Urteil des LG Dortmund vom 04.02.2004

LG Dortmund: unfall, aufstehen, beweislast, heimbewohner, eingriff, aufwand, demenz, zustand, vorsicht, rollstuhl

Landgericht Dortmund, 3 O 255/03
Datum:
04.02.2004
Gericht:
Landgericht Dortmund
Spruchkörper:
3. Zivilkammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
3 O 255/03
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin nach einem
Streitwert von 7.367,73 €.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 %
des beizutreibenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
T a t b e s t a n d
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Die Klägerin nimmt die Beklagte aus übergegangenem Recht wegen eines
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Sturzes der bei ihr sozialversicherten N vom 14.09.2002
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in Anspruch.
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Die 1922 geborene Versicherte N lebt seit März 1999 im
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Altenheim T-Haus in J, das von der Beklagten be-
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trieben wird. Sie war sowohl zum Unfallzeitpunkt als auch heute als
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schwer pflegebedürftig in die Pflegestufe 2 eingruppiert.
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Frau N war bei ihrem Einzug im Heim desorientiert und dement.
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Weiterhin bestanden Einschränkungen im Stütz- und Bewegungsapparat,
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so dass sie Hilfe beim Aufstehen und Hinsetzen benötigte und auf Grund
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einer Wirbelsäulenerkrankung und einer Polyarthrose in Hüft- und Knie-
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gelenk im Wesentlichen nur noch mit Hilfe einer Pflegekraft gehen konnte.
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Im Juni 2002 erteilte das Amtsgericht Hamm auf Antrag der Beklagten die
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Genehmigung zur Anbringung eines Bettgitters für die Ruhezeiten.
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Die bei der Klägerin versicherte Frau N stürzte am 14.09.2002 um
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15.28 Uhr im Speisesaal beim Versuch, vom Stuhl aufzustehen. Dabei
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zog sie sich eine Schenkelhalsfraktur zu und wurde im Krankenhaus
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stationär behandelt.
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Die Klägerin forderte die Beklagte am 13.12.2002 schriftlich auf, die von
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ihr getragenen Aufwendungen in Höhe von 7.367,73 € auszugleichen.
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Sie behauptet, Frau N habe während ihres gesamten Heimaufent-
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haltes und auch noch zum Unfallzeitpunkt die Neigung gehabt, aufzu-
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stehen und wegzulaufen. Außerdem habe sie Schwierigkeiten gehabt,
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beim Sitzen das Gleichgewicht zu halten und sei auch schon des öfteren
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gestürzt.
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Sie beantragt,
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die Beklagte zu verurteilen, an sie 7.367,73 € nebst Zinsen in
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Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz seit dem 14.01.2003
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zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie stellt nicht in Abrede, dass Frau N zu Beginn ihres Aufenthalts
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im Altenheim dazu neigte, allein aufzustehen, behauptet dazu aber, dass
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sich diese Aufsteh- und Weglauftendenzen schon lange Zeit vor dem
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streitgegenständlichen Unfall nicht mehr gezeigt hätten. Im Gegenteil sei
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Frau N körperlich nicht mehr dazu in der Lage gewesen und habe
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zu allem angehalten werden müssen. Sie habe weder Schwierigkeiten
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beim Sitzen gehabt noch sei sie zuvor schon öfter gestürzt.
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Das Gericht hat Beweis erhoben durch uneidliche Vernehmung der
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Zeugen M, E, L, T2 und L2. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme
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wird auf das Sitzungsprotokoll vom 07.01.2004 Bezug genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
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Die Klage ist unbegründet.
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Der Klägerin steht kein Ersatzanspruch aus positiver Forderungsver-
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letzung des Heimvertrages in Verbindung mit §§ 278 BGB, 116 SGB X zu.
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Aus dem Heimvertrag der bei der Klägerin versicherten Frau N mit
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der Beklagten bestand die vertragliche Nebenpflicht, Frau Mertens vor
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vermeidbaren Schäden zu bewahren und Verletzungen auf Grund ihres
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körperlichen und geistigen Zustandes zu verhindern. Die Beweislast hin-
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sichtlich einer solchen Pflichtverletzung ist nach § 282 BGB a.F. nach
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Verantwortungsbereichen zu verteilen und trifft die Beklagte, wenn der
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Gläubiger in deren Herrschafts- und Organisationsbereich zu Schaden
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gekommen ist und die sie treffenden Vertragspflichten gerade dahin
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gingen, ihn vor solchen Schäden zu bewahren (vgl. dazu BGH VersR
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1993, Seite 310, OLG Dresden, NJW RR 200, Seite 761). Dies setzt
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voraus, dass sich der Schadensfall in einem vom Personal voll beherrsch-
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baren speziellen Gefahrenbereich des Trägers der Einrichtung zugetragen
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hat, was nicht allein deshalb anzunehmen ist, weil der Unfall im Heim ge-
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schehen ist, sondern zusätzlich im Zusammenhang mit speziellen nach
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dem Heimvertrag erforderlichen Pflege- und Vorsorgemaßnahmen stehen
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muss. Ein Sturz beim Aufstehen fällt grundsätzlich nicht darunter, sondern
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gehört zum allgemeinen Lebensrisiko. Anders wäre es lediglich, wenn der
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Heimbewohner derart erkrankt oder gebrechlich ist, dass er für das
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Pflegeheim erkennbar nicht mehr gefahrlos allein am Tisch sitzen kann
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oder vor den Gefahren des Aufstehens ohne pflegerische Hilfe gestützt
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werden muss. Erst dann fällt diese Gefahr in den vom Träger der Ein-
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richtung, die insoweit Sicherungsmaßnahmen treffen muss, zu verant-
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wortenden Gefahrenbereich. Nach diesen Grundsätzen verblieb es nach
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Auffassung des Gerichts bei der Beweislast der Klägerin, weil die Frage
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der Aufstehtendenzen und Schwierigkeiten beim Sitzen streitig ist.
