Urteil des LG Dortmund vom 15.06.2007
LG Dortmund: grundsatz der gleichbehandlung, eröffnung des verfahrens, zwangsvollstreckung, deckung, insolvenz, zahlungsunfähigkeit, krankenkasse, gläubigerbenachteiligung, rechtshängigkeit
Landgericht Dortmund, 3 O 15/07
Datum:
15.06.2007
Gericht:
Landgericht Dortmund
Spruchkörper:
3. Zivilkammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
3 O 15/07
Tenor:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 13.808,70 € (in Worten:
dreizehntausendachthundertacht 70/100 Euro) nebst 4 % Zinsen von
15.302,34 € vom 30.03.2004 bis 27.06.2006 und von 13.464,06 € vom
30.04.2004 bis zum 27.06.2006 sowie Zinsen in Höhe von 5
Prozentpunkten über dem Basiszinssatz von 13.808,70 € seit dem
28.06.2006 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits tragen der Kläger 69 % und die
Beklagte 31 %.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des jeweils
beizutreibenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
T a t b e s t a n d
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Auf den Antrag der Firma N (im Folgenden Insolvenzschuldnerin) vom 03.06.2004 (Bl.
23 d. A.), eröffnete das Amtsgericht Münster mit Beschluss vom 01.07.2004 wegen
Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung das Insolvenzverfahren über das Vermögen
der Insolvenzschuldnerin und ernannte den Kläger zum Insolvenzverwalter (Bl. 15 und
16 d. A.).
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Zur Bezahlung von Beiträgen zur Sozialversicherung übergab die Insolvenzschuldnerin
der Beklagten folgende Schecks, die die Beklagte einlöste:
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1. am 12.01.2004, Scheckdatum 30.01.2004, Betrag 14.664,86 €, Einlösedatum
02.02.2004 (Einzelheiten Anlagen K 7, Bl. 24, K 11, Bl. 28, K 15, Bl. 43 d. A.),
2. am 03.02.2004, Scheckdatum 27.02.2004, Betrag 15.407,28 €, Einlösedatum
01.03.2004 (Einzelheiten Anlagen K 8, Bl. 25, K 12, Bl. 29, K 15, Bl. 54),
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3. am 08.03.2004, Scheckdatum 29.03.2004, Betrag 15.302,34 €, Einlösedatum
30.03.2004 (Einzelheiten Anlagen K 9, Bl. 26, K 13, Bl. 30, K 16, Bl. 103),
4. am 05.04.2004, Scheckdatum 29.04.2004, Betrag 13.464,06 €, Einlösedatum
30.04.2004 (Einzelheiten Anlagen K 10, Bl. 27, K 14, Bl. 31, K 15, Bl. 82).
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Der Kläger erklärte mit Schreiben vom 20.06.2006 die Anfechtung der Scheckzahlungen
Nr. 3 und Nr. 4 vom 30.03.2004 und 30.04.2004 (Bl. 114 d. A.). Die Beklagte zahlte die
darin enthaltenen Arbeitgeberanteile in Höhe von 14.957,70 € zurück (Bl. 116 und 117
d. A.).
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Mit der vorliegenden, am 30.06.2006 mittels Telefax eingegangenen Anfechtungsklage
begehrt der Kläger die Rückzahlung der geleisteten Sozialversicherungsbeiträge in
Höhe von 58.837,54 € - 14.957,70 € = 43.880,84 €.
