Urteil des LG Dortmund vom 16.02.2006

LG Dortmund: eintritt des versicherungsfalles, treu und glauben, tinnitus, adäquater kausalzusammenhang, invaliditätsgrad, kapitalleistung, knalltrauma, unfallversicherung, leistungsfähigkeit

Landgericht Dortmund, 2 O 324/04
Datum:
16.02.2006
Gericht:
Landgericht Dortmund
Spruchkörper:
2. Zivilkammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
2 O 324/04
Schlagworte:
Knalltrauma, Tinnitus, Leistungsauschluss, psychische Reaktion
Normen:
AUB 2000 Ziff. 5.2.6
Leitsätze:
Ein nach einem Knalltrauma erlittener Tinnitus fällt nicht unter den
Leistungsauschluss der Ziff. 5.2.6 AUB 2000 (krankhafte Störungen
infolge psychischer Reaktion).
Tenor:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 3.834,69 € - i. B.
dreitausendacht-hundertvierunddreißig 69/100 – nebst Zinsen in Höhe
von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem
06.08.2004 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils
zu voll-streckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
T a t b e s t a n d:
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Der Kläger begehrt von der Beklagten für seinen Sohn U wegen eines Unfalles vom
21.11.2002 Leistungen aus einer bei der Beklagten genommenen privaten
Unfallversicherung.
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Der Kläger unterhält bei der Beklagten unter der Versicherungs-Nummer
370.061784998 eine Unfallversicherung, bei der der Sohn U des Klägers mitversichert
ist. Vereinbart sind die AUB 2000 der Beklagten sowie die "Besonderen Bedingungen
für die Versicherung einer Unfallrente bei einem Invaliditätsgrad ab 50 Prozent und
Kapitalleistung ab 1 Prozent Invaliditätsgrad (Unfallrente forte)", nach denen die
Beklagte u. a. bei einem Invaliditätsgrad von 1 bis unter 30 % die Zahlung von fünf
Unfallrenten verspricht. Die einzelne Unfallrente ist nach dem Versicherungsschein mit
1.500,00 DM vereinbart.
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Mit Unfallbericht vom 15.09.2003 zeigte der Kläger gegenüber der Beklagten an, dass
sein Sohn U am 21.11.2002 bei einer Schiessübung ein Knalltrauma erlitten habe. Die
Beklagte erbat mit Schreiben vom 08.10.2003 eine detaillierte Schilderung des
Unfallhergangs, die seitens des Sohnes U des Klägers unter dem 20.10.2003 erfolgte.
Er gab an, während seines Wehrdienstes am 21.11.2002 an einer Schiessübung in der
Graf-Stauffenberg-Kaserne in T teilgenommen und trotz vorschriftsgemäß eingeführtem
Ohrschutz während einer Schiessübung ein Knalltrauma mit der Folge Tinnitus akut,
rechtes und linkes Ohr erlitten zu haben, als sich in ca. 1,5 Meter Entfernung von ihm ein
Schuss gelöst habe.
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Mit Bescheid vom 06.11.2003 anerkannte das Amt für Versorgung und
Familienförderung B eine Hochtonsenke linkes Ohr mit Tinnitus als Folge einer
Wehrdienstbeschädigung nach dem SVG, die nach ärztlicher Überprüfung mit Bescheid
vom 29.03.2004 mit einer MdE von 10 v. H. bewertet wurde.
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Unter dem 22.11.2003 attestierte G, dass infolge der Unfallverletzungen beim Sohn U
des Klägers ein Dauerschaden vorliege. Wegen der Einzelheiten der ärztlichen
Feststellungen wird auf die in Kopie bei den Gerichtsakten befindliche Bescheinigung
(Bl. 42 d. A.) Bezug genommen.
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Mit Schreiben vom 08.01.2004 lehnte die Beklagte die Erbringung von Leistungen aus
Anlass des Vorfalls vom 21.11.2002 mit der Begründung ab, der Tinnitus unterfalle als
psychische Reaktion dem Ausschlusstatbestand in Ziff. 5.2.6 ihrer AUB 2000. In der
Folgezeit veranlasste die Beklagte die Einholung einer fachärztlichen Stellungnahme,
wegen deren Inhalts auf das Gutachten C vom 11.08.2004 (Anlage B9 zum Schriftsatz
der Beklagten vom 31.08.2004) Bezug genommen wird.
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Der Kläger behauptet, sein Sohn U leide seit dem Ereignis vom 21.11.2002 als Folge
eines Knalltraumas an einer Hochtonstörung links und einer Otitis externa mit Myringitis
links. Er ist der Ansicht, die Beklagte sei bedingungsgemäß verpflichtet, für seinen Sohn
U zehn Unfallrenten zu 1.500,00 DM zu zahlen. Hierzu behauptet er einen
Invaliditätsgrad von 10 %.
