Urteil des LG Bonn vom 28.05.2008

LG Bonn: eltern, reiten, fahrtkosten, medizinische indikation, beratung, vergleich, verein, verkehrsunfall, mitgliedschaft, krankenkasse

Landgericht Bonn, 13 O 345/06
Datum:
28.05.2008
Gericht:
Landgericht Bonn
Spruchkörper:
13. Zivilkammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
13 O 345/06
Sachgebiet:
Recht (allgemein - und (Rechts-) Wissenschaften
Tenor:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 3.000,10 EUR nebst Zinsen
in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem
27.09.2006 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar, für den Kläger gegen
Sicherheitsleistung in Höhe von 120 Prozent des jeweils zu
vollstreckenden Betrages. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung in Höhe von 120 Prozent des aufgrund des Urteils
vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger Sicherheit in
derselben Höhe leistet.
Tatbestand:
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Die Mutter des Klägers verursachte und verschuldete mit ihrem Fahrzeug mit dem
amtlichen Kennzeichen SU – ## ### am 05.07.1997 um 09:55 Uhr in T auf der B 56
einen Verkehrsunfall. Die Beklagte trifft als Haftpflichtversicherer des Fahrzeuges der
Mutter des Klägers die vollständige Eintrittspflicht.
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Der im Zeitpunkt des Unfalls sechs Monate alte Kläger wurde bei diesem Unfall schwer
verletzt. Bei ihm wurde diagnostiziert: schwerste Tetraspastik mit ausgeprägter
Rumpfschwäche, inkomplette Facialisparese rechts, schwere psychomotorische
Retardierung, Blindheit, posttraumatische Epilepsie, assoziierte Verhaltensauffälligkeit
im Sinne einer regelmäßig nächtlichen Schlafstörung, Wahrnehmungsstörungen in allen
Bereichen, orofaciale Dysfunktion mit Schluckstörung, Dysarthrie, stark eingeschränkte
Lippen-Zungen-Beweglichkeit sowie fehlender Mundabschluss. Seit dem Unfall ist der
Kläger querschnittsgelähmt und ein absoluter Pflegefall. Es besteht keine Hoffnung auf
Besserung.
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In dem Rechtsstreit mit dem Aktenzeichen 13 O 160/01 waren bereits Ersatzansprüche
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des Klägers gegen die Beklagte Gegenstand, unter anderem ein Rentenanspruch für
die Pflege des Klägers. Der auf die Pflege des Klägers bezogene Klageantrag in Höhe
von insgesamt 4.589,00 DM (2.345,32 EUR) wurde seinerzeit mit dem tagtäglichen
Pflegeaufwand der Eltern von sieben Stunden pro Tag begründet (4.214,00 DM),
zusätzlich wurde ein Betrag von 100,00 DM pro Monat im Hinblick auf urlaubsbedingte
Mehrkosten sowie weitere Mehrkosten im Rahmen des Rentenanspruches geltend
gemacht.
Auf Vorschlag des Gerichts schlossen die Parteien einen Vergleich, mit dem die
materiellen Schäden des Klägers bis zum 28. Mai 2003 abgegolten wurden sowie
festgehalten wurde, dass die Beklagte dazu verpflichtet ist, alle weiteren Schäden aus
dem Verkehrsunfall zu erstatten, soweit nicht ein Übergang auf öffentlich rechtliche
Versicherungsträger erfolgt ist. Hinsichtlich des Pflegebedarfs wurde unter Ziffer 2 des
Vergleichs folgende Regelung getroffen:
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"Die Beklagte verpflichtet sich ferner, an den Kläger beginnend mit Monat Mai 2001
monatlich 2.200,00 EUR zur Abgeltung des Pflegebedarfs, zahlbar vierteljährlich
im Voraus zu zahlen. Insoweit besteht zwischen den Parteien Einvernehmen, dass
das Recht zur Abänderung der monatlichen Zahlung gem. § 323 ZPO bestehen
bleibt."
