Urteil des LG Bielefeld vom 09.10.2003

LG Bielefeld: bedingte entlassung, persönliche anhörung, bewährung, amtspflicht, flucht, therapie, gefahr, erbengemeinschaft, psychologe, herbst

Landgericht Bielefeld, 2 O 552/02
Datum:
09.10.2003
Gericht:
Landgericht Bielefeld
Spruchkörper:
2. Zivilkammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
2 O 552/02
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger haben die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Kläger können die
Vollstreckung abwenden durch Sicherheitsleistung in Höhe von
1.400,00 €, sofern nicht das beklagte Land vor der Vollstreckung in
dieser Höhe Sicherheit leistet.
Die Kläger begehren von dem beklagten Land die Erstattung der Beerdigungskosten für
ihre Geschwister und Eltern im Wege des Schadensersatzes. Sie begründen dies mit
dem Vorwurf der Amtspflichtverletzung durch die Leitung der Justizvollzugsanstalt
Bielefeld-Senne. Dem liegt der nachfolgende Sachverhalt zugrunde.
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Der bereits als Jugendlicher und Heranwachsender erheblich straffällig gewordene A,
geboren am 02. Juli 1942 in Bochum, wurde am 18. April 1974 wegen Mordes in
Tateinheit mit versuchtem schweren Raub, versuchter räuberischer Erpressung,
Notzucht in zwei Fällen, davon ein Mal in Tateinheit mit räuberischer Erpressung, vom
Landgericht Aachen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. In der Folgezeit
befand sich A. im Strafvollzug. Im Anschluß an die Gesetzesänderung, die auch für zu
lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilte die Möglichkeit der Strafaussetzung zur
Bewährung einführte, legte die Strafvollstreckungskammer beim Landgericht Kleve mit
Beschluss vom 11. Mai 1993 fest, dass die Schuldschwere eine Vollstreckung von 24
Jahren gebiete, was einem Vollzug bis Mitte des Jahres 1997 entsprach. Nach der
Gesetzeslage stellte dies keine Mindestdauer der Verbüßung dar, vielmehr konnte der
Verurteilte auch schon vorher einen Antrag auf bedingte Entlassung stellen.
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Unter dem 08. November 1984 und 22. Oktober 1987 wurde A. sozialprognostisch
beurteilt. Am 27.07.1989 begutachtete der Kriminalpsychiater Prof. C. die
Verantwortbarkeit von Vollzugslockerungen. Er kam zu dem Ergebnis, dass von A. mit
an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit schwere Straftaten nicht mehr zu erwarten
seien. Nach einer weiteren Exploration empfahl der Leiter der Justizvollzugsanstalt Köln
am 27. Juli 1989 Vollzugslockerungen als bedenkenlos.
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Im Rahmen eines Hafturlaubs wurde A. in der Nacht vom 11. Februar 1990 erneut
straffällig. Zusammen mit einem Mithäftling beabsichtigte er, einen Hafturlaub zur Flucht
zu nutzen. Er besorgte für sich und seinen Mitgefangenen zwei Gaspistolen mit
Munition, ein Elektroschockgerät, eine Handfessel und ein Messer. Beide
beabsichtigten, mit einem zu entwendenden PKW in die Niederlande zu fahren und sich
nach Tankstellenüberfällen in entfernteres Ausland abzusetzen. In der Nacht zum 11.
Februar 1990 begab sich A. nach B. Dort sprach er gegen 0.05 ein siebzehnjähriges
Mädchen an und forderte es zum Mitkommen auf. Er hielt ihm eine Gaspistole vor und
faßte es am Arm. Die Überfallene schrie, er solle sie loslassen. A. ließ daraufhin von ihr
ab. Die Tat wurde mit einer Verurteilung zu fünf Monaten Gesamtfreiheitsstrafe wegen
Bedrohung und Nötigung geahndet, die A. bis zum 07.09.1991 in Unterbrechung der
lebenslangen Freiheitsstrafe verbüßte.
