Urteil des LG Dortmund vom 28.09.2006
LG Dortmund: private unfallversicherung, adäquater kausalzusammenhang, stationäre behandlung, lebenserfahrung, fahrzeug, schusswaffe, versicherungsschutz, flucht, polizei, invaliditätsgrad
Landgericht Dortmund, 2 O 122/06
Datum:
28.09.2006
Gericht:
Landgericht Dortmund
Spruchkörper:
2. Zivilkammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
2 O 122/06
Schlagworte:
Bewusstseinsstörung; Ausschluss
Normen:
AUB 94 § 2 I (1)
Leitsätze:
Zu den Anforderungen des Ausschlusses in § 2 I (1) AUB 94: In der
privaten Unfallversicherung besteht kein Versicherungsschutz, wenn der
Versicherte im Rahmen einer alkoholbedingten Flucht dadurch eine
Verletzung erleidet, dass sich nach seinem Halt aus der gezogenen und
entsicherten Schusswaffe eines Polizeibeamten ein Schuss löst.
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt nach einem
Streitwert von 48.314,67 € der Kläger.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe
von 110 % des jeweils beizutreibenden Betrages
vorläufig vollstreckbar.
T a t b e s t a n d
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Der Kläger nahm bei der Beklagten im Jahre 1997 eine private Unfallversicherung, bei
der im Jahre 2004 u. a. Invaliditätsleistungen nach einer Invaliditätsgrundsumme von
112.270,00 € bei vereinbarter Progression 300 % sowie ein Unfallkrankenhaustagegeld
und –genesungsgeld in Höhe von kalendertäglich 66,47 € versichert waren. Es gelten u.
a. die AUB 95 der Beklagten sowie deren Besondere Bedingungen für die
Unfallversicherung mit erhöhter progressiver Invaliditätsstaffel (Progression 300 %) und
einer gesonderten Mehrleistung bei einem Invaliditätsgrad ab 90 %. Wegen der
Einzelheiten der vertraglichen Vereinbarungen wird auf den in Ablichtung bei den
Gerichtsakten befindlichen Nachtragsversicherungsschein vom 16.08.2003 (Bl. 7 ff. d.
A.) sowie das geltende Bedingungswerk (Anlage B1 zum Schriftsatz vom 06.03.2006)
verwiesen.
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Der Kläger erlitt am 30.05.2004 anlässlich einer Verfolgung durch die Polizei einen
Bauchdurchschuss, was er der Beklagten mit Unfallbericht (Anlage B3 zum Schriftsatz
vom 06.03.2006) anzeigen ließ. Unstreitig ist hierzu, dass der Kläger in alkoholisiertem
Zustand – die dem Kläger um 23.50 Uhr entnommene Blutprobe ergab einen BAK-
Mittelwert von 2,18 ‰ – mit seinem Fahrzeug B, amtliches Kennzeichen ###-## ###,
gegen 22.00 Uhr mit überhöhter Geschwindigkeit die B### in Fahrtrichtung P befuhr, als
er einen Streifenwagen der Polizei, dieser besetzt mit den Polizeibeamten I und B,
überholte. Die Polizeibeamten nahmen die Verfolgung des klägerischen Fahrzeugs auf,
welches im Übrigen mit den Beifahrern I 2 und S besetzt war. In der Ortschaft F musste
der Kläger alsdann an einer Rotlicht aufweisenden Lichtzeichenanlage halten,
woraufhin der Polizeibeamte B den Streifenwagen verließ, um eine Fahrzeugkontrolle
durchzuführen. Der Kläger setzte bei Grünlicht seine Fahrt unvermittelt fort, woraufhin
der Streifenwagen mit Sondersignalen die Verfolgung wieder aufnahm, in deren Verlauf
der Kläger einen weiteren Verkehrsteilnehmer überholte, welcher sein Fahrzeug nach
rechts lenkte, wobei dieses beschädigt wurde. In der Ortsmitte von F musste der Kläger
sein Fahrzeug erneut verkehrsbedingt anhalten, woraufhin der Polizeibeamte Albert
wiederum versuchte, den Kläger zum Verlassen des Fahrzeugs zu bewegen. Der
Kläger leistete dem
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keine Folge, setzte sein Fahrzeug ein kurzes Stück zurück und flüchtete erneut. Der
Kläger beendete sodann nach weiterer Verfolgung durch die Polizei seinen
Fluchtversuch. Im Rahmen der folgenden Kontrolle löste sich aus der Dienstwaffe des
Polizeibeamten B ein Schuss, der den Kläger lebensgefährlich verletzte.
