Urteil des LG Dortmund vom 25.01.2007

LG Dortmund: contusio cerebri, nervenleiden, ärztliche behandlung, psychische störung, geisteskrankheit, unfallversicherung, professor, arbeitsunfähigkeit, beendigung, psychosyndrom

Landgericht Dortmund, 2 O 157/05
Datum:
25.01.2007
Gericht:
Landgericht Dortmund
Spruchkörper:
2. Zivilkammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
2 O 157/05
Schlagworte:
Versicherungsfähigkeit, Geisteskrankheit, Nervenleiden
Normen:
AUB 61 § 5 Abs. 1 und 2
Leitsätze:
§ 5 Abs. 1 AUB 61 ist unwirksam, soweit der Wegfall der
Versicherungsfähigkeit und damit das Erlöschen des
Versicherungsschutzes nach § 5 Abs. 2 an Geisteskrankheit oder ein
schweres Nervenleiden der versicherten Person geknüpft wird.
Tenor:
Es wird festgestellt, dass die Unfallversicherung des Klägers
bei der Beklagten mit der Versicherungs-Nr. ###########
zu unveränderten Bedingungen fortbesteht und nicht aufgelöst
worden ist.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 %
des jeweils beizutreibenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
T a t b e s t a n d
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Der Kläger hat bei der Beklagten eine Unfallversicherung mit Beginn 01.08.1953
genommen. Dem Vertrag liegen die AUB 61 / 76 zugrunde. Zuletzt war der Kläger als
niedergelassener Arzt berufstätig, als er am 22.06.1988 im ärztlichen Notdienst mit
seinem Fahrzeug von der Straße abkam und vor einen Baum fuhr. Bei diesem
Autounfall erlitt der Kläger eine Contusio cerebri, die eine 3monatige Amnesie sowie
eine über 7monatige ärztliche Behandlung mit anschließender mehrmonatiger
Rehabilitation nach sich zog. Im Mai 1995 attestierte der den Kläger nach dem Unfall
von 1988 behandelnde Neurologe in einer ärztlichen Bescheinigung zur Vorlage beim
Versorgungsamt ein schweres neuropsychiatrisches Defektsyndrom nach Contusio
cerebri mit Dysarthrie und einer amnestischen Teilaphasie (Wortfindungsstörung) sowie
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eine leichte Hemiparese rechts mit Funktionseinschränkung auch des rechten Armes
und der rechten Hand. Den Grad der Behinderung gab Professor Dr. T mit 100 % an.
Noch 1995 erhielt der Kläger Leistungen nach der Pflegestufe 2 der Pflegeversicherung,
seit 1996 nach der Pflegestufe 1.
Wegen eines Unfalles vom 20.01.2002 erbrachte die Beklagte Leistungen aus der
bestehenden Unfallversicherung. Nach einem weiteren Unfall vom 24.09.2003 lehnte
die Beklagte die Erbringung von Versicherungsleistungen ab, nachdem ein von ihr
eingeholtes orthopädisches Gutachten eine unfallbedingte Invalidität nicht bestätigen
konnte. Mit Schreiben vom 10.11.2004 teilte die Beklagte dem Kläger sodann unter
Bezugnahme auf § 5 Abs. 1 und 2 der vereinbarten AUB mit, dass seit dem 23.06.1988
keine Versicherungsfähigkeit mehr vorgelegen und der Versicherungsschutz für den
Kläger zu diesem Zeitpunkt geendet habe. Da der Kläger sich gegen die
Vertragsbeendigung wandte, teilte die Beklagte mit Schreiben vom 14.02.2005 mit, dass
der Vertrag rückwirkend zum 01.01.1994 beendet sei, weil die versicherte Person
dauernd vollständig (d.h. zu 100 %) arbeitsunfähig sei. Sie lehnte die Fortführung des
Vertrages ab und erstattete dem Kläger die Beiträge ab Januar 1994.
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Mit der Klage will der Kläger den Fortbestand der Unfallversicherung festgestellt wissen.
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Er bestreitet, an einem schweren Nervenleiden zu leiden und behauptet, noch teilweise
arbeitsfähig zu sein. Er vertritt die Auffassung, dass es der Beklagten verwehrt sei, sich
auf einen etwaigen Wegfall der Versicherungsfähigkeit zu berufen, nachdem sie dies
nach dem Unfall vom 20.01.2002 unterlassen und sogar Versicherungsleistungen
erbracht habe.