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Im Jahre 1993 - A. befand sich zu dieser Zeit ca. 19 Jahre ununterbrochen im
Strafvollzug - erwog die Vollzugskonferenz der JVA Geldern die Verlegung A.s in den
offenen Strafvollzug. Es kam zu gutachterlichen Stellungnahmen, so auch wieder
seitens des Kriminalpsychiaters Prof. C.. Dieser äußerte sich unter anderem zu der
Straftat A.s während des Hafturlaubs am 11. Februar 1990. Unter dem 14.06.1993
schreibt Prof. C. (Band VIII der Gefangenen-Personalakten) unter anderem:
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"Dass Herr A. im Februar 1990 seinen Urlaub mißbraucht hat und eine versuchte
Nötigung mit Bedrohung beging, muß als ganz und gar persönlichkeitsfremd
eingeschätzt werden...als Ausbruch einer fortbestehenden kriminellen Energie kann
unter Berücksichtigung aller aus den Akten zu entnehmenden Informationen nicht
gefolgert werden. Herr A. hat sich offensichtlich von einem jungen Mitgefangenen in
einer Weise beeinflussen lassen, über die er jetzt selbst überzeugend aufrichtig den
Kopf schüttelt...Die Verarbeitung des "Zwischenfalls" ist ihm zweifelsfrei gelungen...So
wie sich die Situation jetzt darstellt, können keine Bedenken gegen zunehmende
Lockerungen geltend gemacht werden."
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Der Regierungsdirektor Dipl.-Psychologe S. von der JVA Bielefeld-Senne, die A.
gegebenenfalls im offenen Vollzug aufnehmen sollte, äußerte sich unter dem
15.10.1993 (Gefangenen-Personalakte Band VIII) unter anderem wie folgt:
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"Anlaß zu nachfolgender gutachtlicher Äußerung gibt die Übersendung der
Personalakte und das Anschreiben des Leiters der JVA Geldern vom 30.09.1993...Die
Durchsicht...läßt durchaus nachvollziehbar erscheinen, warum die zuständige
Strafvollstreckungskammer beim LG Kleve einen so umfassenden und in seinem
Ergebnis zurückhaltenden Beschluss gefaßt hat. Ich selbst habe zur Zeit auch noch
Zweifel an einer durchgreifend positiven langfristigen Legalprognose von A. Das von
ihm begangene Nötigungsdelikt anläßlich seiner Urlaubsüberschreitung im Jahre 1990
läßt sich aus meiner Sicht nämlich durchaus in einen Zusammenhang zu den früher von
ihm begangenen Sexualstraftaten stellen. Insofern messe ich dieser Straftat unter
prognostischen Gesichtspunkten ein recht erhebliches Gewicht bei. Ich habe meine
eigene Einschätzung zu diesem Sachverhalt hier lediglich deswegen vorgetragen, um
zu unterstreichen, auch selbst der Auffassung zu sein, dass eine therapeutische
Intervention bei A. zweifellos notwendig ist."
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Nach weiteren Begutachtungen, so durch die Psychologin G. von der JVA Geldern und
Frau Dr. med. T., Leiterin des Westfälischen Zentrums für Forensiche Psychiatrie in M.,
die beide eine fortdauernde Therapie für erforderlich hielten, erfolgte am 05.10.1995 mit
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ministerieller Genehmigung die Verlegung A.s in den offenen Vollzug der Justizanstalt
Bielefeld-Senne. Dieser schloß Ausgang und Urlaub aus der Haftanstalt ein. Im Jahre
1996 war der bereits genannte Regierungsdirektor S. mit der Therapie des Verurteilten
betraut und gelangte über einen monatelangen Zeitraum mit Hilfe der zumindest einmal
wöchentlich stattfindenden mehrstündigen Therapiesitzungen zu intensiven Einblicken
in die Psyche des Gefangenen. Im Herbst 1996 schilderte dieser dem Psychologen
wiederholt seine immer wiederkehrenden Vergewaltigungs- und Fluchtphantasien. S.
