Urteil des LG Dortmund vom 17.11.2005

LG Dortmund: strafrechtliche verantwortlichkeit, rolltreppe, dolus eventualis, berufliche ausbildung, bier, schule, schuldfähigkeit, alkohol, wohnung, polizei

Landgericht Dortmund, 14 (I) K 3/05
Datum:
17.11.2005
Gericht:
Landgericht Dortmund
Spruchkörper:
I. große Strafkammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
14 (I) K 3/05
Tenor:
Der Angeklagte wird wegen Totschlags unter Einbeziehung
des Urteils des Amtsgerichts Dortmund vom 17. März 2005
(67 Ds 155 Js 481/04 = 31/05) zu einer einheitlichen Ju-
gendstrafe von
sieben Jahren
verurteilt.
Von der Auferlegung von Kosten und Auslagen des Verfah-
rens wird abgesehen.
- §212 StGB, §§1, 3 JGG-
Gründe:
1
I.
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Der am 25.10.1987 in M geborene Angeklagte ist als der älteste Sohn der
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Eheleute L mit einem 5 Jahre jüngeren Bruder im Elternhaus aufgewachsen.
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Die Eltern trennten sich, als der Angeklagte ca. 7 Jahre alt war.
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Die Mutter bekam das alleinige Sorgerecht. Im Jahre 1999 heiratete die
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Mutter des Angeklagten erneut, nachdem der zweite Ehemann schon einige Zeit zuvor
mit der Familie zusammengewohnt hatte. Die Scheidung dieser Ehe erfolgte im Jahre
2003. Der zweite Ehemann der Mutter nahm bei dem Angeklagten nicht so sehr eine
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Vaterrolle ein, der Angeklagte sah ihn mehr als "Kumpel". Zu seinem leiblichen Vater,
welcher nach F verzog, hatte der Angeklagte zunächst sporadisch, später überhaupt
keinen Kontakt mehr.
Der Angeklagte hielt sich viel bei seinen Großeltern mütterlicherseits auf, welche einen
Ponyhof in E betrieben. Der Angeklagte half dort aus,
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und bekam dafür auch Taschengeld vom Großvater. Die Mutter des Angeklagten betrieb
einige Jahre lang diesen Ponyhof zusammen mit ihrem Vater.
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Nach dem Tod der Großmutter im Jahre 2001 kam es zu einem Zerwürfnis der
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Mutter mit dem Großvater. Die Mutter des Angeklagten verzog mit ihren Söhnen nach
E2. Dort lebten die Familie zunächst von Sozialhilfe, bis die
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Mutter eine Arbeitsstelle in einem Call-Center fand, zunächst nur für halbe Tage, dann
aber, als ihre Söhne schon größer waren, für volle Tage. Der Angeklagte selbst hat mit
seinem Großvater weiterhin ständigen Kontakt. Auch nach dem Umzug hielt er sich
zeitweise dort auf und half auf dem Ponyhof, wo er noch ein eigenes Zimmer im Haus
des Großvaters hatte.
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Der Angeklagte wurde zunächst altersgemäß in die Grundschule eingeschult.
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Schon dort fiel er durch unbeherrschtes Verhalten auf. Nach vier Jahren wechselte er
zur Gesamtschule. Dort war er aber nur einige Monate, weil er dort von Anfang an nicht
lernte und auch keine Hausaufgaben machte, so dass er im Unterricht nicht mitkam. Er
wechselte zur Hauptschule in E3. Dort ver-
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schlechterten sich seine Leistungen dermaßen, dass er die 6. Klasse wiederholen
musste und schließlich mit Beginn der 7. Klasse wegen massiver
Verhaltensauffälligkeiten in die U-Schule für Erziehungshilfe umgeschult wurde.
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In der Hauptschule hatte der Angeklagte zahlreiche negative Erlebnisse mit
ausländischen Mitschülern. Er befand sich damals in einer Klasse mit überwiegend
ausländischen Mitschülern, zeitweise gab es nur drei Deutsche in der Klasse. Der
Angeklagte wurde von den ausländischen Mitschülern oft verprügelt, z. B. wurde er um
Zigaretten erpresst. Die "Abzieherei" war im Schulalltag üblich. Der Angeklagte, welcher
eine Zahnspange tragen musste, wurde von seinen Mitschülern dermaßen attackiert,
dass die Zahnspange ihm aus dem Mund rausgeschlagen wurde und defekt war. Als
der Angeklagte nach einem Beinbruch mit einem Stock in die Schule gehen musste,
wurde er ebenfalls geschlagen.
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Er war auch Beschimpfungen, z. B. als "Scheiß Deutscher" ausgesetzt. Teilweise hatte
der Angeklagte Angst, in die Schule zu gehen und machte auch aus diesen Gründen
manchmal "blau".
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Der Angeklagte fand schließlich Anschluss an deutsche Jugendliche der rechten
Szene. Es hatte sich inzwischen bei ihm ein ausländerfeindliches Bild verankert.
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Auch seinem Outfit nach bekannte sich der Angeklagte, z. B. durch das Tragen
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von Springerstiefeln und T-Shirts mit ausländerfeindlichen Aufdrucken oder anderen
rechten Inhalten, ausdrücklich zur rechten Szene. Wie es in der rechten Szene üblich
war, bezeichnete er damals auch schon Ausländer als "Zecken".
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Die negative Entwicklung seiner schulischen Leistungen und seines Sozialverhaltens in
der Schule setzte sich nach seinem Wechsel in die U-Schule fort.
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Auch dort zeigte er nur sehr mangelhafte Schulleistungen bei zahlreichen Fehl-
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stunden und fiel durch Aggressionspotential und problematisches Konfliktverhalten auf.
Die 7. Klasse musste er wiederholen und wurde schließlich im Sommer 2004 mit einem
Abgangszeugnis nach der 7. Klasse entlassen.
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Der Angeklagte absolvierte danach ein Betriebspraktikum mit begleitendem Be-
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rufschulunterricht zur Erfüllung seiner Schulpflicht. In seinem Praktikumsbetrieb
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war man mit seiner Leistung und seinem Verhalten gegenüber den übrigen Mitarbeitern
sehr zufrieden. Auch sein Sozialverhalten innerhalb der Familie und dem familiären
Umfeld war nicht zu beanstanden.
