Urteil des LG Bonn vom 14.01.2004
LG Bonn: kausalität, distorsion, fahrzeug, bagatellunfall, beweislast, beweismittel, sachschaden, geschwindigkeit, sicherheit, bremse
Landgericht Bonn, 5 S 210/03
Datum:
14.01.2004
Gericht:
Landgericht Bonn
Spruchkörper:
5. Zivilkammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
5 S 210/03
Vorinstanz:
Amtsgericht Bonn, 7 C 319/02
Schlagworte:
HWS-Distorsion, geringe Anstoßgeschwindigkeit
Normen:
§§ 286, 287 ZPO
Sachgebiet:
Recht (allgemein - und (Rechts-) Wissenschaften
Leitsätze:
Die lediglich psychisch vermittelte Kausalität zwischen einem Anstoß
und einer HWS-Distorsion kann bei einem Bagatellunfall, d.h. einem
Unfall mit geringer Anstoßintensität und geringen Auswirkungen,
grundsätzlich nicht dem Unfallgegner zugerechnet werden. Es handelt
sich insoweit um eine Verwirklichung des allgemeinen Lebensrisikos.
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Amtsgerichts Bonn vom
24.09.2003, Az.: 7 C 319/02 AG Bonn, wird kostenpflichtig
zurückgewiesen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
G r ü n d e :
1
I.
2
Die Kläger begehrt Schmerzensgeld sowie Ersatz von Haushaltshilfekosten im
Zusammhang mit einem Verkehrsunfall, der sich am 31.12.2001 gegen 12.30 Uhr in C
auf der L Straße ereignet hat. Die Haftung der Beklagten für die Unfallschäden ist dem
Grunde nach unstreitig.
3
Die Klägerin behauptet, sie habe bei dem Unfall eine HWS-Distorsion erlitten; sie sei
infolgedessen bis zum 14.01.2002 arbeitsunfähig gewesen und habe weitere 2 Monate
unter Beschwerden gelitten.
4
Das Amtsgericht hat zur Frage der Anstoßintensität Beweis erhoben durch Einholung
eines unfallanalytischen Sachverständigengutachens. Es hat sodann die auf Zahlung
von 1.124,00 € nebst Zinsen gerichtete Klage in vollem Umfang abgewiesen und dies
damit begründet, dass die Klägerin nicht den ihr obliegenden Beweis geführt habe, dass
5
der Unfall für die behaupteten Verletzungen ursächlich geworden sei.
Mit der Berufung wiederholt und ergänzt die Klägerin ihr erstinstanzliches Vorbringen.
Sie rügt, dass das Amtsgericht ihrem Antrag auf Vernehmung des erstbehandelnden
Arztes sowie auf Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens nicht
entsprochen habe. Die Beklagten beantragen unter Verteidigung des erstinstanzlichen
Urteils und unter Wiederholung ihres erstinstanzlichen Vorbringens die Zurückweisung
der Berufung.
6
Wegen der weiteren Einzelheiten wird gemäß § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO auf die
tatsächlichen Feststellungen im Urteil des Amtsgerichts Bonn vom 24.09.2003 sowie auf
die gewechselten Schriftsätze verwiesen.
7
II.
8
Die Berufung ist zulässig, insbesondere fristgerecht und den Anforderungen des § 513
ZPO entsprechend begründet worden. In der Sache hat sie jedoch keinen Erfolg, da das
Amtsgericht zu Recht die Klage in vollem Umfang abgewiesen hat.
9
Das Amtsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Klägerin die volle
Beweislast für das Vorliegen der Primärverletzung sowie die haftungsbegründende
Kausalität trägt, § 286 ZPO. Die Beweiswürdigung des Amtsgerichts, der zufolge die
Klägerin die Ursächlichkeit des Unfalls für die behaupteten Beschwerden nicht
nachgewiesen hat, ist nicht zu beanstanden.