hielt es für erforderlich, die Anstaltsleitung zu informieren, auch wenn er dabei das
erlangte Vertrauen A.s riskierte. Regierungsdirektor S. besprach den Fall zudem mit
dem ihm bekannten Psychiater Dr. Q. aus G., der ihm insoweit supervisorisch zur Seite
trat. Dieser kam ebenfalls zu dem Ergebnis, dass von A. auch nach 23 Jahren Haft noch
immer eine erhebliche Gefahr ausgehe. In einem Aktenvermerk hielt S. unter anderem
fest:
"...in Ausgängen laufen bei A. folgende binnenpsychische Prozesse ab:
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Wenn er im Bus oder auf der Straße eine Frau sieht, die in seinen Augen attraktiv ist,
legt er sich in Gedanken die Frage vor, ob er sie wohl vergewaltigen könne...In
Ausgängen kommt (ihm) auch oft die spontane Idee, darüber nachzudenken, was wäre,
wenn er nicht in die Außenstelle zurückkehrte. Darauf gibt er sich die sinnvolle Antwort,
er verhielte sich dann äußerst unklug...A. gab in der letzten therapeutischen Sitzung
selbst an, dass er es für denkbar halte, in einer für ihn aussichtslosen Situation wieder
eine Frau zu vergewaltigen. Dieser und den vorstehend gemachten Angaben ist zu
entnehmen, wie bewußtseinsnah ihm noch Vergewaltigungsgedanken sind."
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Regierungsdirektor S. riet, aus Sicherheitsgründen sämtliche Lockerungen des Häftlings
sofort zu streichen. Der Abteilungsleiter E. setzte daraufhin zunächst alle Lockerungen
aus. In der Folgezeit wurde der Oberregierungsrat T., Fachdezernent für den
psychologischen Dienst beim Westfälischen Justizvollzugsamt Hamm, zugezogen und
während eines Urlaubs des Regierungsdirektors S. übernahm der Psychologe
Oberregierungsrat Ta. die Fortsetzung der Therapie A.s. Dieser erstellte am 26.09.1996
im Rahmen einer fernmündlichen Fallbesprechung mit dem Fachdezernenten T. eine
ergänzende psychologische Stellungnahme, wonach der Gefangene weiterhin
uneingeschränkt für Ausgänge und Tagesurlaube geeignet sei. Unter anderem führte er
aus:
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"Im Abgleich von Explorations- und Testbefunden kommt der Unterzeichner zu dem
Ergebnis, dass bei dem zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Strafgefangenen A.
keine mißbrauchsfördernden und risikobehafteten Vergewaltigungsphantasien oder -
träume vorliegen." Regierungsdirektor S. kritisierte diese Einschätzungen damit, Dipl.-
Psychologe Ta. und andere stärkten verfehlte Rationalisierungsmechanismen des
Verurteilten und arbeiteten insofern störungszudeckend. Er lehnte die Verantwortung für
vollzugliche Lockerungen weiter ab. Nach weiteren ergänzenden Begutachtungen
äußerte sich der Präsident des Justizvollzugsamtes I. am 12.11.1996:
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"Würde man jetzt sämtliche Vollzugslockerungen vor diesem Hintergrund
zurücknehmen, würde man letztlich eine fünfjährige, doch im Wesentlichen erfolgreiche
Behandlungsarbeit zunichte machen und das bei einer Perspektive einer vorzeitigen
Entlassung möglicherweise im Jahre 1997."
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Daraufhin akzeptierte S. Anfang Dezember 1996 die Entscheidungen über
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Vollzugslockerungen, blieb jedoch bei seinen Bedenken, dass die Gefahr durch A. über
ein vertretbares Maß hinausgehe.
Im Jahre 1997 stand eine Entscheidung über die etwaige bedingte Entlassung A.s zur
Bewährung an. Die Strafvollstreckungskammer beim Landgericht Bielefeld holte aus
diesem Grund ein psychiatrisch-psychologisches Fachgutachten ein, das der Psychiater
und bereichsleitende Arzt Dr. C. vom Westfälischen Zentrum für Forensische Psychiatrie
in M. unter dem 14.04.1997 auf 120 Seiten erstattete. Auf den Abdruck des Gutachtens
(Sonderband II der Akten 26 Js 404/99 STA Bielefeld) wird Bezug genommen. Dr. C.
kam bezüglich einer Entlassung A.s zur Bewährung zu dem Ergebnis, dass eine
günstige Gefährlichkeitsprognose bei selbstverantwortlicher Freiheit zur Zeit sich nicht
vertreten lasse. Er schlug vor, die bisherige Erprobung ca. ein Jahr über den
Mindeststrafraum hinaus fortzuführen und den Akzent mehr auf die Praxis als auf die
Theorie und Rationalität zu legen. Die Strafvollstreckungskammer lehnte darauf mit
Beschluss vom 28.08.1997 die bedingte Entlassung A.s ab. Bei einer solchen
Entlassung sei mit weiteren Straftaten zu rechnen.