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Im Laufe der Zeit war der Angeklagte immer mehr in der rechten Szene der Skinheads in
E4 verankert, auch gehörte er der "Kameradschaft M" an. Er war ein anerkanntes und
respektiertes Mitglied der Szene und identifizierte sich mit deren Werten und Zielen. Zu
seinem Feindbild gehörten u. a. auch Punker, weil diese "links" waren. Diese
bezeichnete er ebenfalls als "Zecken",
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wie es in der Szene üblich war. Zur Demonstration seiner Zugehörigkeit zur
Skinheadszene ließ er sich in großen altdeutschen Buchstaben den Schriftzug
"Skinhead" am Rücken tätowieren.
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Der Angeklagte trank seit seinem 15. Lebensjahr Alkohol. Mit Freunden in E
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trank er beinahe täglich Alkohol, meist Bier und auch Schnaps.
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Wenn sich der Angeklagte auf Feiern mit Kameraden befand, trank er oft so viel
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Alkohol, dass er sich - wie er es ausdrückte - regelrecht abschoss und am nächsten Tag
Kopfschmerzen hatte. Woran er sich hielt, war, wie es in der rechten Szene verlangt
wurde, dass er bei Demonstrationen keinen Alkohol zu sich nahm.
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Der Angeklagte hat außer den üblichen Kinderkrankheiten keine schweren Krankheiten
oder Unfälle mit Kopf- oder Rückratbeteiligung erlitten. Im Jahre 1997 wurde er wegen
des Verdachtes einer virusbedingten Hirnhautentzündung behandelt.
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Wegen Verhaltsauffälligkeiten befand er sich im November 2000 in der W- Kinderklinik
in E5, wo bei unauffälligen körperlichen und neurologi-
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schen Befunden eine durchschnittliche Intelligenz bei verminderter Konzentrati-
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onsfähigkeit festgestellt wurde. Während des Aufenthalts fielen auch sein gestörtes
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Sozialverhalten und seine vorhandenen schulischen Wissensdefizite auf.
Strafrechtlich ist der Angeklagte bisher wie folgt in Erscheinung getreten:
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1.
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Das Verfahren 67 Ds 155 Js 321/04 = 240/04 wurde gemäß § 47 JGG nach ju-
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gendrichterlicher Ermahnung und Erfüllung einer Geldauflage eingestellt. In die-
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sem Verfahren wurde dem Angeklagten vorgeworfen, am 26.05.2004 gegenüber einem
Polizeibeamten, welcher in der Kleingartenanlage in E
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bei einem Einsatz wegen Ruhestörung auf den angetrunkenen Angeklagten traf,
fortwährend beschimpft zu haben und angedroht zu haben, die Polizeibeamten
anzugreifen, bzw. einem Polizeibeamten gegen die Schienbeine treten zu wollen.
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In der Hauptverhandlung hat sich der Angeklagte bei dem Polizeibeamten ent-
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schuldigt.
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2.
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Im Verfahren 67 Ds 155 Js 481/04 = 31/05 wurde der Angeklagte durch das
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Amtsgericht Dortmund mit Urteil vom 07.03.2005, rechtskräftig seit dem
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25.03.2005, wegen Körperverletzung in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tat-
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einheit mit Nötigung, zu einem Dauerarrest von einer Woche verurteilt. Ferner
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wurde ihm aufgegeben, einen Betrag von 150,00 € innerhalb von vier Monaten an den
Geschädigten G zu zahlen.
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Der Verurteilung lag folgender Sachverhalt zugrunde:
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Am 26.06.2004 hielt sich der Angeklagte zusammen mit seinen Begleitern, T und X, in
einem Zug von X2 nach E6 auf.
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Der Angeklagte und seine Begleiter waren deutlich erkennbar mit Kampfho-
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sen, Springerstiefeln und teilweise Bomberjacken als Skinheads gekleidet. Der
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Begleiter X trug darüber hinaus ein T-Shirt mit dem Aufdruck
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"Skinhead Germany". Der Angeklagte und seine Begleiter setzten sich zu dem
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deutlich als Punker erkennbaren Zeugen G in ein 4er-Abteil, wo es zunächst
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zu verbalen Provokationen gegen den Zeugen G kam. Als der Zeuge G
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schließlich versuchte, aufzustehen und den Zug zu verlassen, schlug der Ange-
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klagte ihm mit der Faust gegen den Arm und stieß ihn so auf den Sitz zurück. Er forderte
den Geschädigten zugleich auf, weiter mit ihnen zu fahren. Als der Zeuge M2 und eine
weitere, nicht näher ermittelte weibliche Person zur Hilfe geeilt kamen, konnte der
Zeuge G schließlich aufstehen und begab sich zur
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Ausgangstür des Zuges. Als er mit dem Rücken zu dem Angeklagten und dessen
Begleitern stand, kam der Angeklagte von hinten angerannt und trat gegen den
Oberschenkel des Zeugen. Darüber hinaus schlug er mehrfach mit der Faust gegen den
Arm, den Rücken und den Hinterkopf des Geschädigten. Der Geschädigte erlitt
hierdurch eine Platzwunde und eine Gehirnerschütterung.
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Der Angeklagte hat das Schmerzensgeld in diesem Verfahren inzwischen durch
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seine Tätigkeit in der Untersuchungshaft erarbeitet und auch gezahlt. Eine Ent-
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schuldigung gegenüber dem Geschädigten lehnt er jedoch mit der Begründung
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ab, dieser habe ihn zuerst provoziert und beleidigt.
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Der Angeklagte ist im vorliegenden Verfahren am 28.03.2005 vorläufig festge-
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nommen worden und befindet sich auf Grund des Haftbefehls des Amtsgerichts
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Dortmund vom 29.03.2005 (79 Gs 535/05) seit diesem Tage in Untersuchungs-
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haft. In der Untersuchungshaft nimmt er am Schulunterricht und an einer Ar-
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beitsmaßnahme im Metallbereich teil. Seine Leistungen werden in beiden Berei-
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chen positiv bewertet. Auch zeigt er in der Zusammenarbeit im Unterricht und im
Werkstattbereich mit den Mitgefangenen, auch Ausländern, beanstandungsfreies
Verhalten.
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II.