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Der Kläger wurde im Krankenhaus F2 notoperiert und dann in das Klinikum X verlegt.
Eine weitere stationäre Behandlung erfolgte im Krankenhaus F2, insgesamt bis zum
02.07.2004. Bis zum 19.09.2004 war der Kläger arbeitsunfähig erkrankt.
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Mit rechtskräftigem Urteil des Amtsgerichts Obernburg a. M. vom 21.04.2005 wurde der
Kläger wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs in Tateinheit mit
Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte zu einer Geldstrafe verurteilt, wobei es das
Amtsgericht nach dem Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme als erwiesen
ansah, dass der Kläger die Aufforderung des Polizeibeamten B an der
Lichtzeichenanlage am Ortseingang von F, sein Fahrzeug nach dem Abbiegevorgang
rechts ranzufahren, verstanden habe und beim weiteren Halt in der Ortsmitte von F auf
den Polizeibeamten B zugefahren sei.
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Unter dem 26.08.2005 attestierte Dr. T, dass dauerhafte körperliche Beeinträchtigungen
des Klägers als Folge des Vorfalls vom 30.05.2004 bestünden und der gegenwärtige
Grad der Behinderung mit 20 v. H. zu bemessen sei.
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Die Beklagte lehnte die Erbringung von Leistungen aus der Unfallversicherung ab,
letztmals mit Schreiben vom 05.08.2005. Hierbei berief sie sich auf den in § 2 I (2) AUB
95 bedungenen Leistungsausschluss.
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Mit seiner Klage begehrt der Kläger Invaliditätsleistungen nach einem Invaliditätsgrad
von 30 % sowie Unfallkrankenhaustagegeld und – genesungsgeld für 33 Tage
stationärer Behandlung.
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Er ist der Ansicht, das Amtsgericht habe ihn zu Unrecht wegen Widerstands gegen
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Vollstreckungsbeamte verurteilt. Hierzu behauptet er, er habe die Aufforderung des
Polizeibeamten B anlässlich des ersten Halts an der roten Lichtzeichenanlage nicht
wahrgenommen. Auch sei er nicht beim zweiten Halt auf den Polizeibeamten B
zugefahren. Der Kläger ist ferner der Ansicht, die Beklagte könne sich auf
Leistungsausschlüsse nicht berufen, da seine Alkoholisierung keinen Einfluss auf das
Unfallereignis gehabt habe und zudem zwischen einer etwaigen Widerstandshandlung
und dem erlittenen Bauchdurchschuss kein adäquater Kausalzusammenhang
bestanden habe. Der Kläger behauptet weiter, er habe dauerhafte körperliche
Beeinträchtigungen als Folge des Vorfalls vom 30.05.2004 zu beklagen. Da diese
Beeinträchtigungen es ihm unmöglich machten, seinen Gewerbebetrieb ohne Mithilfe zu
führen, sei von einem Invaliditätsgrad von mindestens 30 % auszugehen.
Der Kläger beantragt,
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die Beklagte zu verurteilen, an ihn 48.314,67 € nebst Zinsen in Höhe von 5
Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 05.08.2005 zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie beruft sich auf die Leistungsausschlüsse in § 2 I (1) und § 2 I (2) ihrer AUB und
bestreitet im Übrigen das Vorliegen einer unfallbedingten Invalidität des Klägers.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die zwischen den
Parteien gewechselten Schriftsätze und die zu den Akten gereichten Unterlagen
verwiesen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
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Die Klage ist unbegründet.