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Der offene Vollzug wurde unterdessen beibehalten. Bereits im Februar 1998 hatte A. ein
freies Beschäftigungsverhältnis angetreten, das mit arbeitstäglichem freien Ausgang
verbunden war.
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Am 22.10.1998 hob der Strafsenat beim Oberlandesgericht Hamm auf Beschwerde A.s
den Beschluss der Strafvollstreckungskammer, durch den die bedingte Entlassung
abgelehnt worden war, auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an die
Strafvollstreckungskammer zurück. Der Strafsenat wies darauf hin, die
Strafvollstreckungskammer hätte nicht ohne persönliche Anhörung des Verurteilten
entscheiden dürfen.
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Noch bevor es zu der Anhörung A.s durch die Strafvollstreckungskammer kam, kehrte A.
am 02.12.1998 von seinem Ausgang zur Arbeit nicht in die Vollzugsanstalt zurück. Die
Fahndung nach ihm blieb lange Zeit erfolglos.
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Im März 1999 begab sich A. nach Remagen und übernachtete in einer in Renovierung
befindlichen Villa. Der Eigentümer U. überraschte ihn dort am nächsten Morgen und
schickte sich an, über Handy die Polizei zu rufen. Er wurde daraufhin von A. zu Boden
geworfen, mit Handschellen gefesselt und mit Klebeband umwickelt. Der Überfallene
verneinte die Frage nach vorhandenem Geld und bedeutete erneut polizeiliche
Konsequenzen. A. beschloß, sein Opfer zu töten, was er durch Messerstiche in den Hals
vollzog. Als danach ein Anruf auf dem Handy des Ermordeten einging, nahm A. das
Gespräch entgegen. Anrufer war die Ehefrau des Mordopfers, D., der A. erklärte, es sei
etwas passiert, er wolle sie sprechen. Auf diese Weise erfuhr er die Anschrift und begab
sich dorthin, um Bargeld zu erbeuten. Zugleich beschloß er, Frau D. ebenfalls zu töten,
um die Fahndung nach ihm zu erschweren. In der Wohnung der Frau D. trafen
schließlich noch die weiteren Angehörigen S.D. und P.D. ein. Es gelang A., alle drei
Personen nach und nach zu fesseln und schließlich durch Messerstiche in den Hals
umzubringen.
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Auf seiner weiteren Flucht beging A. am 21.07.1999 noch eine Vergewaltigung, am
10.08.1999 eine Freiheitsberaubung und am 15.08.1999 einen Raub. Er wurde am
18.08.1999 in Greifswald festgenommen. Das Landgericht Koblenz verurteilte ihn am
08. Juni 2000 wegen Mordes in vier Fällen, Vergewaltigung, versuchten schweren
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Raubes sowie schweren Raubes in Tateinheit mit Freiheitsberaubung zu einer
lebenslangen Gesamtfreiheitsstrafe. Die besondere Schwere der Schuld wurde
festgestellt, die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet.
Die Kläger sind der Auffassung, die Vollzugsbediensteten I., T., Te., E. und Ta. hätten
mit der Gewährung von Vollzugslockerungen für A. gegen ihre Amtspflicht aus § 11 Abs.
2 Strafvollzugsgesetz verstoßen. Es sei zu befürchten gewesen, dass der Gefangenen
die Lockerung des Vollzuges zu Straftaten mißbrauchen würde. Erschreckend sei, dass
die Bediensteten auch die Erfahrungen aus dem Jahre 1990, als der Gefangene einen
Hafturlaub zur Begebung neuer Straftaten mißbraucht habe, ignoriert hätten. Anstatt die
nach Kenntnis der Vergewaltigungs- und Fluchtphantasien A.s erforderliche Einstellung
der Vollzugslockerungen vorzunehmen, sei das Verhalten der Beamten vornehmlich
davon geprägt gewesen, aus Gründen des allgemeinen Resozialisierungsgedankens
und um eine mehr als fünfjährige Behandlungsarbeit nicht zunichte zu machen, die
zunächst eingestellten Vollzugslockerungen wieder aufleben zu lassen. Dies sei
angesichts der überdeutlichen Warnungen des Psychologen S. nicht verantwortbar
gewesen. Auf der gleichen Linie ungünstiger Prognose hätten das Gutachten des
Psychiaters Dr. C. und der Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts
Bielefeld gelegen. Wenn der Abteilungsleiter E. in einer Stellungnahme vom 19.06.1998
auf zwischenzeitlich 116 Ausgänge einschließlich Tagesurlaube verweise, die von A.