10
Allerdings ist der Bericht des erstbehandelnden Arztes Dr. N vom 20.02.2002 nach
Auffassung der Kammer durchaus geeignet, Beweis für das Vorliegen einer HWS-
Distorsion und damit einer Körperverletzung zu erbringen. Er beruht zwar wesentlich auf
den subjektiven Angaben der Patientin bezüglich ihrer Schmerzen und Beschwerden,
enthält aber darüber hinaus auch objektive Befunde ("inspektorisch aufgehobene
Halslordose"; "erhebliche Steilstellung" der HWS). Der Beweiswert des Berichts wird
nicht dadurch geschmälert, dass die Klägerin im Verlauf des Verfahrens ihre Angaben
zum Zeitpunkt der Erstuntersuchung korrigiert hat, denn der Arzt selbst gibt an, dass die
erste Untersuchung am 31.12.2001 stattgefunden habe, die nächste Untersuchung
einschließlich Röntgenuntersuchung sodann am 04.01.2002. Eine zusätzliche
Vernehmung des Arztes war insoweit entbehrlich.
11
Das Amtsgericht ist jedoch rechtsfehlerfrei davon ausgegangen, dass die Klägerin
jedenfalls die Kausalität zwischen Unfallereignis und Primärverletzung nicht bewiesen
hat.
12
Zwar geht die Kammer davon aus, dass es keine schematische Grenze für die
Kollisionsgeschwindigkeitsdifferenz gibt, bei deren Unterschreiten eine HWS-Distorsion
generell ausgeschlossen ist. Aus der jüngsten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
zur sog. Harmlosigkeitsgrenze (BGH VersR 2003, 474) läßt sich jedoch ebenso wenig
folgern, dass statt dessen bei jeder noch so geringfügigen Anstoßgeschwindigkeit ein
Anschein für eine Kausalität spricht oder dass die Beweislast generell umgekehrt wird.
Immerhin sprechen mehrere gerichtsbekannte biomechanische Untersuchungen
dagegen, dass es einen solchen regelmäßigen Kausalzusammenhang bei geringer
Aufprallgeschwindigkeit gibt. Es verbleibt daher dabei, dass die Klägerin die volle
Beweislast für die haftungsbegründende Kausalität trägt (vgl. auch KG Berlin NJW
13
2000, 877; OLG Hamm NJW 2000, 878; LG Osnabrück VersR 2000, 1516, a.A. LG
Heidelberg DAR 1999, 75). Insoweit ist jedoch eine einzelfallbezogene Betrachtung
geboten, bei der eine Gesamtwürdigung sämtlicher Umstände (Unfallsituation, ärztliche
Diagnosen, zeitlicher Zusammenhang etc.) vorzunehmen ist.
Die einzelnen zu berücksichtigenden und vom Amtsgericht auch berücksichtigten
Aspekte reichen nach Auffassung der Kammer noch nicht aus, um diesen Beweis zu
erbringen: Für die haftungsbegründende Kausalität lassen sich hier zwar enge zeitliche
Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und den Beschwerden der Klägerin
anführen sowie die Tatsache, dass diese erstmals nach dem Unfall auftraten.
Andererseits ist allgemein bekannt, dass HWS-Beschwerden auch unabhängig von
traumatischen Ursachen bei einem Großteil der Bevölkerung vorkommen (vgl. OLG
Hamm DAR 1998, 392; LG Essen Schaden-Praxis 2000, 48).
14
Abgesehen davon kann – ohne dass dies eine schematische Anwendung der sog.
Harmloskeitsgrenze darstellt – die Anstoßgeschwindigkeit nicht unberücksichtigt
bleiben (vgl. Nothoff, VersR 2003, 1499 [1503]). Denn ein Unfall dieser Intensität ist
jedenfalls im allgemeinen nicht geeignet, die HWS zu schädigen. In den bereits
erwähnten wissenschaftlichen Untersuchungen wurde nachgewiesen, dass bei
kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderungen von bis zu 10 km/h allein unter
biomechanischen Gesichtspunkten grundsätzlich nicht von einer Verletzung der HWS
ausgegangen werden kann (vgl. Wessels/Castro, VersR 2000, 284 ff.; Becke u.a., NZV
2000, 225 ff.; s.a. OLG Nürnberg r+s 2003, 174 m.w.N.). Eine besondere
Aufprallsituation (besondere Körperhaltung oder Sitzposition, besondere
Kollisionsstellung der Fahrzeuge) oder sonstige besondere Umstände des Einzelfalls
hat die Klägerin nicht vorgetragen. Insofern erscheint eine physische Vermittlung einer
HWS-Schädigung unwahrscheinlich.