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Der Kläger beantragt,
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die Beklagte zu verurteilen, an ihn 7.669,38 € nebst Zinsen in Höhe von 5
Prozentpunkten über dem jeweils geltenden Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu
zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie ist der Ansicht, sie sei wegen einer Obliegenheitsverletzung des Klägers
leistungsfrei, da der Unfall verspätet angezeigt worden sei. Jedenfalls sei ein zu
realisierender Tinnitus vom Versicherungsschutz ausgenommen. Sie behauptet unter
Bezugnahme auf das Gutachten C vom 11.08.2004, dass lediglich von einer leichten,
nicht in Prozenten bezifferbaren Hörbeeinträchtigung des Sohnes U des Klägers
auszugehen sei. Die Einzelheiten der klägerischen Darlegungen zum Unfallhergang
bestreitet sie mit Nichtwissen.
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Die Klage ist der Beklagten am 05.08.2004 zugestellt worden.
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Die Kammer hat gemäß Beweisbeschluss vom 06.09.2004 (Bl. 49f.) Beweis durch
Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens erhoben. Wegen des
Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das HNO-ärztliche Gutachten des
Sachverständigen C2 vom 01.12.2004 verwiesen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
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Die Klage ist im ausgeurteilten Umfang begründet; im Übrigen unbegründet.
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I. Der Kläger kann für seinen Sohn U aus Anlass des Unfallereignisses vom 21.11.2002
die Zahlung von fünf Unfallrenten zu je 1.500,00 DM aus der bei der Beklagten
genommenen Unfallversicherung gem. § 1 VVG i. V. m. den vereinbarten Bedingungen
der Beklagten beanspruchen.
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1. Die formellen Anspruchsvoraussetzungen gem. Ziff. 2.1.1.1 AUB 2000 der Beklagten
sind erfüllt, da der Kläger nach den für das streitgegenständliche Unfallereignis
maßgeblichen Bedingungen der Beklagten den Eintritt von Invalidität innerhalb von 24
Monaten nach dem Unfall, nämlich unter dem 15.09.2003, geltend gemacht hat und der
Eintritt eines Dauerschaden infolge der Unfallverletzungen innerhalb von 18 Monaten
nach dem Unfall durch den Arztbericht G vom 22.11.2003 binnen der 24-Monatsfrist
schriftlich festgestellt worden ist. Die formellen Anspruchsvoraussetzungen wären daher
selbst dann gewahrt, wenn für das streitgegenständliche Ereignis die Fassung der AUB
2000 der Beklagten zu Grunde zu legen wäre, die noch eine schriftliche Feststellung
und Geltendmachung innerhalb von 15 Monaten nach dem Unfall vorsah.
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2. Die Beklagte ist auch nicht nach Ziff. 7.1 AUB 2000 der Beklagten i. V. m. § 6 Abs. 3
VVG leistungsfrei geworden, weil der Kläger eine von ihm nach Eintritt des
Versicherungsfalles zu erfüllende Obliegenheit, nämlich die Beklagte unverzüglich über
den Unfall vom 21.11.2002 zu unterrichten, verletzt hat.
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Hierbei kann dahinstehen, ob der Kläger überhaupt die ihm nach Ziff. 7.1 AUB 2000 der
Beklagten auferlegte Obliegenheit zur Unterrichtung, die nur besteht, wenn der Unfall
voraussichtlich eine Leistungspflicht des Versicherers herbeiführt (vgl. Mangen, in:
Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechtshandbuch, § 47 Rn. 138 zu § 9 I
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AUB 88), verletzt hat. Der Beklagten ist es nämlich jedenfalls nach Treu und Glauben
verwehrt, sich erstmals in der Klageerwiderung auf die verspätete Unterrichtung zu
berufen, nachdem sie – ohne Leistungsfreiheit einzuwenden – mit Schreiben vom
08.10.2003 den Kläger um eine detaillierte Schilderung des Unfallhergangs bat. Damit
stünde es im krassen Widerspruch, wenn die Beklagte, obwohl sie selbst den Kläger zu
einer ausführlichen Schilderung aufgefordert hat, auf die unterlassene erste
Unfallanzeige verweisen könnte (vgl. insoweit auch OLG Frankfurt/Main, VersR 1992,
1458).
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3. Der Kläger kann für seinen Sohn U nach Ziff. 1.1, 2.2 der "Besonderen Bedingungen
für die Versicherung einer Unfallrente bei einem Invaliditätsgrad ab 50 Prozent und
Kapitalleistung ab 1 Prozent Invaliditätsgrad (Unfallrente forte)" eine Kapitalleistung von
5 Unfallrenten beanspruchen, da der Sohn Thomas des Klägers durch das
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Unfallereignis vom 21.11.2002 mit einem Grad von jedenfalls über 1 % dauerhaft im
Sinne der Bedingungen der Beklagten in seiner körperlichen oder geistigen
Leistungsfähigkeit beeinträchtigt ist.
a) Der Sohn U des Klägers hat, was die Beklagte nicht in Abrede stellt, am 21.11.2002
eine unfreiwillige Gesundheitsschädigung durch ein plötzlich von außen auf seinen
Körper wirkendes Ereignis, mithin einen Unfall im Sinne von Ziff. 1.3 AUB 2000 der
Beklagten, erlitten. Soweit die Beklagte die Einzelheiten des Unfallhergangs mit
Nichtwissen bestreitet, ist ihr Bestreiten unerheblich, da es auf die Einzelheiten des
Unfallhergangs als solche nicht ankommt.