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Am 28.03.2005, einem Ostermontag, war der Angeklagte allein zu Hause. Seine Mutter
war mit seinem jüngeren Bruder nach L4 gefahren, wo die Mutter einen Freund hatte. An
diesem Tag schlief der Angeklagte bis ca. 10:00 Uhr. Er hatte sich um 12:00 Uhr mit der
Zeugin N in der E6 Innenstadt am T4 verabredet. Er hatte die Zeugin N im Sommer
2004 auf dem Ponyhof des Großvaters kennen gelernt und sich mit ihr angefreundet. Sie
hatten
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sich oft miteinander unterhalten, ohne dass es zu einer sexuellen Beziehung gekommen
war. Die Zeugin N gehört nicht der rechten Szene an. Andererseits
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störte es sie nicht, dass der Angeklagte der Szene der Skinheads angehörte. Was ihr an
dem Angeklagten missfiel, war sein oft erheblicher Alkoholkonsum.
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Der Angeklagte fuhr mit öffentlichen Verkehrsmitteln in die E6 Innenstadt
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und trank auf dem Weg zur Haltestelle T4 nach seinen eigenen Angaben
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eine Flasche Apfelkorn. Erkaufte sich weiterhin 5 Flaschen Bier, von denen er
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ebenfalls vor dem Treffen mit N um 12:00 Uhr mittags 3 Flaschen
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trank. Als die beiden sich trafen, hatte der Angeklagte noch eine Flasche Bier in
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seiner Jackentasche und eine Flasche in der Hand, welche er gerade trank. Die
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beiden gingen zusammen zu Fuß in die Innenstadt, ohne etwas Bestimmtes
vorzuhaben. Als dann ein Anruf von einem "Kumpel" des Angeklagten kam, der
vorschlug, in E4 ein Fußballspiel einer örtlichen Mannschaft anzuschauen, fragte der
Angeklagte die Zeugin, ob sie mitkommen wolle. Die Zeugin
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N war damit einverstanden, und die beiden fuhren vom Hauptbahnhof nach
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E4 mit der S-Bahn. Vorher schloss der Angeklagte noch in einem Wettbüro eine
Fußballwette für 5,00 € ab.
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In E4 nahmen sie einen Bus, um zunächst zur Wohnung des
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Kumpels des Angeklagten zu kommen, wo der Angeklagte, der inzwischen die
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beiden restlichen gekauften Flaschen Bier ausgetrunken hatte, noch ein bis zwei
weitere Flaschen Bier trank. Bei dem Kumpel in der Wohnung hatten sich etwa noch
zehn weitere junge Leute eingefunden, welche zu dem Fußballspiel gehen wollten. In
der Wohnung ließ der Angeklagte seine Bomberjacke zurück. In dieser befand sich die
spätere Tatwaffe, ein beidseitig geschliffenes Wurfmesser aus einem einheitlichen
Metallstück, wobei der Griff gelöchert und der Klingenbereich ca. 15 cm lang war.
Dieses Messer war mit einer dunklen Nylonhülle umgeben.
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Der Angeklagte hatte diese Waffe kurze Zeit zuvor im C-Shop in E6
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gekauft, weil das Messer ihm so gut gefiel. Das Messer befand sich vorne in der
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Jackentasche seiner Bomberjacke.
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Auch während des Spiels wurde, auch von dem Angeklagten, Bier getrunken.
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Nachdem Spiel hielten sich die Gruppe um den Kumpel des Angeklagten sowie
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dieser und die Zeugin N noch einige Zeit auf dem Platz auf. Es war gute
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Stimmung, da die eigene Mannschaft gewonnen hatte. Auf dem Rückweg holte
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sich der Angeklagte seine Bomberjacke aus der Wohnung seines Kumpels ab.
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Um ca. 18:30 Uhr fuhren der Angeklagte und die Zeugin N mit Bus und Stra-
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ßenbahn in die E6 Innenstadt zurück. An der Haltestelle L-straße
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stiegen sie aus. Sie hatten sich inzwischen entschieden, zum Angeklagten nach
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Hause zu fahren und wollten an der Haltestelle L-straße die U-Bahn ###
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Richtung E7 nehmen.
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Oben an der Straßenbahnhaltestelle standen 2 bis 3 Punker, darunter der Zeuge T2,
welche man an ihrem Outfit, wie Irokesenhaarschnitt und "kaputte"
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(absichtlich mit Löchern versehene) Kleidung erkannte. Da der Angeklagte an-
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hand seines Äußeren (Glatze, Bomberjacke und Springerstiefel mit weißen
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Schnürsenkeln) unschwer als "Rechter" auszumachen war, kam es zu den übli-
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chen Sprüchen und Beschimpfungen zwischen ihnen, ohne dass eine ernstliche,
bedrohliche Situation entstand. Der Angeklagte und die Zeugin N fuhren mit der
Rolltreppe ein Stockwerk zur sogenannten Verteilerebene herunter. Dort wollte der
Angeklagte, es war jetzt kurz vor 19:00 Uhr, eigentlich noch eine Zigarette rauchen,
nahm aber davon Abstand, als er auf der Anzeigetafel sah, dass die U- Bahn ### in ca.
2 Minuten eintreffen würde. Sie nahmen deswegen sofort die Rolltreppe hinunter zur U-
Bahnstation, wobei ihnen eine Gruppe von ca. 20 Punkern, darunter auch einige
weibliche Punker, von unten auf der Rolltreppe, die von der Gegenbahn durch eine
normale Treppe getrennt war, entgegenkam. Einige der Punker hatten Bierflaschen in
der Hand und tranken Bier, sie waren teilweise offensichtlich alkoholisiert.
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Als die Punker den Angeklagten als Skinhead ausmachten, gab es provozierende
Sprüche. so beschimpften sie z.B. den Angeklagten u.a. als "Scheiß Nazi". Der
Angeklagte fand das Verhalten der Gruppe nicht mehr lustig, wie er es in der
Hauptverhandlung ausdrückte, in ihm stieg Wut auf. Jedenfalls rief er, als er unten das
Ende der Rolltreppe erreicht hatte, zu den Punkern sinngemäß hoch, sie sollten doch zu
ihm herkommen, wenn sie etwas wollten. Die Punker wollten an diesem Tag ein
Konzert der Gruppe"I" besuchen, und reagierten deswegen nicht auf diese
Aufforderung. Nur einer der Gruppe, nämlich das spätere Opfer, der 31 jährige T3,
machte kehrt und nahm die Rolltreppe abwärts zurück, um zu dem Angeklagten zu
gelangen.