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Der Kläger behauptet, die Scheckzahlungen der Insolvenzschuldnerin seien zur
Abwendung der Zwangsvollstreckung erfolgt. Die Insolvenzschuldnerin sei seit Ende
Januar 2004 (unstreitig ab 30.03.2004) zahlungsunfähig gewesen. Es hätten folgende
fällige Verbindlichkeiten vorgelegen:
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Ende Januar 2004, Anlage K 19, Bl. 118 - 123 979.218,62 €
9
Ende Februar 2004, Anlage K 20, Bl. 124 - 128 1.140.916,16 €
10
Ende März 2004, Anlage K 21, Bl. 129 - 136 894.575,48 €
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Ende April 2004, Anlage K 22, Bl. 137 - 144, 928.877,29 €
12
Ende Mai 2004, Anlage K 23, Bl. 145 - 153, 791.176,43 €
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Insolvenzschuldnerin sei nicht in der Lage gewesen, diese Verbindlichkeiten zu
bezahlen. Die Gesamtliquidität der Insolvenzschuldnerin habe sich
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Ende Januar 2004 auf 317.162,21 €,
15
Ende Februar 2004 auf 398.480,89 €,
16
Ende März 2004 auf 252.594,90 €,
17
Ende April 2004 auf 380.103,73 € und
18
Ende Mai 2004 auf 312.801,11 €
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belaufen.
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Die Scheckzahlungen vom 30.01.2004 und 27.02.2004 habe die Insolvenzschuldnerin
mit dem Vorsatz vorgenommen, ihre Gläubiger zu benachteiligen, weil eine
inkongruente Deckung vorgelegen habe und die Zahlungsunfähigkeit bekannt gewesen
sei. Dies sei auch der Beklagten bekannt gewesen, weil Beitragsrückstände der
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Insolvenzschuldnerin vor-gelegen hätten und die Beklagte unstreitig
Vollstreckungsaufträge am 23.12.2003 (Anlage K 24, Bl. 154 d. A.) und 24.02.2004
(Anlage K 25, Bl. 155 d. A.) erteilt habe. Die Insolvenzschuldnerin habe die Wahl
gehabt, dem Vollstreckungsbeamten die vordatierten Schecks zu übergeben, die
Zahlungen zu einem späteren Zeitpunkt in bar oder durch Überweisung zu erbringen
oder unter Hinweis auf fehlende Zahlungsmittel zu verweigern.
Vollstreckungsmaßnahmen wären am 12.01.2004 und 03.02.2004 erfolglos gewesen.
Der Kläger beantragt,
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die Beklagte zu verurteilen, an ihn 43.880,84 € nebst 4 % Zinsen aus 14.664,86 €
seit dem 02.02.2004 und aus 15.407,28 € seit dem 01.03.2004, jeweils bis
Rechtshängigkeit, sowie aus 15.302,34 € seit dem 29.03.2004 und aus 13.464,06 €
seit dem 29.04.2004, jeweils bis zum 20.06.2006, sowie weiterer Zinsen in Höhe
von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 13.808,70 € seit dem
21.06.2004 und aus 30.072,14 € ab Rechtshängigkeit der Klage zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie beruft sich auf die Einrede der Verjährung und bestreitet die Zahlungsunfähigkeit vor
dem 30.03.2004 sowie den Gläubigerbenach-teiligungsvorsatz und die Kenntnis davon.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
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Die Klage ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet und im Übrigen
unbegründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte gemäß §§ 129, 131, 143 InsO einen
Anspruch auf Zahlung in Höhe von 15.302,34 € (Scheck Nr. 3) + 13.464,06 € (Scheck
Nr. 4) = 28.766,40 € - 14.957,70 (unstreitige Zahlung) = 13.808,70 €.
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Nach § 143 Abs. 1 Satz 1 InsO muss das zur Insolvenzmasse zurück-gewährt werden,
was durch eine anfechtbare Handlung aus dem Vermögen des Insolvenzschuldners
veräußert, weggeben oder aufgeben worden ist. Anfechtbar sind nach §§ 129 Abs. 1,
131 Abs. 1 Nr. 2 InsO Rechtshandlungen, die die Insolvenzgläubiger benachteiligen,
sofern sie einem Insolvenzgläubiger eine Sicherung oder Befriedigung gewähren, die er
nicht oder nicht in der Art oder nicht zu der Zeit zu beanspruchen hatte (inkongruente
Deckung), wenn die Handlung innerhalb des zweiten und dritten Monats vor dem
Insolvenzeröffnungsantrag vorgenommen worden ist und der Insolvenzschuldner zu der
Zeit der Handlung zahlungsunfähig war.
