Urteil des LG Bochum vom 18.08.2010

LG Bochum (zpo, höhe, akte, beschwerde, abfindung, einkommen, bezug, antrag, schuldner, verbindung)

Landgericht Bochum, I-7 T 433/09
Datum:
18.08.2010
Gericht:
Landgericht Bochum
Spruchkörper:
7. Zivilkammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
I-7 T 433/09
Vorinstanz:
Amtsgericht Bochum, 80 IN 948/04
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Beschwerde der Schuldnerin wird der Beschluss des
Amtsgerichts Bochum vom 21.07.2009 abgeändert; der Schuldnerin ist
gemäß § 850 i ZPO n. F. die Abfin-dung in Höhe von 2.834,66 € netto
pfandfrei zu belassen.
Der Wert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.834,66 € festgesetzt.
G r ü n d e :
1
I.
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Mit Beschluss vom 21.09.2004 eröffnete das Amtsgericht wegen Zahlungsunfähigkeit
das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin.
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Mit Schriftsatz ihrer Verfahrensbevollmächtigten vom 28.05.2009 beantragte die
Schuldnerin ihr eine Abfindung aus dem vor dem Arbeitsgericht Dortmund
geschlossenen Vergleich vom 09.03.2009 in Höhe von 2.834,66 € netto nach § 850 i
Abs. 1 ZPO als unpfändbar zu belassen. Zur Begründung trug die Schuldnerin vor, sie
erhalte die Abfindung zum 28.02.2009 wegen Nichtverlängerung ihres befristeten
Arbeitsverhältnisses, aus dem sie einen monatlichen Nettolohn in Höhe von 688,11 €
bezogen habe. Ab dem 01.03.2009 werde sie hilfebedürftig nach dem SGB II.
Angesichts ihres fortgeschrittenen Lebensalters (Jahrgang 1957) sei auch nicht zu
erwarten, dass sie innerhalb der nächsten 11 Monate eine neue adäquate Arbeitsstelle
finde. In der Anlage zu ihrem Schriftsatz überreichten die Verfahrensbevollmächtigten
der Schuldnerin eine Bescheinigung ihres früheren Arbeitgebers vom 27.01.2009 über
die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 28.02.2009, eine Verdienstabrechnung
für den Monat April 2009 sowie einen zwischen der Schuldnerin und ihrem früheren
Arbeitgeber vor dem Arbeitsgericht Dortmund geschlossenen Vergleich vom
09.03.2009. Ziffer 2 des Vergleichs enthält die Verpflichtung des früheren Arbeitgebers
der Schuldnerin, an sie für den Verlust ihres Arbeitsplatzes nach den §§ 9, 10
Kündigungsschutzgesetz eine Abfindung in Höhe von 3.340,00 € brutto zu zahlen. Zu
diesen und den weiteren Anlagen des Schriftsatzes wird auf Blatt 348 - 355 der Akte
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verwiesen.
Unter dem 09.06.2009 überreichte die Schuldnerin die Erklärung über ihre persönlichen
und wirtschaftlichen Verhältnisse, zu deren Einzelheiten auf Blatt 363 - 375 Bezug
genommen wird. Mit Schreiben vom 22.06.2009 teilte der Insolvenzverwalter mit, es
bestehe ein ungedeckter Bedarf der Schuldnerin ab dem 09.10.2009 in Höhe von
447,60 €. Es bestünden keine Bedenken, der Schuldnerin die Abfindung zu belassen,
sofern sie keine anderen Lohnersatzleistungen erhalte.
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Mit Beschluss vom 21.07.2009 wies das Amtsgericht den Antrag der Schuldnerin vom
28.05.2009 zurück. Zur Begründung führte es aus, es habe nicht geprüft werden können,
ob überhaupt noch ein Anspruch bestehe. Auch sei der notwendige Unterhalt bis zum
09.10.2009 durch eigene Einnahmen gedeckt, ab dem 09.10.2009 könne
Arbeitslosengeld II bewilligt werden, so dass die Abfindung zur Deckung des
notwendigen Unterhalts nicht erforderlich sei. Zu den Einzelheiten des Beschlusses
wird auf Blatt 384 ff. der Akte verwiesen.