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Der Angeklagte war von der Zeugin N von der Rolltreppe unten weg zum
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Bahnsteig gezogen worden. Als die beiden ein Klappern von hinten hörten, gin-
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gen sie zur Rolltreppe zurück und sahen den u.a. mit einer Tarnhose und einem
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Nietengürtel bekleideten T3 die Treppe herunterkommen und gingen auf ihn
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zu.
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T3 wollte den Angeklagten zur Rede stellen und sprach ihn u. a. darauf an,
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was das eben für Sprüche gewesen seien. Der Angeklagte erwiderte u. a., dass
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T3 seine Klappe halten solle.
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Es kam zu gegenseitigen Pöbeleien, wobei T3, welcher erkennbar erheblich
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angetrunken war und unter Haschischeinfluss stand, mit den Händen herumfuchtelte.
Die Zeugin N zog den Angeklagten Richtung Gleise und erklärte schließlich, er könne
allein nach Hause fahren, wenn er nicht aufhöre.
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Darauf wandte sich der Angeklagte dem Opfer zu und sagte, er werde ihm nichts tun,
weil seine Freundin dabei sei. Der Angeklagte ging daraufhin auch etwas weiter,
während T3 nicht locker ließ und ihm nachkam. Der Angeklagte zog das Messer aus der
Jackeninnentasche und hielt es in der rechten Hand aufrecht im Handteller oder der
Faust an der hinteren Unterarmseite seines gestreckten Armes. T3 zeigte keinerlei
Reaktion und hatte, was auch der Angeklagte erkennen konnte, das Messer nicht
bemerkt. Wegen des hartnäckigen Verhaltens des T3 war der Angeklagte genervt und
wütend. Als dann kurze Zeit darauf die U-Bahn in den Bahnsteig einlief und T3 immer
noch weiter auf den Angeklagten einredete, nahm der Angeklagte das Messer und stach
es dem Opfer, welches ihm direkt gegenüberstand, mit erheblicher Wucht in die Brust.
Dabei nahm er den Tod des Opfers zumindest billigend in Kauf.
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Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Angeklagte bei früheren Auseinanderset-
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zungen mit Punkern von einer gesamten Gruppe am Hauptbahnhof in einem Fall einmal
so in die Enge getrieben worden war, dass er nur knapp entkommen konnte, und dass
er diese Szene vor seinem inneren Auge hatte und sich in Erwartung, dass
möglicherweise noch andere Punker in den U-Bahnbahnhof von oben zurückkommen
würden, die Gefahr für sich selbst fälschlicherweise größer einschätzte als sie
tatsächlich war.
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Anschließend lief der Angeklagte mit dem Messer in der Hand in die wartende U-Bahn,
wobei die Zeugin N ihm folgte. In der U-Bahn äußerte sich der aufge-
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regt wirkende Angeklagte, was von der dort sitzenden Zeugin I² gehört wur-
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de, in einer aggressiven Art, indem er "komm doch!" oder "kommt doch!" rief.
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Inzwischen waren mehrere Leute insbesondere auch solche, die beim Warten auf die U-
Bahn bzw. nach dem Aussteigen aus der U-Bahn auf die Auseinandersetzung
aufmerksam geworden waren, dem Opfer, welches kurz nach dem Stich
zusammengebrochen war, zur Hilfe geeilt. Auch die Zeugin I², die Arzthelferin ist, ging
zu dem Opfer, bei welchem sich schon die Zeugin M3
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befand. Diese war aus der U-Bahn kommend an dem streitenden Opfer und An-
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geklagten vorbeigegangen und hatte dann einen Stoß des Angeklagten gegen
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das Opfer gesehen, wobei sie, obwohl sie das Messer nicht gesehen hatte, auf-
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grund des Zusammensackens des Opfers auf einen Messerstich schloss. Als die Zeugin
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I² zu dem Opfer kam, konnte sie gerade noch den zu diesem Zeit-
punkt herabsackenden Kopf des Opfers mit ihren Händen abfangen. Als sie er-
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kannte, dass das schwer atmende Opfer gurgelnde Laute von sich gab, bemühte sie
sich das Opfer wach zu halten, indem sie seine linke Hand hielt. Nachdem der Verdacht
eines Messerstichs geäußert worden war, drehte sie das Opfer so, dass sie den
Brustbereich :sehen konnte. Dort sah sie dann die blutende Verletzung.
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Auch die Zeugin L5, die Straßenbahnfahrerin der U ##, war ausgestiegen
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und zu dem Opfer gegangen. Die Zeugin M4, welche mit ihrem
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Freund, dem Zeugen W2, aus der Straßenbahn ausgestiegen und auf
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dem Weg zur Rolltreppe ebenfalls auf die Auseinandersetzung aufmerksamge-
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worden war, wollte mit ihrem Handy den Notruf benachrichtigen, war aber vor Aufregung
nicht dazu in der Lage, so dass dieses ein vorbeikommender Mann für sie tat. Auch die
Zeugin L5 war zwischendurch in den Führerstand ihrer U-Bahn zurückgekehrt und hatte
den Notruf betätigt. Sie war danach wieder zum Opfer gegangen.
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Als der Angeklagte bemerkte, dass die U-Bahn nicht weiterfuhr, lief er wieder auf den
Bahnsteig und fuhr zusammen mit der Zeugin N mit dem Fahrstuhl nach oben, da er
immer noch befürchtete, auf andere Punker zu treffen. Auch die Zeugen U2 und D, die
die Auseinandersetzung zunächst schon auf dem
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Bahnsteig wartend und die Schlussphase aus der geöffneten Tür der U-Bahn, in
welcher sie zunächst eingestiegen waren, beobachten und die Verfolgung des
Angeklagten aufgenommen hatten, konnten den Angeklagten und die Zeugin N nicht
stellen. Ebensowenig war die Verfolgung des Angeklagten durch den Zeugen I³ mit
dessen Bekannten erfolgreich, welcher als Fahrgast in
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der einfahrenden U-Bahn auf den Angriff des Angeklagten aufmerksam geworden war.
Als der Angeklagte mit der Zeugin N dann in denselben Waggon der U- Bahn zunächst
eingestiegen war und beide diesen dann verließen, nahmen dieser Zeuge und sein
Bekannter vergeblich die Verfolgung auf.