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Die Scheckzahlungen Nr. 3 und Nr. 4 vom 30.03.2004 in Höhe von 15.302,34 € und
vom 30.04.2004 in Höhe von 13.464,06 € benachteiligen die Insolvenzgläubiger. Eine
Benachteiligung der Insolvenzgläubiger entfällt nicht schon deswegen, weil die
Insolvenzgläubiger nach dem Vortrag der Beklagten selbst dann keine Quotenzahlung
erhalten werden, wenn die streitgegenständlichen Scheckzahlungen zur Masse zurück-
gewährt werden. Dies ist für die Anfechtung grundsätzlich bedeutungslos (BGH IX ZR
36/99, Urteil vom 19. Juli 2001). Das für die Anfechtung vorauszusetzende Merkmal der
Gläubigerbenachteiligung bedeutet nur, dass die angefochtene Rechtshandlung
Befriedigungsaussichten der Insolvenzgläubiger im Allgemeinen verkürzt hat. Dies ist
auf der Grundlage des gesetzlich vorgesehenen, regelmäßigen Ablaufs des
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Insolvenzverfahrens zu beurteilen. Dagegen wird nicht zugleich vor-ausgesetzt, dass
von jeder einzelnen Anfechtung im Ergebnis nur Insolvenzgläubiger, nicht jedoch
Massegläubiger "profitieren". Durch einen völligen Ausfall bleiben die
Insolvenzgläubiger erst recht benachteiligt. Zudem widerspräche es dem Grundsatz der
insolvenzrechtlichen Gleichbehandlung aller Insolvenzgläubiger und damit dem
Anfechtungszweck, einzelne anfechtbar begünstigte Insolvenzgläubiger nur deshalb
besser zu stellen, weil das Schuldnervermögen sogar bis zu Bedeutungslosigkeit
vermindert worden ist.
Eine Gläubigerbenachteiligung kann nur dann fehlen, wenn mit dem weggegebenen
Geldbetrag gerade diejenigen Gläubiger befriedigt wurden, die auch der
Insolvenzverwalter in gleicher Weise hätte befriedigen müssen. Das setzt voraus, dass
es außer den ausgezahlten Gläubigern keine weiteren Gläubiger mit gleichen oder
besseren Vorrechten gibt oder dass die Masse zur Befriedigung aller bevorrechtigten
Gläubiger ausreicht (BGH IX ZR 36/99). Dies ist im vorliegenden Fall weder ersichtlich
noch von der darlegungsbelasteten Beklagten dargelegt worden.
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Beitragszahlungen an einen Sozialversicherungsträger benachteiligen die anderen
Insolvenzgläubiger auch insoweit, als sie - wie vorliegend - auf Arbeitnehmeranteile zu
verrechnen sind. Auch die von der Insolvenz-schuldnerin gezahlten Arbeitnehmeranteile
gehören in vollem Umfang zu ihrem eigenen Vermögen (BGH XI ZR 17/01, Urteil vom
25.10.2001).
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Zwar tragen nach § 249 Abs. 1 SGB V die versicherungspflichtig Beschäftigten und ihre
Arbeitgeber die nach dem Arbeitsentgelt zu bemessenden Beiträge zur gesetzlichen
Sozialversicherung jeweils zur Hälfte. Davon zu unterscheiden ist die Pflicht des
Arbeitgebers, die gesamten Beiträge - nämlich die eigenen und die des Arbeitnehmers -
an die Krankenkasse abzuführen. Der Arbeitgeber ist alleiniger Schuldner der
Krankenkasse. Diese Zahlungspflicht auch für die Arbeitnehmerbeiträge gehört zu den
Hauptpflichten des Arbeitgebers im Rahmen seiner in Indienstname als Privater im
Rahmen eines besonderen öffentlich-sozialversicherungsrechtlichen
Pflichtverhältnisses. Dies gilt unabhängig davon, ob der Arbeitgeber seine
arbeitsrechtlichen Lohnzahlungspflicht an den Arbeitnehmer bereits nachgekommen ist
oder nicht. Die Krankenkasse erlangt damit auch im Umfang des Arbeitnehmeranteils
zum Beitrag gegen den Arbeitgeber nur einen schuldrechtlich wirkenden Anspruch, der
in dessen Gesamtvollstreckung keine Vorrechte gegenüber allen anderen Gläubigern
verschafft. Genauso wie der Arbeitnehmer selbst unterliegt der Sozialversicherer im
Insolvenzverfahren dem Grundsatz der Gleichbehandlung aller Gläubiger.