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Dem Kläger stehen aus der bei der Beklagten genommenen privaten Unfallversicherung
wegen des am 30.05.2004 erlittenen Bauchdurchschusses keine bedingungsgemäßen
Ansprüche gemäß §§ 1, 179 ff. VVG i. V. m. § 7 AUB 95 der Beklagten zu.
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Allerdings handelt es sich bei der vom Kläger erlittenen Schussverletzung um ein
bedingungsgemäßes Unfallereignis im Sinne von § 1 III AUB 95 der Beklagten, da
unfreiwillig erlittene Schussverletzungen selbst bei rechtmäßigen staatlichen
Hoheitsakten dem den AUB zu Grunde liegenden Unfallbegriff unterfallen (vgl.
Prölss/Martin, VVG, 27. Aufl., § 1 AUB 94 Rn. 11 m. w. N. auch zur abweichenden
Ansicht), was auch die Beklagte nicht in Zweifel zieht.
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Gleichwohl besteht im Streitfall zugunsten des Klägers kein Versicherungsschutz, da
sich die Beklagte zu Recht auf Leistungsfreiheit wegen des in § 2 I (1) AUB 95
bedungenen Ausschlusses beruft.
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Nach dieser Vertragsbestimmung fallen u. a. Unfälle durch Geistes- oder
Bewusstseinstörungen, auch soweit diese auf Trunkenheit beruhen, nicht unter den
Versicherungsschutz der privaten Unfallversicherung. Für eine Bewusstseinsstörung ist
hierbei ist nach allgemeiner Meinung nicht das volle Versagen der Sinnestätigkeit
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erforderlich. Der Begriff meint vielmehr eine Störung der Aufnahme- oder
Reaktionsfähigkeit, so dass der Geschädigte den Anforderungen der konkreten
Gefahrenlage nicht mehr gewachsen ist (vgl. Prölss/Martin, a. a. O., § 2 AUB 94 Rn. 4 m.
w. N.; Münchener Anwaltshandbuch zum Versicherungsrecht, § 23 Rn. 123). Angesichts
des beim Kläger festgestellten Blutalkoholgehalts von über 2 ‰ bedarf es keiner
weiteren Darlegungen, dass der Tatbestand der Bewusstseinsstörung erfüllt ist, zumal
von Seiten des Klägers entgegenstehende Umstände nicht vorgetragen sind.
Streitig ist zwischen den Parteien lediglich, ob die Schussverletzung noch ursächlich
auf die bestehende Bewusstseinsstörung zurückzuführen ist, was nach Dafürhalten der
Kammer der Fall ist.
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Die Kammer verkennt dabei nicht, dass allein der erforderliche
Ursachenzusammenhang zwischen der Alkoholfahrt und der erlittenen
Schussverletzung im Sinne der sogenannten Äquivalenztheorie nicht ausreicht, um
Ursächlichkeit in diesem Sinne zu bejahen, sondern es darüber hinaus für die
Ermittlung der Reichweite des Ausschlusses des Korrektivs eines adäquaten
Kausalzusammenhanges bedarf. Nach dem Begriff der adäquaten Kausalität scheiden
hierbei solche Ursachen als Haftungsgrund aus, bei denen die Möglichkeit des
Schadenseintritts so entfernt war, dass sie nach der allgemeinen Lebenserfahrung nicht
in Betracht gezogen werden konnten bzw. bei denen das Ereignis nur unter besonderen
eigenartigen, unwahrscheinlichen und nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge außer
Betracht zu lassenden Umständen geeignet war, einen Erfolg der eingetretenen Art
herbeizuführen (vgl. Palandt/Heinrichs, BGB, 65. Aufl., Vorbemerkung zu § 249 Rn. 58
ff.). Hieran gemessen hält die Kammer dafür, dass der Kläger durch sein
trunkenheitsbedingtes Verhalten eine Reaktion der ihn verfolgenden Polizeibeamten
herausforderte, die nach der allgemeinen Lebenserfahrung auch die Verwendung der
Schusswaffe umfasste. Zwar ist dem Kläger zuzugeben, dass zu der von ihm durch die
Trunkenheitsfahrt mit anschließender mehrfacher Flucht gesetzten Ursache mit dem
Verhalten des Polizeibeamten B eine weitere Ursache hinzugetreten ist. Dies rechtfertigt
es allerdings nicht, von einer außerhalb der Lebenserfahrung liegenden Unterbrechung
des Ursachenzusammenhanges auszugehen, da das Verhalten des Polizeibeamten
dem Fehlverhalten des Klägers nicht seine ursächliche Bedeutung für die erlittene
Schussverletzung nimmt. Willensentschlüsse Dritter als Zwischenursache beseitigen
nämlich den Ursachenzusammenhang dann nicht, wenn diese Willensentscheidung
ihrerseits adäquate Folge der ersten gefährlichen Handlung war (vgl. Prölss/Martin, a. a.