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Der Angeklagte und die Zeugin N liefen, nachdem sie auf der oberen Ebene
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Angekommen waren, in Richtung Hauptbahnhof. Der Angeklagte warf unterwegs das
Messer weg. Schon auf dem Weg zum Hauptbahnhof wandte sich der Angeklagte an
die Zeugin N mit der Frage, was man mache, wenn das Opfer sterbe. Am Hauptbahnhof
wurden der Angeklagte und die Zeugin N dann kurze Zeit später von der Polizei gestellt.
Eine dem Angeklagten entnommene Blutprobe ergab einen Blutalkoholgehalt zur
Tatzeit um 19:03 Uhr von 1,7%o(zur Entnahmezeit um 22:52 Uhr 0,70 %o). Das Opfer
wies gemäß dem toxikologischen Gutachten vom 15.04.2005 ferner im Blut Spuren von
Cannabinoiden und eine im ungiftigen Bereich von 0,05mg/l liegende Konzentration von
Cocain/ Benzoylecgonin auf.
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Trotz Notmaßnahmen des Notarztes am Tatort und einer Notoperation im Kran-
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kenhaus konnte das Leben des Opfers nicht gerettet werden. Es verstarb noch
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am selben Abend an einem Herzversagen als Folge der Stichverletzung.
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Bei der am 29.03.2005 durchgeführten Obduktion stellte der rechtsmedizinische
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Sachverständige Dr. A fest, dass zwischen 139 bis 144 cm oberhalb
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der rechten Fußsohlenebene längsgestellt sich eine etwa 4,8cm lange glattrandige
Wunde mit im oberen Wundbereich angedeuteter Schwalbenschwanzbildung befand
mit Durchstich durch die Brustwand und das Brustbein auf Höhe der 2ten bis 3ten
Rippe. Ferner stellte er einen Durchstich durch den Herzbeutel, eine stichbedingte
Verletzung der rechten Kammervorderwand mit Eröffnung der rechten Herzkammer
sowie Durchstich durch die Kammerscheidewand und die linke Kammerhinterwand mit
Austritt der Stichverletzung an der Rückseite der linken Kammerwand bei eine
Stichkanallänge von ca. 15 bis 16 cm fest, wobei der Stichkanal leicht absteigend bis
horizontal verlief.
145
III.
146
Der Angeklagte hat sich im Widerspruch zu den obigen Feststellungen folgendermaßen
eingelassen:
147
Unten auf der Ebene der U-Bahngleise hätten sich außer dem Opfer noch zahlreiche
andere Punker aufgehalten. Einige von den- darunter insbesondere weiblichen -
Punkern seien schon gar nicht die Rolltreppe heraufgefahren und auf der unteren Ebene
verblieben.
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Diese Einlassung ist durch die glaubhaften Angaben der ausdrücklich zu der
Anwesenheit von weiteren Punkern befragten Zeugen U2, D, W2, M3, L5, I³ und N
widerlegt, die übereinstimmend angegeben haben, auf der Gleisebene außer dem Opfer
keine anderen Punker gesehen zu haben. Die Zeugen U2 und D haben glaubhaft
geschildert, dass sie sich zunächst auf der Verteilerebene befunden haben, als die
Gruppe der Punker laut und teilweise alkoholisiert, als sie des Angeklagten ansichtig
wurden auch lautschreiend, die Rolltreppe hinauffuhren. Lediglich ein Punker, das
spätere Opfer, habe sich wieder zur Gleisebene zu dem Angeklagten hinunterbegeben,
wobei sie sich auf dem Weg hinunter hinter dem späteren Opfer befunden hätten. Von
entscheidender Bedeutung sind die Angaben der sich in unmittelbarer Nähe des
Angeklagten befindlichen Zeugin N, welche sich sicher war, auf der Gleisebene keine
weiteren Punker gesehen zu haben. Die Angaben dieser drei Zeugen werden
abgesichert durch die Bekundungen der übrigen o.a. Zeugen,
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welche sich an verschiedenen Stellen in der Gleisebene aufhielten und ebenfalls
glaubhaft angaben, keine anderen Punker gesehen zu haben.
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Der Angeklagte hat sich dahingehend eingelassen, dass er das Messer, nachdem er es
herausgezogen habe, nicht bewusst versteckt habe. In der Hauptverhandlung hatte er
zunächst noch behauptet, das Messer dem Opfer ausdrücklich vorgezeigt zu haben.
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Diese Einlassung ist zur Überzeugung der Kammer durch die glaubhaften über-
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einstimmenden Aussagen der Zeugen U2 und D widerlegt, die über-
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einstimmend die oben festgestellte Haltung des Messers durch den Angeklagten
beschrieben haben. Dabei haben sie ihre genauen Beobachtungen mitgeteilt und nicht,
wie die Verteidigung meint, eine Wertung vorgenommen. Die beiden Zeugen haben
diese Haltung in der Hauptverhandlung auch demonstriert, so dass die Kammer sich
selbst ein Bild davon machen konnte, was diese Zeugen als verdecktes Halten des
Messers verstanden. Da das Opfer dem Angeklagten gegenüberstand, war das am
rechten gestreckten Unterarm an der Rückseite gehaltene Messer für das Opfer nicht zu
sehen.
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Die Einlassung des Angeklagten, das Opfer habe eine ausholende Bewegung
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nach hinten gemacht, als wenn er zum Schlag ausholen wollte, und es habe
ausgesehen, als wenn er ein Nietenarmband oder einen ähnlichen Gegenstand an dem
Arm hatte, ist widerlegt.
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Dass das Opfer kein Nietenarmband trug, sondern lediglich einen Nietengürtel um hatte,
haben insbesondere die Zeuginnen M3 und I², die direkt sich
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um das Opfer kümmerten bzw. seine Hand hielten, angegeben. Selbst die Zeugin N, die
beim Tatgeschehen als einzige ganz nah dabei war, hat erklärt, dass das Opfer nicht
weit ausgeholt habe, sondern, wie sie meinte, mit der rechten Hand an seiner
Hosentasche "rumgefummelt" habe und nur leicht, wie sie ausdrückte, "minimal", die
Hand gehoben habe. Die Kammer wertet damit die Einlassung des Angeklagten als
Schutzbehauptung.