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Unerheblich für die vorliegende Entscheidung ist der "Entwurf eines Gesetzes zum
Pfändungsschutz der Altersvorsorge und zur Anpassung des Rechts der
Insolvenzanfechtung" Bundestagsdrucksache 16/886, weil der Entwurf bisher kein
Gesetz geworden ist.
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Die Scheckzahlungen Nr. 3 und Nr. 4 vom 30.03.2004 und 30.04.2004 erfolgten
innerhalb des zweiten und dritten Monats vor der Insolvenzantragsstellung, denn der
Insolvenzantrag ist am 03.06.2004 gestellt worden.
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Die Insolvenzschuldnerin war zu dem Zeitpunkt der vorgenannten Zahlungen unstreitig
zahlungsunfähig.
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Der Rückzahlungsanspruch des Klägers errechnet sich damit wie folgt:
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15.302,34 € (Scheckzahlung Nr. 3) + 13.464,06 € (Scheckzahlung Nr. 4) = 28.766,40 € -
14.957,70 € (unstreitige Zahlung der Beklagten) = 13.808,70 €.
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Verjährt ist der Anspruch des Klägers nicht. Die Verjährung richtet sich nach Artikel 229
§§ 6 und 12 EGBGB i. V. m. § 146 InsO a. F.. Danach verjährt der Anfechtungsanspruch
in 2 Jahren seit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Das Insolvenzverfahren wurde
am 01.07.2004 eröffnet, so dass die Verjährungsfrist frühestens am 30.06.2006 ablief.
Die Verjährung wurde im vorliegenden Fall rechtzeitig nach § 204 Nr. 14 BGB gehemmt.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist am 30.06.2006 als Fax
eingegangen. Die Bekanntgabe erfolgte "demnächst" nämlich mit Verfügung des
Vorsitzenden vom 10.07.2006 (Bl. 157 d. A.).
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Die weitergehende Klage, nämlich die Anfechtung der Scheckzahlungen Nr. 1 und Nr. 2
vom 02.02.2004 und 01.03.2004 ist nicht begründet.
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Dieses Zahlungen erfolgten nicht innerhalb des Zeitraums von 3 Monaten vor der
Insolvenzantragstellung, so dass eine Insolvenzanfechtung nach §§ 130 bis 132 InsO
ausscheidet. Anfechtbar sind die erste und die zweite Scheckzahlung damit nur nach §
133 InsO wegen vorsätzlicher Benachteiligung. Die Voraussetzungen des § 133 InsO
liegen nach dem eigenen Vortrag des Klägers nicht vor. Maßgebend dafür ist, dass die
Scheckzahlungen zur Abwehr der Zwangsvollstreckung erfolgten und für ein kollusives
Zusammenarbeiten von Insolvenzschuldnerin und Beklagten keine Anhaltspunkte
ersichtlich oder vorgetragen sind.
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Die Pfändung als einseitige Zwangsvollstreckungsmaßnahme des Gläubigers ist ohne
eine damit in Zusammenhang stehende Rechtshandlung oder eine ihr gleichwertige
Unterlassung des Schuldners (§ 129 Abs. 2 InsO) nicht nach § 133 Abs. 1 InsO
anfechtbar (BGH IX ZR 211/02, Urteil vom 10.02.2005).