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Gegen den Beschluss des Amtsgerichts legte die Schuldnerin mit Schriftsatz ihrer
Verfahrensbevollmächtigten vom 28.07.2009, am selben Tage bei Gericht eingegangen,
sofortige Beschwerde ein. Unter dem 20.08.2009 wiesen die
Verfahrensbevollmächtigten der Schuldnerin darauf hin, dass die Schuldnerin
Arbeitslosengeld I erhalte. Ferner reichten sie eine Ablichtung des Mietvertrages der
Schuldnerin vom 31.07.2006, einen Kontoauszug von Mai 2009 über den Bezug von
Kindergeld, eine Ablichtung des Bescheids der deutschen Rentenversicherung
Westfalen vom 03.06.2008, eine Ablichtung des Bescheids der Bundesagentur für
Arbeit vom 30.03.2009, eine Jahresrechnung für 2008 über Stromlieferungen sowie eine
Rechnung vom 14.03.2008 über den Bezug von Heizöl zur Akte. Zu den überreichten
Unterlagen im Einzelnen wird auf Bl. 391 - 406 der Akte verwiesen.
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Mit Nichtabhilfebeschluss vom 24.08.2009 legte das Amtsgericht die Sache der Kammer
zur Entscheidung vor.
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Mit Verfügung vom 04.09.2009 gab die Kammer den Verfahrensbeteiligten Gelegenheit
zur ergänzenden Stellungnahme. Unter dem 20.05.2010 gab die Kammer der
Schuldnerin auf, aktuelle Lohn-/Gehaltsabrechnungen bzw. Bescheide der
Arbeitsagentur in Ablichtung zur Akte zu reichen. Ferner wurde sie gebeten, mitzuteilen,
ob ihre Kinder noch in ihrem Haushalt leben, ob sie für die Kinder noch Kindergeld
beziehe, ob diese ggfls. eigenes Einkommen erzielen, und ob sich im Hinblick auf die
Kosten für Unterkunft und Heizung sowie die Witwenrente im Verhältnis zum zuletzt
eingereichten Bescheid vom 03.06.2008 Änderungen ergeben hätten. Die
Verfahrensbevollmächtigten der Schuldnerin teilten unter dem 25.06.2010 mit, dass
beide Kinder der Schuldnerin noch in ihrem Haushalt leben würden, dass die
Schuldnerin für ihre Tochter T noch Kindergeld beziehe und dass beide Kinder
Halbwaisenrente erhalten würden. Als Anlage zu ihrem Schriftsatz reichten sie eine
Ablichtung des Mietvertrages der Schuldnerin über eine monatliche Gesamtmiete in
Höhe von 490,00 €, eine Rechnung vom 31.12.2009 über Heizöl in Höhe von 398,41 €,
einen Bescheid der deutschen Rentenversicherung Westfalen vom 21.05.2010 über
eine monatliche Rente der Schuldnerin in Höhe von 445,24 €, Lohnabrechnungen für
die Monate Januar bis April 2010 sowie Mitteilungen der deutschen Rentenversicherung
Westfalen über die Halbwaisenrente der Kinder (je 173,48 €) zur Akte. Zu dem
Schriftsatz und seinen Anlagen im Einzelnen wird auf Bl. 422 - 439 der Akte Bezug
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genommen.
II.
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1.
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Die Beschwerde der Schuldnerin ist nach § 36 Abs. 1 Satz 2 InsO in Verbindung mit §
793 ZPO statthaft und auch im Übrigen gemäß den §§ 567, 569 ZPO zulässig. Nach §
36 Abs. 1 Satz 2, Abs. 4 Satz 1 InsO ist für die Bestimmung gem. § 850 i ZPO das
Insolvenzgericht zuständig. In diesen Fällen entscheidet das Insolvenzgericht kraft
besonderer Zuweisung funktional als Vollstreckungsgericht, so dass sich nach
mittlerweile gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der Rechtsmittelzug
nach allgemeinen vollstreckungsrechtlichen Vorschriften richtet (vgl. BGH, ZVI 2007, 78;
WM 2004, 834; ZIP 2006, 340). Aus diesem Grund ist § 793 ZPO, wonach gegen die
eine mündliche Verhandlung nicht erfordernde Entscheidung über die Erinnerung die
sofortige Beschwerde statthaft ist, vorrangig gegenüber § 6 Abs. 1 InsO (vgl. auch
Beschluss der 10. Zivilkammer vom 26.02.2007, 10 T 72/06).