158
Auch die Einlassung des Angeklagten, er habe nach der Festnahme durch die
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Polizei geglaubt, das Opfer würde kommen, um ihn zu identifizieren, und die Polizei
würde ihn " verarschen", als sie ihm mitteilte, dass das Opfer tot sei, ist zur Überzeugung
der Kammer aufgrund der Beweisaufnahme widerlegt. Es ist schon wenig naheliegend,
dass der Angeklagte, welcher nach dem Stich das Opfer zusammenbrechend am Boden
liegen sah, nicht mit Schlimmeren rechnete. Widerlegt ist aber diese angebliche innere
Vorstellung dadurch, dass, wie die Zeugin N glaubhaft bekundet hat, der Angeklagte
selbst auf dem Weg zum Bahnhof die Zeugin gefragt hatte, was sie machen würden,
wenn das Opfer sterben würde.
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Es mag zwar sein, dass der Angeklagte hoffte und wünschte, dass das Opfer
161
nicht sterben würde, aber den Gedanken an eine solch schlimme Folge hatte er
162
durchaus.
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Die Kammer ist auch der Überzeugung, dass der Angeklagte mit einem Tötungsvorsatz
in Form des dolus eventualis den Stich in die Brust setzte. Äußerst gefährlichen
Gewalthandlungen, und dass ein Stich in die Brust gefährlich ist, war dem
alkoholgewöhnten Angeklagten trotz des genossenen Alkohols zweifelsohne bewusst,
haben Indizwirkung für die billigende Inkaufnahme des Todeseintritts, insbesondere
wenn das Ausbleiben des Erfolgs offensichtlich nur als glücklicher Zufall erscheinen
164
kann. So ist es im Fall eines Stichs in die Brust. Insoweit gehört es zu dem Grundwissen
auch eines Menschen mit schulischen Defiziten, dass bei einem Stich im Brustbereich
wegen der Herznähe sich leicht tödliche Verletzungen ergeben können, so dass sich
das Vorliegen eines bedingten Vorsatzes geradezu aufdrängt.
Auch die Würdigung der Gesamtumstände ergibt nach Auffassung der Kammer, dass
der Angeklagte mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt hat. Wie der sachverständige
Rechtsmediziner Dr. A erklärt hat, war auch bei dem beidseitig geschliffenen Messer,
welches zunächst die Kleidung, Haut und Untergewebe und dann Knochen
durchdringen musste, ein erheblicher Kraftaufwand erforderlich, um in den Körper in der
festgestellten Tiefe - es wurde ein Stichkanal von ca. 15 cm Länge festgestellt-
einzudringen. Die Angaben des Sachverständigen hinsichtlich der Stichkanallänge sind
im übrigen problemlos mit den Angaben des Angeklagten in Einklang zu bringen, dass
die Klinge seines beidseitig geschliffenen Messers etwa 15 cm lang gewesen sei.
165
Auch die festgestellte maximale Alkoholisierung des alkoholgewöhnten Angeklagten
von 1,7 %o ändert nichts an der Überzeugung von einem bedingten Vorsatz.
166
Es bestehen keinerlei Anhaltspunkte dafür, das ein derartiges Grundwissen hin-
167
sichtlich der Gefährlichkeit eines Stiches in die Brust bei dem sonst gezielt und auf der
Flucht auch folgerichtig handelnden Angeklagten nicht vorhanden gewesen sein
könnte.
168
Zur Überzeugung der Kammer hat der Angeklagte eine tödliche Folge seines Stiches
auch bewusst in Kauf genommen. Als das Opfer nicht von ihm abließ und weiter
hartnäckig auf ihn einredete, als die U-Bahn einlief, setzte er in Aufwallung von Wut den
Stich, um sich des lästigen Opfers zu entledigen. In dieser Situation war es dem
Angeklagten gleichgültig, ob das Opfer durch den gefährlichen Stich ums Leben kam. Er
nahm zur Überzeugung der Kammer den Tod des Opfers dabei billigend in Kauf.
169
Aus der Äußerung des Angeklagten in der U-Bahn, "kommt doch!" oder "komm
170
doch!" kann nicht geschlossen werden, dass sich der Angeklagte im Zeitpunkt
171
des Zustechens der möglicherweise tödlichen Folge seines Tuns nicht bewusst
172
war. Wenn die Äußerung im Plural erfolgte, konnte es sich auch darauf beziehen, dass
der Angeklagte möglicherweise erwartete, dass weitere Punker nach unten kommen
würden. Wenn es sich um eine aggressiv gesprochene Äußerung im Singular, also
"komm doch" gehandelt hat, kann dies auch provozierend in Bezug auf das Opfer
gemeint sein in dem Sinne, "wenn Du noch kannst". Diese Äußerung kann die oben
aufgeführten objektiven Umstände, welche für das billigende lnkaufnehmen des
Tötungserfolges sprechen, nicht erschüttern. Für das Vorliegen eines Tötungsvorsatzes
zum Zeitpunkt des Stiches ist diese Äußerung irrelevant.
173
Im Übrigen hält die Kammer auch die Einlassung des Angeklagten, wie schon
174
oben ausgeführt, er habe bei der Polizei noch nicht glauben wollen, dass das Opfer tot
sei, für widerlegt.
175
IV.
176
Der Angeklagte hat sich durch das festgestellte Verhalten des Totschlags gemäß § 212
StGB schuldig gemacht.
177
Die Kammer ist der Auffassung, dass Mordmerkmale im Sinne des § 211 StGB
178
nicht vorliegen.
179
Es lässt sich nicht feststellen, dass der Angeklagte aus niedrigen Beweggründen
gehandelt hat. Die Tatsache, dass der Angeklagte Punker als "Zecken" bezeichnet,
lässt einen solchen Rückschluss nach Auffassung der Kammer nicht zu.
180
Zwar könnte man zunächst der Auffassung sein, dass die Bezeichnung "Zecken" für
eine Gruppe von Menschen eine stark menschenyerachtende und den Lebenswert
absprechende Einstellung zeigt. Wie die Zeugin N durchaus nachvollziehbar erklärte, ist
der Ausdruck "Zecken" auch im Sprachschatz von Jugendlichen übergegangen, welche
nicht das Menschbild und die Einstellungen der Skinheads teilen. Insoweit liegt
sicherlich eine Entschärfung des Begriffes vor. Der Angeklagte hat auch überzeugend
vor der Kammer erklärt, dass er zwar die Gruppe der Punker nicht mag und ihre
Auffassungen nicht richtig findet. Andererseits hat er aber sein Prinzip dargestellt, dass
er sie in Ruhe lasse, wenn sie ihn in Ruhe lassen. Dabei hat die Kammer berücksichtigt,
dass die Provokationen und Eskalationen der Situation nicht nur vom Angeklagten
ausging und er dem Opfer sogar ein "Friedensangebot" gemacht hatte, indem er dem
Opfer erklärte, er werde ihm nichts tun, weil seine Freundin dabei sei. Bei diesem
Hintergrund erscheint es schon zweifelhaft, dass durch den für Punker durchweg
gebrauchten Ausdruck "Zecken" eine auf niedrigster Stufe stehende
menschenverachtende Einstellung zum Ausdruck kommt und bei dem Angeklagten in
der konkreten Situation auch gegeben war.