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Mit der Klage macht der Kläger nun weitere, nach dem 28.03.2003 entstandene
Positionen geltend. Im Einzelnen:
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Therapeutisches Reiten bis April 2006, insgesamt 2.770,60 EUR (Therapie: 7 x
85,00 EUR und 23 x 82,00 EUR; Mitgliedsbeitrag im Verein für Lebenshilfe: 75,00
EUR; Fahrtkosten: 129,60 EUR),
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Hilfsmittelüberprüfung und Beratung der Eltern beim Landschaftsverband S bis
erstes Quartal 2006, insgesamt 741,81 EUR (Rechnungen 9 x 67,41 EUR;
Fahrtkosten 134,40 EUR),
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Eigenanteile von insgesamt 2.237,13 EUR bezüglich der Unterbringung des
Klägers im Kinderheim anlässlich der jeweils etwa 14-tägigen Urlaubszeiten der
Eltern in den Jahren 2003 (1.067,69 EUR) und 2004 (1.169,44 EUR),
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Fahrtkosten in Höhe von 229,50 EUR im Hinblick darauf, dass der Kläger die
Sonderschule in E besucht
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Für die Teilnahme am Therapeutischen Reiten ist die Mitgliedschaft im Verein
Lebenshilfe C e.V. notwendig.
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Der Kläger behauptet, durch das Therapeutische Reiten lösten sich nach kurzer Zeit
seine Spastiken, es seien positive Effekte für die Muskulatur und die
Konzentrationsfähigkeit feststellbar. Die Fahrtstrecke, die vier Mal im Monat für das
Reiten anfällt, betrage hin und zurück 7,2 Kilometer. Es sei ein Kilometersatz von 0,15
EUR anzusetzen. Im Hinblick auf die Kosten für den Landschaftsverband S behauptet
der Kläger, dass die Hilfsmittelüberprüfung und die Beratung der Eltern, auch im
Hinblick auf die Überprüfung der Maßnahmen der Ärzte, erforderlich sei und von der
Krankenkasse nicht erstattet werde. In diesem Zusammenhang seien Fahrtkosten für
896 km angefallen. Die Kosten für das Pflegeheim im Zusammenhang mit dem Urlaub
der Eltern seien nicht durch die Ziffer 2 des Vergleichs in dem Rechtsstreit 13 O 160/01
abgegolten; dort sei nur die persönliche Pflegeleistung der Eltern des Klägers geregelt
worden. Die Fahrtkosten im Zusammenhang mit der Sonderschule wären nicht
erforderlich, wäre der Kläger als gesundes Kind eingeschult worden. Es handele sich
insgesamt um 17 Fahrten zu je zwei Mal 45 km, insgesamt 1.530 km.
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Der Kläger beantragt,
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die Beklagte zu verurteilen, an ihn 5.979,04 EUR nebst fünf Prozentpunkte Zinsen
über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Der Beklagte behauptet, das Therapeutische Reiten sei medizinisch nicht notwendig, da
nach medizinischen Erkenntnissen die Eignung des Therapeutischen Reitens dazu, die
Krankheit zu heilen, zu lindern oder ihrer Verschlimmerung entgegenzuwirken nicht
feststehe. Die Kosten für den Landschaftsverband S seien nicht ersatzfähig, weil
Hilfsmittelüberprüfung und Beratung eine Aufgabe der Krankenkasse sei. Die Kosten für
die Heimunterbringung im Zusammenhang mit dem Urlaub der Eltern sei durch die
Regelung der Ziffer 2 des Vergleichs im Rechtsstreit 13 O 160/01 abgegolten, da hier
der gesamte Pflegebedarf geregelt worden sei. Hilfsweise trägt die Beklagte hierzu vor,
dass jedenfalls der in dem Vergleich geregelte monatliche Zahlbetrag für die
Urlaubszeit zu kürzen sei, da in dieser Zeit keine persönliche Pflegeleistung erfolge.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
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Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen
Sachverständigengutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. med. G R O. Wegen des
Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sachverständigengutachten Bezug
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genommen. Die Akte des Landgerichts Bonn mit dem Aktenzeichen 13 O 160/01 wurde
zu Informationszwecken beigezogen.
Entscheidungsgründe:
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Die Klage ist nur zum Teil begründet.
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Dem Kläger steht gegen die Beklagte ein Anspruch in Höhe von 3.257,23 EUR gem. § 3
Nr. 1 PflVG in Verbindung mit §§ 249, 843 BGB zu.
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Die vollständige Haftung der Beklagten dem Grunde nach für die Schäden, die dem
Kläger im Zusammenhang mit dem Verkehrsunfall vom 05.07.1997 entstanden sind, ist
zwischen den Parteien unstreitig.