15
Insofern läßt sich nicht ausschließen, dass zwischen Unfallereignis und Beschwerden
lediglich eine psychisch vermittelte Kausalität bestand, die allerdings nur in
beschränktem Umfang dem Unfallgegner zugerechnet werden könnte. Eine Zurechnung
scheidet aus bei einem Bagatellunfall, d.h. einem Unfall mit geringer Anstoßintensität
und geringen Auswirkungen, sofern keine Ausnahmesituation (besondere
Schadensanlage) vorgetragen wird (vgl. OLG Hamm NZV 2003, 331) . Dies bedeutet,
dass sich bei einem leichten Auffahrunfall letztlich nur das allgemeine Lebensrisiko
verwirklicht (vgl. OLG Nürnberg r+s 2003, 174; Nothoff, VersR 2003, 1499 [1504]).). Für
den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass selbst bei Annahme einer psychisch
vermittelten Kausalität die geltend gemachten Beschwerden nicht den Beklagten
zugerechnet werden können. Da bei dem Unfallereignis lediglich ein Sachschaden in
Höhe von 640,02 € am Fahrzeug der Klägerin, kein Sachschaden dagegen am
Fahrzeug der Beklagten zu 1. entstanden ist und – wie bereits dargelegt – die
Anstoßintensität relativ gering war, handelte es sich um einen Bagatellunfall im oben
genannten Sinne. Die psychischen Reaktionen der Klägerin stünden daher in einem
Mißverhältnis zum Anlaß.
16
Es ist nicht als verfahrensfehlerhaft zu bewerten, dass das Amtsgericht den
erstbehandelnden Arzt nicht als sachverständigen Zeugen vernommen hat, da dieser
zur haftungsbegründenden Kausalität nichts aussagen könnte und insofern als
Beweismittel ungeeignet ist. Selbst wenn nach seiner Einschätzung der Anstoß (dessen
Intensität er selbst nicht wahrgenommen hat) geeignet gewesen sein sollte, HWS-
Beschwerden bei der Klägerin hervorzurufen, so wäre es ihm nicht möglich, andere
17
denkbaren Ursachen für diese Beschwerden mit Sicherheit auszuschließen.
Die gilt ebenso für den Antrag auf Einholung eines medizinischen
Sachverständigengutachtens. Auch ein Mediziner, der seine Untersuchung auf den
ärztlichen Bericht und etwaige weitere Angaben der Klägerin hierzu sowie das
unfallanalytische Gutachten stützen könnte, kann sich allenfalls dazu äußern, ob ein
Anstoß von bestimmter Intensität grundsätzlich geeignet ist, die eingetretenen
Beschwerden verursacht zu haben. Insoweit sind zwar Aussagen zur
Wahrscheinlichkeit, jedoch nicht zur konkreten Kausalität möglich. Wie der Kammer aus
anderen Verfahren und Veröffentlichungen bekannt ist, wird die reine Möglichkeit einer
Verursachung in solchen Fällen nicht ausgeschlossen, sondern vielmehr bejaht. Diese
Feststellung wäre jedoch ungeeignet, die konkrete Kausalität im vorliegenden Fall
nachzuweisen.
18
Schließlich ist es unerheblich, dass das Amtsgericht seinen Beweisbeschluss vom
10.03.2002 nicht vollständig ausgeführt hat, ohne im Urteil darauf einzugehen, warum
der Zeuge L nicht vernommen wurde. Dieser Fehler wirkt sich nicht aus, weil der Zeuge
lediglich bekunden sollte, dass die Klägerin nicht die Bremse getreten habe und
dadurch stärker angestoßen worden sei. Da die Kollisionsgeschwindigkeitsdifferenz
und die durch die Kollision ausgelösten Krafteinwirkungen auf das Fahrzeug und die
Klägerin jedoch in dem insoweit nicht angegriffenen Sachverständigengutachten
untersucht wurden, ist der Beweis bereits auf andere Weise erbracht, so dass das
Beweismittel hätte abgelehnt werden können (vgl. Greger in: Zöller, ZPO, 23. Aufl. 2002,
Vor § 284 Rn. 12).
19
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10 ZPO in entsprechender Anwendung,
713 ZPO.
20
Es bestand kein Anlass, die Revision zuzulassen, da die Rechtssache keine
grundsätzliche Bedeutung hat und weder die Fortbildung des Rechts noch die
Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des
Revisionsgerichts erfordern, § 543 Abs. 2 ZPO.
21
Berufungsstreitwert: 1.124,00 €
22