O., § 2 AUB 94 Rn. 16). Hierzu gilt für den Streitfall, dass das Verhalten des
Polizeibeamten B, welches den schädigenden Erfolg herbeigeführt hat, letztlich auf der
vom Kläger geschaffenen Gefahrenlage beruht und nicht außerhalb aller Erfahrung liegt.
Der Kläger hatte gerade durch seine trunkenheitsbedingt auffällige Fahrweise die
Polizeibeamten auf sich aufmerksam gemacht und hierdurch – was der Kläger selbst
nicht in Abrede stellt – Anlass zur Verfolgung gegeben. Dass dieses Verhalten des
Klägers nach mehrfachem Fluchtversuch eine scharfe Reaktion
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der Polizeibeamten herausforderte, entspricht der Lebenserfahrung (so auch in einer
ähnlichen Fallgestaltung OLG Köln, VersR 1987, 97). Wie gefährlich die Polizeibeamten
den Kläger einschätzten, zeigt für sich bereits der Umstand, dass der Polizeibeamte B,
als der Kläger schließlich letztmals hielt, mit der gezogenen und offenbar auch
entsicherten Waffe auf das Fahrzeug des Klägers zuging. Dass sich bei dieser
Benutzung der Schusswaffe ein Schuss löste, lag dann nach der Lebenserfahrung nicht
mehr gänzlich fern, zumal hierbei maßgeblich zu berücksichtigen war, dass die
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Polizeibeamten ex ante aus der Sicht eines objektiven Beobachters durchaus von einer
höheren Gefährdungslage ausgehen durften, als sie letztlich ex post betrachtet
bestanden haben mag. Die vorangegangenen mehrfachen Fluchtversuche ließen aus
Sicht eines objektiven Betrachters besorgen, dass neben der bloß verkehrswidrigen
Fahrweise des Klägers oder dessen – aus Sicht der Polizeibeamten – möglichen
Trunkenheit weitere Straftaten des Klägers den Anlass für dessen Flucht boten. Dass
sich dann beim Gebrauch der Schusswaffe als Drohmittel oder Mittel zur
Eigensicherung ein Schuss löst, liegt nicht außerhalb der Lebenserfahrung, was keiner
weiteren Begründung bedarf.
Entgegen der Auffassung des Klägers ist es hierbei auch unerheblich, ob der
Polizeibeamte B fahrlässig und im kritischen Moment sachwidrig reagierte. Denn auch
unzulässiges und vorschriftswidriges Verhalten ist nicht so ungewöhnlich, dass es
außerhalb der Lebenserfahrung liegt (so auch OLG Köln, a. a. O.). Deshalb sind
Schäden durch Fehlverhalten Dritter dem Geschädigten auch dann zuzurechnen, wenn
er – wie der Kläger im Streitfall – eine gesteigerte Gefahrenlage schafft, bei der
Fehlleistungen anderer erfahrungsgemäß vorkommen. Hierzu gehören insbesondere
Fälle, in denen ein Straftäter durch sein Verhalten die Verfolgung durch einen
Polizeibeamten herausfordert und dabei eine Verletzung erleidet (so BGH, VersR 1996,
715; vgl. hierzu auch Wussow, WI 1997, 90 m. w. N.).
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Nach alledem unterlag die Klage der Abweisung, wobei offen bleiben kann, ob auch der
Ausschluss des § 2 I (2) AUB 95 der Beklagten greift.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 ZPO.
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