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Die Beklagte hat die Kosten des Therapeutischen Reitens in Höhe von insgesamt
2.770,60 EUR gem. § 843 Abs. 1 BGB zu erstatten. Bei der Vermehrung der Bedürfnisse
im Sinne des § 843 Abs. 1 BGB handelt es sich um dauernde und regelmäßig
anfallende Mehraufwendungen mit dem Zweck, die Nachteile auszugleichen, die dem
Verletzten infolge dauernder Beeinträchtigung seines körperlichen Wohlbefindens
entstehen; abzugrenzen sind diese Mehraufwendungen von den allgemeinen
Lebenshaltungskosten (Palandt-Sprau, BGB, § 843 Rn. 3). Eine Fallgruppe der
vermehrten Bedürfnisse in diesem Sinne sind die Aufwendungen für solche
medizinische Behandlungen, die nicht der Heilung, sondern der langfristigen Linderung
bzw. der Verstetigung des Leidens dienen, zum Beispiel die Kosten von Therapien,
soweit die jeweilige Maßnahme medizinisch indiziert ist (Münchener Kommentar-
Wagner, BGB, § 843 Rn. 63).
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Aufgrund der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass das
Therapeutische Reiten eine medizinisch indizierte Therapiemaßnahme zur Linderung
und Verstetigung der Leiden des Klägers darstellt. Der Sachverständige Prof. Dr. med.
O hat überzeugend und nachvollziehbar dargelegt, dass das Therapeutische Reiten den
Fortgang der Unfallfolgen zwar nicht stoppen und damit auch weitere Operationen des
Klägers nicht entbehrlich machen kann. Jedoch ist das Therapeutische Reiten nach den
Ausführungen des Sachverständigen aus medizinischer Sicht empfehlenswert und
damit als medizinisch indizierte Behandlung als unterstützende Therapie anzusehen.
Laut Sachverständigen verfestigt das Therapeutische Reiten die eingetretene
Entwicklung des Klägers und fördert ihren Fortgang. Ein Erfolg des Reitens – so der
Sachverständige weiter – ist, dass der Kläger seinen Kopf kontrollieren und
eingeschränkt steuern kann, auch besteht ein physiologischer Effekt auf die
Wirbelsäule.
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Soweit die Beklagte im Hinblick auf das Sachverständigengutachten einwendet, die
Ausführungen des Sachverständigen begründeten keine medizinische Notwendigkeit
des Therapeutischen Reitens, insbesondere sei nicht ersichtlich, dass sich ein über die
gesundheitsfördernden und positiven Wirkungen des Reitens auf einen gesunden
Menschen hinaus positiver Einfluss einstelle, verfängt dies nicht. Denn zum einen ist der
Hinweis darauf, dass eine therapeutische Maßnahme auch bei gesunden Menschen
positive Wirkungen hinterlässt, kein Grund dafür, an der medizinischen Notwendigkeit
der Maßnahme zu zweifeln. Für viele therapeutische Maßnahmen gilt, dass sie auch für
gesunde Menschen gut – wenn auch nicht notwendig – sind. Das hat aber nichts damit
zu tun, dass solche therapeutischen Maßnahmen auf der anderen Seite für verletzte
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oder behinderte Menschen nicht nur gut, sondern vor allem medizinisch notwendig und
indiziert sind. Darüber hinaus hat der Sachverständige festgestellt, dass das
Therapeutische Reiten bei dem Kläger zu therapeutischen Erfolgen führt, insbesondere
als unterstützende Maßnahme zur Verhinderung von Fehlhaltungen im Hinblick auf die
Wirbelsäule und die Rumpfballance.
Neben den Therapiekosten (2.566,00 EUR) sind auch die Kosten für die Mitgliedschaft
in dem Verein Lebenshilfe C e.V. (75,00 EUR) ersatzfähig, weil die Mitgliedschaft in
dem Verein Voraussetzung für die Teilnahme am Therapeutischen Reiten ist. Ferner hat
die Beklagte in diesem Zusammenhang die Fahrtkosten (129,60 EUR) zu erstatten.
Soweit die Beklagte diesbezüglich die Anzahl der Fahrten und die Länge der Strecken
bestreitet, ist dies als unsubstantiierter Vortrag unbeachtlich. Der Kläger hat substantiiert
vorgetragen, wie viele Fahrten angefallen sind und um welche Strecke es sich handelt.
Angesichts dessen reicht ein pauschales Bestreiten vonseiten der Beklagten nicht aus;
diese hätte vielmehr vortragen müssen, um wie viele Fahrten und um welche Strecke es
sich aus ihrer Sicht handelt.