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Der Kläger beantragt,
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festzustellen, dass das Versicherungsverhältnis bezüglich seiner
Unfallversicherung bei der Beklagten mit der Versicherungsnummer
################## zu unveränderten Bedingungen fortbesteht und nicht
aufgelöst worden ist.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie behauptet, der Kläger sei von einem schweren Nervenleiden befallen und zudem
jedenfalls seit 1994 vollständig arbeitsunfähig.
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Das Gericht hat über die behauptete vollständige Arbeitsunfähigkeit Beweis erhoben
durch Einholung von Sachverständigengutachten. Wegen des Ergebnisses der
Beweisaufnahme wird auf das neurologische Gutachten des Sachverständigen
Professor Dr. T2 vom 09.08.2006, das elektrophysiologische Zusatzgutachten des
Sachverständigen Dr. T3 vom 20.01.2006 sowie das neuropsychologische
Zusatzgutachten der Sachverständigen Professor Dr. E vom 20.07.2006, wegen der
weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien auf den vorgetragenen Inhalt der
zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Sitzungsprotokolle
Bezug genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
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Die Klage ist begründet.
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Das Versicherungsverhältnis zwischen den Parteien besteht auch über den 31.12.2003
hinaus fort, weil die Versicherungsfähigkeit des Klägers nach § 5 Abs. 1 AUB 61 nicht
entfallen ist, so dass die auf Beendigung des Vertrages gerichtete Rechtsfolge des § 5
Abs. 2 Satz 2 AUB 61 nicht eingetreten ist.
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Nach § 5 AUB 61 sind Personen nicht versicherungsfähig, wenn sie von schweren
Nervenleiden befallen oder dauernd vollständig arbeitsunfähig sind. Nach Abs. 2 der
genannten Vorschrift endet der Vertrag, sobald der Versicherte versicherungsunfähig
geworden ist.
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1. Die Versicherungsfähigkeit des Klägers ist nicht erloschen, weil der Kläger von
einem schweren Nervenleiden befallen ist. Das organische Psychosyndrom,
welches beim Kläger attestiert worden ist, kann zwar als Nervenleiden verstanden
werden, weil es sich um eine psychische Störung handelt, die infolge einer
Schädigung des Gehirns aufgetreten ist. Damit ist durch das Leiden ein Teil des
zentralen Nervensystems des Menschen betroffen, so dass die damit vorliegende
Erkrankung des Gehirns auch von einem verständigen Versicherungsnehmer bei
einem um Auslegung von § 5 Abs. 1 AUB 61 bemühten Verständnis dieser
Vorschrift als Nervenleiden verstanden werden kann. Allerdings handelt es sich bei
dem beim Kläger vorliegenden Psychosyndrom nicht um ein bedingungsgemäßes
schweres Nervenleiden. Denn aus der Gleichstellung des schweren Nervenleidens
mit Geisteskrankheit oder dauernder vollständiger Arbeitsunfähigkeit folgt, dass nur
solche Nervenleiden als schwer im Sinne von § 5 Abs. 1 AUB 61 qualifiziert
werden können, die progredient verlaufen oder unbeeinflussbar sind und damit
zwangsläufig in einen lebensbedrohlichen Zustand, Siechtum oder gar zum Tode
führen (OLG Frankfurt r + s 1997, 173 = zfs 1997, 225; Grimm Unfallversicherung 3.
Aufl., § 3 Rn. 5; Prölss/Martin/Knappmann VVG 27. Aufl., § 5 AUB 61 Rn. 2; VersR-
Handbuch / Mangen § 47 Rn. 113). Ein solch schweres Nervenleiden, welches bei
multipler Sklerose, Alzheimer oder Chorea-Huntington im chronisch-progredienten
Stadium angenommen werden kann, liegt durch das beim Kläger attestierte
organische Psychosyndrom auch nach dem Vortrag der Beklagten nicht vor, so
dass deswegen die Versicherungsfähigkeit des Klägers nicht entfallen ist.