181
Selbst wenn man dies bejahen würde, so ist dieses jedoch in der konkreten Situation
nicht von tragender Bedeutung. Allenfalls wäre diese Einstellung bei der in
Wutaufwallung erfolgten letztlich spontanen Tat eines unter mehreren Motiven. Davon
ist in der Hauptverhandlung letztlich auch die Staatsanwaltschaft ausgegangen.
182
Die Kammer ist der Auffassung, dass auch das Mordmerkmal der Heimtücke nicht
Gegeben ist. Zwar ist es objektiv so gewesen, dass das angetrunkene Opfer sich keines
Angriffes versah und in der konkreten Tatsituation arglos und damit wehrlos diesem
Überraschungsangriff ausgesetzt war. Diese objektiven Umstände kannte der
Angeklagte auch, so dass er auch Vorsatz hinsichtlich dieser objektiven Umstände
hatte.
183
Die Kammer hat aber berechtigte Zweifel daran, ob der Angeklagte in dem Be-
184
wusstsein handelte, die Überraschung des arg- und damit wehrlosen Opfers
auszunutzen. Dabei hat die Kammer eine Gesamtwürdigung der Umstände
vorgenommen. Zunächst ist nicht zu übersehen, dass bei dem Angeklagten, der zwar
alkoholgewöhnt ist, bei dem festgestellten Promillegehalt von dem Vorliegen eines
leichten bzw. mittleren Rausches auszugehen ist, so dass eine gewisse Enthemmung
durchaus vorlag, wie die psychiatrische Sachverständige Dr. I4 ausgeführt hat.
185
Ferner machte sich hier der Einfluss seiner aus der Gesamtentwicklung sich er-
186
gebenden Gesinnungsbildung und Feindbildentstehung, so wie sie im
187
Werdegang dargelegt worden ist, bemerkbar. Die Kammer hält es in Übereinstimmung
mit der psychiatrischen Sachverständigen Dr. I4 nicht für ausgeschlossen, dass der
Angeklagte in dieser Situation eine intrapsychische Reinszenierung einer
Bedrohungssituation einerfeindlichen Punkergruppe erlebte und deswegen die Gefahr
fälschlicherweise größer einschätzte als sie objektiv war. Der Angeklagte hat ein
Vorerlebnis hinsichtlich einer solchen Situation, welche durchaus nicht lebensfremd ist
ist, am Hauptbahnhof geschildert. Nach Auffassung der Kammer spricht auch der
Umstand, dass der Angeklagte bei seiner Flucht den Fahrstuhl benutzte, dafür, dass er
befürchtete, er könne noch Punkern der Gruppe begegnen.
188
Nicht zu übersehen ist, dass der Stich letztlich in Aufwallung von Wut und Verärgerung
begangen wurde, so dass es sich um eine spontane Tat handelte. Objektive
Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte, der die Auseinandersetzung hinterher
eigentlich gar nicht mehr wollte, das Messer versteckt hielt, um in einem günstigen
Moment einen tödlichen Stich zu führen, bestehen nicht. Für das Ziehen des Messers,
welches nicht sofort eingesetzt wurde, kommt durchaus auch als Motiv in Betracht, dass
der Angeklagte befürchtete, dass weitere Punker kommen würden und er damit ein
Drohmittel hatte.
189
Angesichts dieser in der Tatsituation beim Angeklagten vorhandenen inneren
190
Umstände hat die Kammer berechtigte Zweifel daran, dass der Angeklagte in dem
Bewusstsein handelte, die Überraschung des arg- und damit wehrlosen Opfers
auszunutzen.
191
Anhaltspunkte für eine Schuldunfähigkeit des Täters bzw. erheblich verminderte
192
Schuldfähigkeit bestehen nach den Ausführungen der Sachverständigen Dr. I4, die den
Angeklagten auf seine Schuldfähigkeit psychiatrisch untersucht
193
hat, nicht. Es ergaben sich keine Anhaltspunkte für das Vorliegen von Schwachsinn.
194
Der Angeklagte verfügt über eine durchschnittlich Intelligenz, wie im übrigen
195
auch schon in der W- Kinderklinik im Jahre 2000 festgestellt wurde .Das
196
Schulversagen des Angeklagten hat, wie die Kammer beim Werdegang aufge-
197
zeigt hat, andere Gründe.
198
Die Sachverständige hat dargelegt, dass sich weder aus den vorgenommenen
199
Tests und Vorbefunden .noch aus der medizinischen Untersuchung und der Ex-
200
ploration Anhalte für das Vorhandensein von krankhaften seelischen Störungen
201
im Sinne von Psychosen oder einer hirnorganischen Störung ergeben haben,
202
noch Anhalte für das Vorliegen von schweren anderen seelischen Abartigkeiten
203
im Sinne einer schweren Persönlichkeitsstörung oder einen schweren neuroti-
204
schen Entwicklung. Auch ist das Vorliegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung
auszuschließen.
205
Auch bei Zugrundelegung eines auf den Tatzeitpunkt zurückgerechneten Blutal-
206
koholgehalts von 1,7 %o ist bei dem alkoholgewöhnten Angeklagten von dem Vorliegen
eines leichten bis mittleren Rausches auszugehen, welcher nicht zu einer erheblichen
Verminderung seiner Schuldfähigkeit führte.
207
Dje Tatsache, dass der Angeklagte den Ablauf des Tages, die Tatvorgeschichte
208
und, soweit er keine Schutzbehauptung aufstellte, auch zur Tat selbst noch ein
209
zuverlässiges Erinnerungsbild hatte, spricht gegen eine erheblich verminderte
210
Schuldfähigkeit bedingt durch Alkoholbeeinflussung. Er handelte durchaus nach
211
der Tat auch noch folgerichtig, als er den Fahrstuhl nahm, um der Gruppe der
212
Punker, welche er noch oben vermutete, nicht zu begegnen und sich auf dem
213
Weg zum Hauptbahnhof der Tatwaffe entledigte.