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Der Kläger hat allerdings keinen Ersatzanspruch im Hinblick auf die Kosten der
Hilfsmittelüberprüfung und Beratung beim Landschaftsverband S . Insofern hat der
Kläger nicht überzeugend dargelegt, inwieweit diese Leistungen über dasjenige, was
vonseiten der Krankenkasse geleistet wird, erforderlich sind. Auch in diesem
Zusammenhang reicht es insbesondere nicht, dass es sich um Leistungen handelt, die
dem Kläger zugute kommen. Vielmehr kommt es auch in diesem Zusammenhang auf
eine medizinische Indikation oder auf eine anderweitige Notwendigkeit an. Hierzu hat
der Kläger nichts vorgetragen. Darüber hinaus ist nicht ersichtlich, inwieweit eine
Überprüfung der Hilfsmittel oder eine Beratung der Eltern nicht durch die den Kläger
behandelnden Ärzte erfolgt bzw. erfolgen kann. Soweit es auch um die Kontrolle der
Maßnahmen der Ärzte geht, ist nicht ersichtlich, warum es den Eltern des Klägers nicht
möglich sein sollte, bei Vorliegen von Zweifeln an diesen Maßnahmen andere Ärzte zu
konsultieren.
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Auch hat der Kläger keinen über die Zahlungen nach der Ziffer 2 des Vergleiches in
dem Rechtsstreit 13 O 160/01 hinausgehenden Anspruch gegen die Beklagte gemäß §
843 Abs. 1 BGB im Hinblick auf die Kosten für die urlaubsbedingten Heimaufenthalte
des Klägers. Der Wortlaut des Vergleichstext ist insoweit gemäß §§ 133, 157 BGB so
auszulegen, dass unter "Pflegebedarf" nicht nur der Aufwand für die alltägliche Pflege
durch die Eltern des Klägers, sondern auch solche Mehrkosten erfasst sind, die durch
temporäre urlaubsbedingte Abwesenheiten der Eltern und der damit verbundenen
Heimaufenthalte des Klägers entstehen. Dem Wortlaut selbst – "Pflegebedarf" – lässt
sich nicht entnehmen, ob damit nur die alltäglichen Pflegeaufwendungen gemeint sind
oder aber auch noch darüber hinaus gehende Aufwendungen. Entscheidend für die
Auslegung ist jedoch der Umstand, dass sich die Ziffer 2 des Vergleichs auf den
Klageantrag zu 2 in dem Rechtsstreit 13 O 160/01 bezieht. Diesen Klageantrag hatte der
Kläger seinerzeit zu einem Anteil von 100,00 DM im Hinblick auf urlaubsbedingte
Mehrkosten begründet. Damit waren diese Mehrkosten als Teil der geltend gemachten
monatlichen Pflegerente streitgegenständlich. Mit der Ziffer 2 des Vergleiches ist dieser
Klageantrag erledigt worden; schon dies spricht dafür, dass die urlaubsbedingten
Mehrkosten durch den Vergleich abgegolten sind. Darüber hinaus ist der Vergleich in
Ansehung des vom Kläger geltend gemachten Anspruches geschlossen worden. Auch
dieser Umstand spricht dafür, dass die Ziffer 2 des Vergleiches nach dem Willen der
Parteien auch die urlaubsbedingten Mehrkosten erfassen sollte.
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Schließlich hat die Beklagte dem Kläger die Kosten für die Fahrten zur Sonderschule in
E in Höhe von 229,50 EUR zu erstatten. Insoweit hat der Kläger schlüssig dargelegt,
dass Fahrtkosten im Hinblick auf den Schulbesuch nicht anfielen, wenn er gesund wäre,
also keine gesundheitlichen Schäden durch den Verkehrsunfall erlitten hätte. Dies hat
die Beklagte nicht substantiiert bestritten, so dass die Fahrtkosten gerade infolge
dauernder Beeinträchtigung des Wohlbefindens des Klägers entstanden sind und somit
als vermehrte Bedürfnisse im Sinne des § 843 Abs. 1 BGB zu werten sind. Auch die
Höhe der Fahrtkosten – insbesondere die Länge der Strecke sowie die Anzahl der
Fahrten – hat die Beklagte nicht hinreichend substantiiert bestritten.
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Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsstreits folgt aus § 92 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils beruht auf §§ 708 Nr.
11, 709, 711 ZPO.
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Streitwert: 5.979,04 EUR.
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