260) halten eine
Dokumentation von Ratschlägen für erforderlich, die die Inanspruchnahme eines Spezialisten empfehlen. Die Beklagte hat unstreitig die Ohren,
die Nase und den Rachen der Klägerin untersucht sowie eine Ganzkörperuntersuchung (vgl. Behandlungsblatt Bl. 27 d. A.) durchgeführt. Sie hat
unstreitig nicht dokumentiert, dass sie eine weitere medizinische Abklärung für erforderlich hielt. Ein solcher Hinweis ist nach dem „Standard des
Qualitätsmanagements in der Medizin“ erforderlich, weil nur dadurch gewährleistet worden wäre, dass ein die Klägerin danach behandelnder
Arzt sicher hätte feststellen können, inwieweit die Beklagte diagnostisch in der Lage gewesen war, den Verdacht abzuklären und inwieweit noch
weitere Diagnosen erforderlich sind. Aus den von der Beklagten dokumentierten Hinweisen ergibt sich nicht, inwieweit der Nasen-, Rachen- und
Ohrenraum untersucht wurde bzw. untersucht werden konnte. Eine diesbezügliche Dokumentation ist medizinisch geboten und juristisch
erforderlich. Das Oberlandesgericht Stuttgart (OLGR Stuttgart, 2003, 289 f., recherchiert aus Juris) hatte in einem ähnlichen Fall entschieden,
dass ein Hausarzt einen Patienten, bei dem nach einer Operation mit Spinalanästhesie der Verdacht auf ein Liquorunterdrucksyndrom mit
Kopfschmerzen besteht, zur Behandlung an einen Anästhesisten überweisen und dies dokumentieren muss. Das Oberlandesgericht Oldenburg
hatte es für erforderlich gehalten (OLG Oldenburg NJW-RR, 1994, 1054), dass der Hinweis auf Kontrolluntersuchungen zu einer
ordnungsgemäßen Behandlung eines Muskelfaserrisses in der Wade gehört und zu dokumentieren ist. Auch diese Konstellation ist mit der
vorliegenden vergleichbar.
6
Die lückenhafte Dokumentation bildet jedoch keine eigene Anspruchsgrundlage und führt auch grundsätzlich nicht unmittelbar zu einer
Beweislastumkehr hinsichtlich des Ursachenzusammenhanges. Zu einer solchen kann es vielmehr nur dann kommen, wenn die
Dokumentationslücke einen groben Behandlungsfehler indiziert, der als solcher die Grundlage für Beweiserleichterungen bildet. Hier ist davon
auszugehen, dass eine Mikrobatterie aus zwingenden medizinischen Gründen aus der Nase entfernt werden muss. Grob fehlerhaft wäre es
deshalb, den Fremdkörper nicht zu entfernen. Daraus folgt, dass auch alle diagnostischen Möglichkeiten ausgeschöpft werden müssen, um eine
Mikrobatterie in der Nase festzustellen. Grob fehlerhaft wäre es, wenn bei Ausschöpfung auch der Möglichkeiten des Hals - Nasen - Ohren -
Spezialisten eine Mikrobatterie in der Nase nicht erkannt würde. Grob fehlerhaft wäre es aber auch, wenn auf den Einsatz der speziellen
Diagnostik des HNO - Facharztes verzichtet würde. Diesem Verzicht gleichzustellen und deshalb als grob fehlerhaft anzusehen, ist das
Unterlassen, auf die Notwendigkeit weiterer fachärztlicher Untersuchung hinzuweisen und auf ihre Inanspruchnahme zu drängen.
7
Die Beklagte konnte nicht beweisen, den erforderlichen Hinweis erteilt zu haben. Insoweit ist das Gericht an die Beweiswürdigung des
Amtsgerichts gebunden. Dieses konnte sich nach Vernehmung des Zeugen K. keine Überzeugung davon bilden, dass die Beklagte den
medizinisch gebotenen Hinweis erteilt hat (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Auf die Frage eines Beweisverwertungsverbotes bzgl. der Aussage dieses
Zeugen kommt es somit nicht entscheidend an. Bei Bejahung eines solchen ist die Aussage des Zeugen nicht verwertbar, bei einer Verneinung
führt sie wie ausgeführt nicht zum Beweis der behaupteten Tatsache, dass die Beklagte den erforderlichen Hinweis auf eine notwendige weitere
medizinische Abklärung erteilt hat. Auch durch die Anhörung der Beklagten vor der Berufungskammer konnte dies nicht bewiesen werden. Die
Beklagte machte zwar auf die Kammer einen verantwortungsbewussten Eindruck. Eine Überzeugungsbildung scheitert aber daran, dass auch
die Eltern der Klägerin den Eindruck vermitteln konnten, dass sie sich ihrer Verantwortung für die Klägerin durchaus bewusst sind, weshalb es
nicht verständlich wäre, dass sie einen Hinweis nicht befolgt hätten. Immerhin haben die Eltern die Beklagte sozusagen „auf Verdacht“
konsultiert.
8
Somit ist davon auszugehen, dass ein pflichtwidriges Verhalten der Beklagten ursächlich für das leichte Einwachsen der Mikrobatterie in die
Nase der Klägerin war. Die Batterie musste knapp einen Monat nach der Untersuchung durch die Beklagte, am 1. August 2003, während eines
Urlaubs der Klägerin in der Türkei entfernt werden. Der Vater der Klägerin hat der Kammer glaubhaft geschildert, wie sich diese Operation
gestaltet hat. Die Klägerin war nicht betäubt worden. Die Operation dauerte ca. 30 bis 45 Minuten. Die Klägerin hat geschrien und starke
Schmerzen erlitten. Sie hat danach für einige Zeit psychisch unter der Operation gelitten. Wegen der ausgelaufenen schwarzen Flüssigkeit hat
sie zwei Wochen lang medikamentös behandelt werden müssen, zwei Kontrolluntersuchungen waren erforderlich. Andererseits konnte die
Klägerin jedoch mit den Eltern an den Strand. Ihr Urlaubsgenuss war eingeschränkt, aber nicht vollkommen aufgehoben. Eine Operation in
Deutschland, unmittelbar nach einer weiteren ärztlichen Abklärung, wäre für die Klägerin weniger schmerzhaft gewesen. Der Fremdkörper wäre
in die Nase noch nicht leicht eingewachsen gewesen. Die Beschwerden der Klägerin bis zur Operation waren nach Aussage des Vaters nicht
erheblich. Die Klägerin klagte lediglich darüber, dass sie „etwas in der Nase habe“, ohne dass Schmerzen oder erhebliche Beeinträchtigungen
festgestellt werden konnten. Bezüglich der weiter vorgetragenen Beschwerden der Klägerin (Durchfall etc.) hat der Vater der Klägerin bei seiner
Anhörung ausgeführt, dass diese wohl auf anderen Ursachen als möglicherweise ausgelaufener Batterieflüssigkeit beruhen würden. Bei
Abwägung dieser Gesichtspunkte erscheint zum Ausgleich der Beeinträchtigungen, die die Klägerin erleiden musste, ein Schmerzensgeld in
Höhe von 1000, - Euro angemessen.
9
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO.
10 Die Entscheidung über die sofortige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus den §§ 708 Nr. 11, 711, 713 ZPO.
11 Die Revision wird nicht zugelassen, da obergerichtlich die Voraussetzungen des Erfordernisses einer ärztlichen Dokumentation geklärt sind. Die
Frage eines Beweisverwertungsverbotes ist nicht entscheidungserheblich.