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Während die Tatbestände der §§ 130 und 131 InsO lediglich allgemein eine
Rechtshandlung verlangen, diese demzufolge auch von einem Dritten ausgehen kann,
bezeichnet § 133 Abs. 1 InsO allein solche Rechtshandlungen als anfechtbar, die der
Schuldner mit dem Vorsatz, seine Gläubiger zu benachteiligen, vorgenommen hat. Die
Differenzierung nach dem Urheber der Rechtshandlung ist sachlich geboten, weil sie
der unterschiedlichen Zielrichtung und Struktur der Vorschriften der "besonderen
Insolvenzanfechtung" nach §§ 130 bis 132 InsO einerseits und der Vorsatz Anfechtung
nach § 133 Abs. 1 InsO andererseits entspricht.
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Die Tatbestände der §§ 130 bis 132 InsO regeln die Anfechtbarkeit von Handlungen, die
in der wirtschaftlichen Krise vorgenommen werden. Sie bestimmen, unter welchen
Voraussetzungen und in welchem Umfang die materiellen Wirkungen der Insolvenz
schon vor der formellen Eröffnung des Verfahrens eintreten. Diese Anfechtungsregeln
verdrängen in dem von ihnen abgedeckten zeitlichen Bereich von 3 Monaten vor der
Insolvenzantragstellung das die Einzelzwangsvollstreckung beherrschende
Prioritätsprinzip, wenn für die Gesamtheit der Gläubiger nicht mehr die Aussicht besteht,
aus dem Vermögen des Schuldners volle Deckung zu erhalten. Dann tritt die Befugnis
des Gläubigers zur zwangsweisen Durchsetzung seiner Ansprüche hinter dem Schutz
der Gläubigergesamtheit zurück. Der hier geltende Vorrang des Gleich-
behandlungsgrundsatzes gegenüber dem Prioritätsprinzip hat zugleich zur Folge, dass
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eine Deckung oder Sicherung im Wege der Zwangsvollstreckung, die nicht früher als 3
Monate vor der Insolvenzantragstellung erlangt wurde, inkongruent ist.
Der Grundsatz, dass die Befugnis des Gläubigers, sich im Wege hoheitlichen Zwangs
eine rechtsbeständige Sicherung oder Befriedigung für eine Forderung zu verschaffen,
hinter dem Schutz der Gläubigergesamtheit zurücktritt, gilt jedoch nach dem System der
Anfechtungsregeln nur für den von §§ 130 bis 131 InsO erfassten Zeitraum. Aus dieser
zeitlichen Eingrenzung folgt auf der anderen Seite, dass der einzelne Gläubiger
außerhalb des von den Normen der besonderen Insolvenzanfechtung geschützten
Zeitraums bei der Verfolgung seiner Rechte gegen den Schuldner grundsätzlich keinen
vom Anfechtungsrecht ausgehenden Beschränkungen unterliegt. Er braucht deshalb die
Belange der Gläubigergesamtheit nicht zu beachten. Da dort das Prioritätsprinzip
uneingeschränkt gilt, ist er selbst dann nicht gehindert, seine Ansprüche gegen den
Schuldner zwangsweise durchzusetzen, wenn er ahnt oder weiß, dass dessen
Vermögen nicht mehr ausreicht, alle Gläubiger zu befriedigen.