214
Im Ergebnis bestehen keine Bedenken gegen die volle Schuldfähigkeit des
Angeklagten.
215
V.
216
An der strafrechtlichen Verantwortung des zur Tatzeit 17 Jahre und 5 Monate alten
Angeklagten bestehen keine Bedenken. Die geistige Entwicklung des durchschnittlich
intelligenten Angeklagten ist sicherlich altergemäß. Reiferückstände bestehen allenfalls
hinsichtlich seiner sittlich-sozialen Entwicklung. Diese wirken sich aber nicht auf seine
strafrechtliche Verantwortlichkeit im Sinne des § 3 JGG aus. Die Fähigkeit des
Angeklagten, das Unrecht der Tötung in der konkreten Situation einzusehen und nach
dieser Einsicht zu handeln werden dadurch nicht berührt. Selbstverständlich war dem
Angeklagten klar, dass er sich des lästigen Opfers nicht durch einen tödlichen Stich
entledigen konnte. Anhaltspunkte dafür, dass ihm die Fähigkeit fehlte, nach dieser
Einsicht zu handeln, bestehen nicht. Insoweit wirkten sich die alkoholische
Beeinflussung und die beschriebene aktuelle seelisch-geistige Verfassung nicht so aus,
dass er dadurch gehindert war, nach
217
dieser Unrechtseinsicht zu handeln. Die Kammer befindet sich insoweit in Über-
218
einstimmung mit der psychiatrischen Sachverständigen Dr. I4, welche die
219
strafrechtliche Verantwortlichkeit im Sinne des § 3 JGG beim Angeklagten für gegeben
220
hält.
VI.
221
Die Kammer ist der Auffassung, dass sowohl unter dem Gesichtspunkt der
222
Schwere der Schuld als auch unter dem Gesichtspunkt schädlicher Neigungen
223
gegen den Angeklagten eine Jugendstrafe zu verhängen ist.
224
Der Angeklagte hat durch die Tat eines der schwersten Verbrechen verwirklicht,
225
welche das Strafgesetz vorsieht. Auch bei der Gesamtbetrachtung der näheren
226
Umstände ist seine Schuld als schwerwiegend anzusehen, so dass schon aus
227
dem Gesichtspunkt der Schwere der Schuld eine Jugendstrafe erforderlich ist. Der
Angeklagte ist bisher in zwei Fällen im Rahmen von aggressiven Handlungsweisen
auffällig geworden. Insbesondere das Verfahren 67 Ds 155 Js 484/04 = 31/05 des
Amtsgerichts Dortmund, in welchem es ebenfalls um eine Auseinandersetzung mit
einem Punker ging, zeigt, dass der Angeklagte zu Aggressionstaten neigt, wenn er auf
Menschen trifft, welche seinen Feindbildern entsprechen. Die vorliegende Straftat stellt
eine Steigerungsstufe dieser Verhaltensweise dar, so dass in ihr die schädliche
Neigung in einer Art und Weise zutage getreten sind, die die Verhängung einer
Jugendstrafe unerlässlich machen.
228
Bei der Festsetzung der Jugendstrafe hat sich die Kammer von folgenden Erwägungen
leiten lassen:
229
Zu Gunsten des Angeklagten fiel ins Gewicht, dass er hinsichtlich des äußeren
230
Geschehensablaufes im Wesentlichen geständig war und diese Tat auch in dem ihm
möglichen Maße bereut. Strafmildernd war auch zu berücksichtigen, dass es sich
letztlich um eine Spontantat handelte und die Eskalation der Situation vom Opfer mit zu
verantworten ist. Schließlich wirkte sich auch strafmildernd aus, dass durch den
genossenen Alkohol eine gewisse Enthemmung gegeben war, und, wovon die Kammer
ausgegangen ist, der Angeklagte, wie in den Tatsachenfeststellungen beschrieben, die
Situation möglicherweise subjektiv gefährlicher einschätzte als sie war. Zugunsten des
Angeklagten hat die Kammer auch berücksichtigt, dass er nur mit Eventualvorsatz
handelte. Strafmildernd wirkte sich auch aus, dass der Angeklagte nunmehr schon
mehrere Monate Untersuchungshaft
231
erlitten hat, welche nicht ohne Eindruck auf ihn gewesen sind. Zu Gunsten des
232
Angeklagten war auch zu berücksichtigen, dass er nunmehr erstmals den Straf-
233
vollzug kennen lernt, wobei er als Erstverbüßer besonders haftempfindlich ist,
234
Zu seinen Lasten war beider Bemessung der Jugendstrafe zu berücksichtigen,
235
dass er mit einem vollendeten Totschlag eines der schwersten Verbrechen ver-
236
wirklicht hat, welches das Strafgesetz kennt. Weiter fällt ins Gewicht, dass er ohne
triftigen Anlass zustach und die Umstände, die die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers
begründeten, auch erkannt hatte.
237
Weiter war zu berücksichtigen, dass er hinsichtlich seiner sozialen-sittlichen
Entwicklung erhebliche Defizite hat, die es gilt im Rahmen der Erziehung im
Jugendvollzug auszugleichen. Dieses wird, wie auch die Sachverständige Dr. I4
238
einschätzend angab, eine erhebliche Zeit in Anspruch nehmen, um seine festgefügten
Feindvorstellungen und Verhaltensmuster zu korrigieren. Darüber hinaus ist es auch
erforderlich, dass der Angeklagte seine schulischen Defizite aufholt und eine berufliche
Ausbildung absolviert, welche ihn nach seiner Haftentlassung Berufschancen bietet.
Diese Umstände tragen im Rahmen eines längerfristigen Erziehungskonzeptes dazu
bei, dass der Angeklagte ein integriertes Mitglied unserer Gesellschaft wird.
239
Unter Abwägung der für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände sowie der
Berücksichtigung des Erziehungsgedankens hat die Kammer unter Einbeziehung des
Urteils des Amtsgerichts Dortmund vom 17.03.2005 (67 Ds 155 Js 481/04 = 31/05) eine
einheitliche Jugendstrafe von sieben Jahren
240
für ausreichend, aber auch erforderlich angesehen, um einen gerechten
241
Schuldausgleich zu finden und dem Erziehungsgedanken genüge zu tragen.
242
Die Kostenentscheidung beruht auf § 74 JGG.
243