12
2.
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Die zulässige sofortige Beschwerde ist auch begründet.
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a)
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Da es sich bei der Abfindung nicht um eine Zahlung laufenden Einkommens handelt,
hat eine Entscheidung darüber, ob sie ganz oder teilweise freizugeben ist, nach den
§§ 36 Abs. 4 Satz 1, Abs. 1 Satz 2 InsO in Verbindung mit § 850 i ZPO zu erfolgen. Da
die Norm des § 850 i ZPO auch im Insolvenzverfahren anzuwenden ist, fällt zunächst
der Abfindungsanspruch in die Masse und ist erst danach auf Antrag des Schuldners
durch Beschluss zur Sicherung des Existenzminimums freizugeben. Gemäß § 850 i
Abs. 1 ZPO n. F. (in Kraft getreten zum 01.07.2010, Artikel 10 des Gesetzes zur Reform
des Kontopfändungsschutzes vom 07.07.2009, Bundesgesetzblatt I, Nr. 39, 1707, 1712),
ist dem Schuldner während eines angemessenen Zeitraums so viel zu belassen, als
ihm nach freier Schätzung des Gerichts verbleiben würde, wenn sein Einkommen aus
laufendem Arbeits- oder Dienstlohn bestünde. Hierbei sind die wirtschaftlichen
Verhältnisse des Schuldners, insbesondere seine sonstigen Verdienstmöglichkeiten frei
zu würdigen; der Antrag ist insoweit abzulehnen, als überwiegende Belange des
Gläubigers entgegenstehen.
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b)
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In Rechtsprechung und Literatur war bislang umstritten, wie der notwendige Unterhalt im
Sinne des § 850 i ZPO a. F. zu bestimmen war. Nach einer Auffassung sollte die in §
850 Abs. 1 Satz 3 ZPO a. F. bestimmte Obergrenze regelmäßig Ausgangspunkt für die
Bestimmung des notwendigen Unterhalts sein. Dem Schuldner war danach also
regelmäßig so viel zu belassen, wie ihm verbliebe, würde er ein Arbeitseinkommen
nach § 850 ZPO beziehen (LG Stuttgart, InVo 2006, 63 f. mit weiteren Nachweisen).
Nach anderer Auffassung und auch der bisherigen Rechtsprechung der Kammer (vgl.
OLG Düsseldorf, Rechtspfleger 1979, 469; LG Wuppertal, Beschluss vom 29.12.2000, 6
T 679/00) war bislang Grundlage und zugleich unterste Grenze des notwendigen
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Unterhalts das, was dem Schuldner und den nach § 850 d Abs. 1 Satz 1 ZPO a. F.
bevorrechtigten Unterhaltsgläubigern wegen ihrer dort angegebenen Ansprüche nach
SGB XII als laufende Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren wäre. Der notwendige
Lebensunterhalt des Schuldners entsprach damit dem des § 850 d Abs. 1 Satz 2 ZPO,
der auch für die Ermittlung des individuellen Bedarfs nach § 850 f Abs. 1 a) ZPO
maßgeblich ist. Hierfür sprach der Wortlaut der Norm, der mit der in § 850 d ZPO
gewählten Fassung übereinstimmte. Darüber hinaus wurde auch aus der Obergrenze in
§ 850 i Abs. 1 Satz 3 gefolgert, dass eine grundsätzliche Orientierung an den
Pfändungsfreigrenzen des § 850 c ZPO nicht gewollt sein könne (LG Heilbronn, JurBüro
2003, 157; LG Köln, Beschluss vom 24.05.2006, 10 T 77/06, Zöller/Stöber, ZPO, 25.