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Letztlich kommt es auf die zwischen den Parteien strittige Frage der Be-
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weislastverteilung nicht an. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme
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steht für das Gericht fest, dass die Beklagte ihre Vertragspflichten zum
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Schutz der Bewohnerin nicht verletzt hat. Das Ausmaß der Schutz- und
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Vorsorgepflichten des Pflegeheims bestimmt sich nach dem individuellen
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Grad der Behinderung oder Gebrechlichkeit der zu pflegenden Person
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einerseits und dem zumutbaren personellen Aufwand des Pflegeheims
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andererseits, wobei abzuwägen und zu berücksichtigen ist, welche Ein-
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griffe unter Berücksichtigung der Würde und des Persönlichkeitsrechts
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des alten Menschen als verhältnismäßig zu beurteilen sind. Ein möglichst
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hohes Maß an Sicherheit darf nicht durch übermäßigen Eingriff in das
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Selbstbestimmungsrecht eines Betroffenen herbeigeführt werden (OLG
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Hamm 34 U 56/02 Urteil vom 04.02.2003).
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Ausgehend von diesen Grundsätzen liegt nach dem Ergebnis der Beweis-
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aufnahme keine schuldhafte Pflichtverletzung vor. Danach bestanden bei
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der zu pflegenden Person schon seit einem Zeitpunkt lange vor dem
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streitgegenständlichen Unfall keinerlei Aufsteh- und Weglauftendenzen
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mehr. Das Verhalten der Bewohnerin hatte sich durch die stark zuge-
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nommene körperliche Schwäche und Demenz vielmehr ins Gegenteil ver-
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kehrt. Sie ist schon lange Zeit vor dem streitgegenständlichen Sturz nicht
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mehr allein aufgestanden und weggegangen und hat auch keinerlei Ten-
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denzen gezeigt, dies, etwa durch geringe Vorwärtsbewegungen, zu ver-
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suchen. Zudem ist Frau N in der Zeit vor dem Unfall im Altenheim
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nie gestürzt und hatte entgegen den Behauptungen der Klägerseite auch
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keinerlei Schwierigkeiten, gerade und ohne Gleichgewichtsstörungen zu
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sitzen.
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All dies haben die Zeugen E, L, T2 und L2 überein-
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stimmend und glaubhaft, ausgesagt. Das Gericht hat keinerlei Anlass, an
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der Glaubhaftigkeit der Darstellungen der Pfleger und Pflegerinnen sowie
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des Betreuers L2 zu zweifeln. Die Aussagen sind in sich schlüssig
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und stimmen in allen wesentlichen Punkten überein. Soweit es geringe
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Abweichungen hinsichtlich der Art und Weise, wie Frau N zum Un-
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fallzeitpunkt zum Speisesaal gebracht wurde (Rollstuhl oder Rollator) gab,
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so ist dies zwei Jahre nach dem Unfallgeschehen verständlich und nach-
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vollziehbar. Es zeigt zudem, dass die Zeugen sich durchweg bemüht
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haben, sich zu erinnern und sich nicht im vorhinein abgesprochen haben.
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Die Zeugin M konnte zum Zustand der Frau N zum Zeit-
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punkt des Unfalls nichts sagen, so dass deren Aussage unergiebig war.
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Dass zu einem früheren Zeitpunkt Aufsteh- und Weglauftendenzen be-
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standen, haben die weiteren Zeugen ohne Umschweife eingeräumt und
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übereinstimmend zur weiteren Entwicklung erklärt, dass diese schnell
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nachgelassen und aufgehört hatten.
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Vor dem Hintergrund dieses Beweisergebnisses ist die Beklagte ihren
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Schutz- und Fürsorgepflichten voll nachgekommen. Es war für sie nicht
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vorhersehbar, dass Frau N entgegen ihren langjährigen Gewohn-
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heiten selbständig aufstehen würde. Frau N saß in einem festen
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Stuhl in sicherer Art und Weise am Tisch, der sich zudem in Sichtweite
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des Schwesternzimmers befand. Da sie ohne weiteres allein dort sitzen
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konnte und auch keine Aufstehtendenzen mehr gezeigt hatte, war es nach
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Auffassung des Gerichts im Spannungsverhältnis zwischen Freiheits- und
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Persönlichkeitsrechten des Heimbewohners nicht nur nicht zu bean-
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standen, die Bewohnerin nicht anzugurten oder sonstige Sicherungsmaß-
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nahmen zu ergreifen, sondern sogar geboten, von solchen Maßnahmen
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abzusehen. Wenn auch bei dementen Personen eine Restgefahr, dass sie
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unvermittelt aufstehen und stürzen, nie ausgeschlossen werden kann, so
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kann dies nicht dazu führen, dass man demente Heimbewohner aus
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äußerster Vorsicht und ohne konkreten Anhaltspunkt für solche Auf-
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stehtendenzen anschnallt oder in sonstiger Weise sichert. Wie die Zeugin
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M plastisch geschildert hat, würde dies lediglich dazu führen,
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dass die dementen Personen noch unruhiger und gefährdeter würden.
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Angesichts der Würde des alten Menschen kommt eine Fixierung nur bei
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greifbaren Anhaltspunkten für Gefahren und nicht bei einer ganz allgemein
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nicht ausschließbaren Restgefahr in Betracht. Eine völlige Sicherheit oder
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eine umfassende Beaufsichtigung durch Pflegekräfte kann nicht geleistet
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werden.
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Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91 Abs. 1, 709 ZPO.
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