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b) Es steht nach den widerspruchsfreien, nachvollziehbaren Feststellungen des
Sachverständigen C2 in seinem Gutachten vom 01.12.2004 auch fest, dass der Kläger
durch das Unfallereignis vom 21.11.2002 einen Tinnitus links erlitten hat, der eine
Einschränkung der Fähigkeit sich zu konzentrieren bedingt, mithin eine körperliche
Beeinträchtigung zu konstatieren ist.
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Insoweit mag dahinstehen, ob den Ausführungen des Sachverständigen hinsichtlich des
Grads der Invalidität, den dieser mit 5 % bewertet, zu folgen ist, da sich aus den
Darlegungen des Sachverständigen nach Dafürhalten der Kammer jedenfalls
hinreichend eine mit über 1 % und unter 10 % zu bewertende Invalidität ergibt, so dass
die Beklagte bedingungsgemäß zur Kapitalleistung in Höhe von fünf Unfallrenten zu je
1.500,00 DM verpflichtet ist. Insoweit kann es auf sich beruhen, welches Bedingungs-
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werk der Beklagten für die Unfallrente forte letztlich dem streitgegenständlichen
Versicherungsvertrag zu Grunde liegt.
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c) Die Beklagte kann sich auch nicht auf eine Einschränkung der Leistungspflicht gem.
Ziff. 5.2.6 ihrer AUB 2000 berufen, nach der krankhafte Störungen infolge psychischer
Reaktionen von der Leistungspflicht ausgenommen sind, auch wenn diese durch einen
Unfall verursacht sind. Die streitgegenständliche Klausel beinhaltet zwar eine
umfassende Beschränkung des Leistungsversprechens des Versicherers für alle
krankhaften Störungen infolge psychischer Reaktionen, gleich durch welche Ursache
sie hervorgerufen werden, nicht aber für organische Schäden, die ihrerseits zu einem
psychischen Leiden führen. Krankhafte Störungen, die eine organische Ursache haben,
sind demnach selbst dann nicht vom Versicherungsschutz ausgeschlossen, wenn im
Einzelfall das Ausmaß, in dem sich die organische Ursache auswirkt, von der
psychischen Verarbeitung durch den Versicherungsnehmer abhängt (so ausdrücklich
BGH, VersR 2004, 1449; vgl. auch OLG Koblenz, NJOZ 2005, 3445 mit umfassender
Darstellung des Meinungsstandes). Damit unterfallen dem Ausschluss nur solche
Gesundheitsschäden, bei denen ein adäquater Kausalzusammenhang mit körperlichen
Traumata nicht nachweisbar ist oder bei denen die krankhafte Störung des Körpers
allein mit ihrer psychogenen Natur erklärbar ist (OLG Rostock, VersR 2006, 105). Der
Versicherer ist für das Eingreifen des Ausschlusses bzw. die Einschränkung der
Leistungspflicht beweispflichtig. Er muss darlegen und beweisen, dass eine organische
Erkrankung ausgeschlossen ist (OLG Koblenz, a. a. O.). Diesen Beweis hat die
Beklagte nicht erbracht. Im Gegenteil: Der Sachverständige C2 hat in seinem Gutachten
ausgeführt, dass der Tinnitus des Sohnes U des Klägers auf einer Schädigung der
Haarzellen beruhe, mithin organisch bedingt sei.
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II. Weitergehende Ansprüche stehen dem Kläger nicht zu, da er nicht das Vorliegen
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eines Invaliditätsgrad von mindestens 10 % zu beweisen vermochte. Soweit der Kläger
gegen den im Gutachten vom 01.12.2004 angenommen Grad der Invalidität einwendet,
der Sachverständige habe nicht hinreichend berücksichtigt, dass der Sohn des Klägers
ein Studium plane und aufgrund der eingeschränkten Konzentrationsfähigkeit und des
Ohrgeräusches deutlich größere Mühe aufwenden müsse, um das Studium zu
absolvieren, kann er hiermit nicht gehört werden. Ansatzpunkt für die Bemessung des
Invaliditätsgrades ist ein generell abstrakter Maßstab, nach dem nicht auf die besonde-
ren Fähigkeiten oder eine besondere berufliche Situation der versicherten Person,
sondern auf die Leistungsfähigkeit eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers
abzustellen ist (vgl. OLG Hamm, VersR 2003, 586; NVersZ 2002, 313 = r+s 2002, 525).
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III. Die zuerkannten Zinsen rechtfertigen sich als Rechtshängigkeitszinsen aus §§ 291,
288, 247 BGB.
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IV. Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 92 Abs. 1, 709 S. 1 und 2
ZPO.
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V. Streitwert: 7.669,38 €.
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