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Selbst wenn das beim Kläger vorliegende organische Psychosyndrom als
schweres Nervenleiden im Sinne von § 5 Abs. 1 AUB 61 zu qualifizieren wäre,
könnte sich die Beklagte nicht mit Erfolg auf eine Beendigung des
Unfallversicherungsvertrages berufen, da nach Auffassung der Kammer § 5 Abs. 1
AUB 61 wegen einer für den Versicherungsnehmer nachteiligen Abweichung von
den §§ 16 ff., 23 ff. VVG insoweit unwirksam ist, als die Beendigung des
Versicherungsvertrages als Folge eines Wegfalles der Versicherungsfähigkeit an
Geisteskrankheit oder ein schweres Nervenleiden der versicherten Person
geknüpft wird, ohne dass zugleich dauernde vollständige Arbeitsunfähigkeit
vorliegt. Denn anders als beim Eintritt vollständiger dauernder Arbeitsunfähigkeit
(vgl. BGH NJW-RR 1989, 604) handelt es sich beim Eintritt von Geisteskrankheit
oder einem schweren Nervenleiden nicht um den Wegfall des versicherten
Interesses, sondern um eine Gefahrerhöhung, die der Versicherer zum Anlass
nimmt, entgegen den Regelungen in §§ 16 ff. und 23 ff. VVG unabhängig von
einem Verschulden, einer Kündigung, von Fristen und Kausalität Leistungsfreiheit
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durch Vertragsbeendigung zu erreichen. Damit weicht § 5 Abs. 1 AUB 61 insoweit
unzulässigerweise (§ 34 a VVG) von den Vorschriften der §§ 16 bis 29 a zum
Nachteil des Versicherungsnehmers ab und ist deswegen unwirksam
(Prölss/Martin/Knappmann a.a.O. Rn. 2). Die von Grimm a.a.O. Rn. 1 vertretene
Gegenauffassung, die auch bei fehlender Versicherungsfähigkeit wegen
Geisteskrankheit oder schwerem Nervenleiden einen dem Grundgedanken des §
68 VVG entsprechenden Wegfall des versicherten Interesses sieht, kann sich auf
BGH NJW-RR 1989, 604 nicht berufen, da diese Entscheidung ausdrücklich nur
die fehlende Versicherungsfähigkeit bei dauernder völliger Arbeitsunfähigkeit
betrifft und zu einem Wegfall des versicherten Interesses gelangt, weil die AUB 61
gerade die Arbeitsfähigkeit der versicherten Person versichern. Dieser
Gesichtspunkt trifft aber auf die anderen Alternativen des § 5 Abs. 1 AUB 61 wie
Geisteskrankheit oder schweres Nervenleiden gerade nicht zu.
2. Eine dauernde vollständige Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung für den
Wegfall der Versicherungsfähigkeit des Klägers nach dem 31.12.1993 hat die
Beklagte nicht bewiesen. Die dazu eingeholten schriftlichen
Sachverständigengutachten haben nicht ergeben, dass der Kläger im Zeitraum ab
1994 auf Dauer außer Stande gewesen ist, eine Erwerbstätigkeit auszuüben. Nach
dem Hauptgutachten Professor Dr. T2 hat eine Kernspintomografie vom Kopf des
Klägers keinen Nachweis eines kontusionsbedingten Hirnsubstanzdefektes
ergeben. Ebenso wenig haben sich Hinweise für eine parenchymatöse Blutung
finden lassen. Ferner fehlen Hinweise für eine parenchymatöse Schädigung oder
eine Hirnparenchymblutung. Das neuropsychologische Zusatzgutachten von
Professor Dr. E hat einerseits relativ zur Altersnorm signifikante Aufmerksamkeits-
und Konzentrationsdefizite bei gesteigerten Anforderungen an die kognitive
Leistungsfähigkeit, vor allem unter hohem Zeitdruck, andererseits in den übrigen
kognitiven Bereichen ein normgerechtes oder gar überdurchschnittliches
Leistungsvermögen ergeben. Da der Kläger über ein weit überdurchschnittliches
allgemeines intellektuelles Leistungsvermögen verfügt, kann davon ausgegangen
werden, dass ihn dieses Leistungsvermögen in die Lage versetzt,
kompensatorische Strategien zu entwickeln, die zu einer Reduktion bzw.
Minderung kognitiver Einschränkungen im Verhältnis zur Altersnorm geführt haben.
Aus diesen Erkenntnissen hat der Sachverständige Professor Dr. T2 gefolgert,
dass bei einem im Wesentlichen stabilen Befund seit 1995 unter Berücksichtigung
der derzeitigen klinischen und neuropsychologischen Befunde insbesondere
wegen fehlendem Nachweis einer traumatischen parenchymatösen
Hirnschädigung zu keinem Zeitpunkt seit dem 01.01.1994 von einer
Erwerbsunfähigkeit des Klägers ausgegangen werden kann.
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Da somit die Versicherungsfähigkeit des Klägers nicht erloschen ist, hat auch der
Unfallversicherungsvertrag zwischen den Parteien keine Beendigung gefunden, so
dass dessen Fortbestand antragsgemäß festzustellen war.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige
Vollstreckbarkeit aus § 709 ZPO.
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