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Die Anfechtungsnorm des § 133 Abs. 1 InsO beruht auf einem vom Schutzzweck der §§
130 bis 132 InsO ganz verschiedenen Ansatz. Sie steht nicht in unmittelbarem
Zusammenhang mit der materiellen Insolvenz, sondern missbilligt bestimmte
Verhaltensweisen des Schuldners. Die Vorschrift ist Ausdruck des Gedankens, dass ein
Schuldner nicht berechtigt ist, vorsätzlich einzelne Gläubiger gegenüber anderen zu
bevorzugen, soweit die ihnen gegenüber bestehenden Verpflichtungen gleichrangig
sind. Sie schützt also das Interesse der Gläubiger daran, dass der Schuldner ihre
prinzipiell gleichen Befriedigungschancen nicht beeinträchtigt. Zentraler
Anknüpfungspunkt der gesetzlichen Regelung ist hier der in einer Rechtshandlung zum
Ausdruck kommende Wille des Schuldners, den Anfechtungsgegner zum Nachteil
anderer Gläubiger zu bevorzugen. Dagegen ist es nicht möglich, den
Benachteiligungsvorsatz des Schuldners durch einen entsprechenden Vorsatz des
Gläubigers zu ersetzen, weil eine darauf gestützte Anfechtung mit der Freiheit des
vollstreckenden Gläubigers, die aus dem hier geltenden Prioritätsprinzip folgt, nicht
vereinbar wäre. Diese Freiheit erlaubt es ihm grundsätzlich, seine Ansprüche
zwangsweise durchzusetzen, obwohl er die dadurch eintretende Benachteiligung
anderer Gläubiger kennt, soweit er die allgemeinen Regeln der §§ 823 ff. BGB sowie die
in bestimmten Rechtsgebieten - etwa dem Wettbewerbsrecht - geltenden
Spezialregelungen beachtet.
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Der Gläubiger, der außerhalb des von §§ 130 bis 132 InsO erfassten Zeitraums bei der
Durchsetzung seiner Ansprüche die Interessen konkurrierender Gläubiger nicht zu
beachten braucht, kann den Tatbestand des § 133 Abs. 1 InsO ohne eine Mitwirkung
des Schuldners nicht erfüllen, weil das Anfechtungsrecht die Masse vor solchen
Rechtshandlungen nicht schützen soll. Er nimmt daher bei früher als 3 Monate vor
Eingang des Insolvenzantrags durchgeführten Vollstreckungsmaßnahmen eigene
Rechte wahr, die auch nach Eröffnung eines Insolvenzverfahrens bestand haben.
Könnten solche Handlungen nach § 133 Abs. 1 InsO angefochten werden, so wäre jede
Vollstreckung, die im Laufe der letzten 10 Jahre vor dem Insolvenzantrag stattgefunden
hat, mit dem Risiko der Anfechtung durch den Insolvenzverwalter behaftet. Dadurch
würden vollstreckbare Titel rechtlich und wirtschaftlich nicht unerheblich entwertet. Die
zwangsweise Durchsetzung von Rechten könnte in einer mit Sinn und Zweck der
Zwangsvollstreckungsvorschriften schwer zu vereinbarenden Weise beeinträchtigt sein.
Die Ausgrenzung einseitiger Gläubigerhandlungen aus dem Tatbestand des § 133 Abs.
1 InsO ist demzufolge geeignet, Zwangsvollstreckung und Gesamtvollstreckung in ein
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ausgewogenes Verhältnis zueinander zu bringen. Sie führt zu zwei klar abgegrenzten
zeitlichen Bereichen, von denen einer durch den Gläubigerbenachteiligungsgrundsatz,
der andere durch das Prioritätsprinzip geprägt ist.
Im vorliegenden Fall fehlt es an einer willensgeleiteten Rechtshandlung der
Insolvenzschuldnerin, wie sie § 133 Abs. 1 InsO voraussetzt, denn die
Insolvenzschuldnerin hatte nur noch die Wahl, die geforderte Zahlung in bar oder durch
die streitgegenständlichen Schecks zu leisten oder die Vollstreckung durch die bereits
anwesende Vollziehungsperson zu dulden. Wenn die Insolvenzschuldnerin die
Schecks nicht übergeben hätte, dann hätte der Vollstreckungsbeamte sofort vollstreckt.
Dies folgt aus den unstreitigen Vollstreckungsaufträgen Anlagen K 24 und K 25 (Bl. 154,
155 d.A.). Jede Möglichkeit zu einem selbst bestimmten Handeln war damit
ausgeschaltet (BGH IX ZR 211/02). Die Scheckzahlungen Nr. 1 und Nr. 2 sind damit
nicht anfechtbar, so dass die Klage insoweit abzuweisen war.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO und berücksichtigt das jeweilige
Unterliegen der Parteien. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt
aus § 709 ZPO.
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