Aufl., § 850 i Rn. 2). Der Pfändungsschutz von nicht wiederkehrend zahlbarer Vergütung
war zwar an den des laufenden Arbeits- oder Dienstlohns angelehnt. Von einer
Gleichstellung des Pfändungsschutzes von nicht wiederkehrend zahlbaren
Vergütungen mit laufendem Arbeits- und Dienstlohn wurde aufgrund des Wortlauts nach
bislang herrschender Auffassung nicht ausgegangen. Der Wortlaut des § 850 i Abs. 1
ZPO stellt nunmehr nach der Neufassung jedoch nicht mehr auf den notwendigen
Unterhalt ab. Auch ist dasjenige, was dem Schuldner nach freier Schätzung des
Gerichts verbleiben würde, wenn sein Arbeitseinkommen aus laufendem Arbeits- oder
Dienstlohn bestünde, nicht mehr wie im bisherigen Satz 3 der Vorschrift als Obergrenze
ausgestaltet. Zweck der Neufassung des § 850 i ZPO ist die Gleichbehandlung aller
Einkunftsarten des Schuldners. Zu belassen ist ihm dabei so viel, als ihm nach freier
Schätzung des Gerichts bei Einkommen aus laufendem Arbeits- oder Dienstlohn
verbleiben würde. Dies bestimmt sich nach den §§ 850 ff. ZPO, d. h. u. a. bei der
Vollstreckung von gewöhnlichen Geldforderungen nach § 850 c ZPO, bei
Unterhaltsansprüchen nach § 850 d ZPO (vgl. Zöller/Stöber, ZPO, 28. Aufl., Anhang zu
§ 850 k Rn. 2).
Bestünde das Einkommen der Schuldnerin aus laufendem Arbeits-/Dienstlohn, ergäbe
sich nach § 850 c ZPO Folgendes, wobei Maßstab dasjenige an Einkünften ist, was die
Schuldnerin aktuell erhält:
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Die Schuldnerin verfügt nach den zur Akte gereichten Verdienstbescheinigungen
derzeit über ein monatliches Nettoeinkommen von 532,75 € (zuletzt April 2010). Darüber
hinaus erhält sie nach dem zur Akte gereichten Bescheid der deutschen
Rentenversicherung Westfalen vom 21.05.2010 eine Hinterbliebenenrente in Höhe von
445,24 €. Rechnet man den Abfindungsbetrag von insgesamt 2.834,66 € netto auf 12
Monate um, ergibt sich ein Betrag von monatlich 236,22 €. Danach steht der
Schuldnerin für die Dauer von 12 Monaten ein monatlicher Betrag in Höhe von
insgesamt 1.214,21 € zur Verfügung. Dafür, dass sie vor Ablauf von 12 Monaten höhere
Einkünfte erzielen wird, bestehen keine Anhaltspunkte.
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Gemäß Anhang zur Anlage 1 zu § 850 c ZPO ergibt sich bei einem Nettoeinkommen
von 1.214,21 € und zwei zu berücksichtigenden unterhaltsberechtigten Personen kein
pfändbarer Betrag, so dass dem Antrag der Schuldnerin, ihr 2.834,66 € pfandfrei zu
belassen, zu entsprechen war. Der Abfindungsbetrag wäre der Schuldnerin aber selbst
unter Zugrundelegung des notwendigen Unterhalts gemäß § 850 d ZPO in Verbindung
mit dem Recht der Hilfe zum Lebensunterhalt (§ 28 SGB XII in Verbindung mit der
Regelsatzverordnung NRW) und unter Berücksichtigung von zwei in ihrem Haushalt
lebenden Kindern sowie der Kosten für Unterkunft und Heizung als pfändungsfrei zu
belassen gewesen.
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III.
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Eine Kostenentscheidung ist wegen des Erfolgs der Beschwerde entbehrlich. Die
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Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus den §§ 47 GKG, 3 ZPO.
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