beanstandungsfrei abgewickelt worden seien, so habe daraus keine abgeklungene
Gefährlichkeit A.s gefolgert werden können. Das Land Nordrhein-Westfalen sei daher
gegenüber den Klägern, die die Beerdigungskosten für die vier Mordopfer getragen
hätten, zum Schadensersatz verpflichtet.
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Die Kläger führen auf Seite 20 bis 21 der Klageschrift die Kosten für die Beisetzung der
vier Mordopfer auf. Hierauf wird Bezug genommen.
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Die Kläger beantragen,
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das beklagte Land zu verurteilen, an die Erbengemeinschaft nach D., bestehend
aus den Klägern zu 1., 2., 3. und 4. sowie Frau W., 3.876,12 €, an die
Erbengemeinschaft nach P. und S. D., bestehend aus dem Kläger zu 4. und Frau
W., 8.424,93 € sowie an die Erbengemeinschaft nach U., bestehend aus dem
Kläger zu 5. und Herrn K.U., 3.109,38 € jeweils nebst Zinsen in Höhe von 5 %-
Punkten über dem Basiszins seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
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Das beklagte Land beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Es führt im Einzelnen die Vollzugsmaßnahmen und den Vollzugsverlauf des
Gefangenen A. auf und kommt zu dem Ergebnis, der zuständige Abteilungsleiter der
Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Senne, Oberregierungsrat E., habe mit größtmöglicher
Sorgfalt und deutlichem Sachverstand unter genauer Beachtung der Bestimmungen
jeden Lockerungsabschnitt des Gefangenen geplant, vorbereitet und bei gleichzeitiger
ständiger Betreuung durch die Fachdienste durchgeführt und überwacht. Die Vielzahl
der Konferenzprotokolle zeige, dass jedes vollzugliche Ereignis mit dem
Behandlungsteam in einer Konferenz besprochen und bewertet worden sei. Aus Anlaß
der Entscheidung über einen Antrag des Gefangenen auf Gewährung von Ausgang und
Zulassung zum Arbeitseinsatz unter Beaufsichtigung in unregelmäßigen Zeitabschnitten
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seien mit Bericht vom 04.11.1996 zur Frage der weiteren Vollzugsgestaltung des
Gefangenen dem Justizvollzugsamt Westfalen-Lippe zwei divergierende
psychologische Stellungnahmen (Regierungsdirektor S. und Oberregierungsrat Ta.)
vorgelegt worden. Die Bedenken von Regierungsdirektor S. seien keineswegs als
abwegig angesehen worden. Doch sei es mit Verfügung des Justizvollzugsamts
Westfalen-Lippe vom 12.11.1996 für vertretbar und angezeigt gehalten worden, den
Gefangenen im offenen Vollzug zu belassen, den derzeitigen Lockerungsspielraum
jedoch nicht zu erweitern und zudem den Gefangenen durch den psychologischen
Fachdezernenten des Justizvollzugsamts vor Ort oberbegutachten zu lassen. Die
Oberbegutachtung habe im Ergebnis ausgewiesen, dass zukünftig die Gewährung von
Ausgängen, Tagesurlauben und die Außenbeschäftigung unter der Aufsicht eines
Bediensteten in unregelmäßigen Zeitabständen ermöglicht werden könne, wenn diese
Maßnahmen analysierend, kontrollierend und unterstützend begleitet würden, um
Störungen rechtzeitig zu erkennen und erforderlichenfalls zu thematisieren.
Im weiteren Verlauf der Inhaftierung bis zum Tage der Entweichung am 02.12.1998
seien 165 weitere Ausgänge beanstandungsfrei abgewickelt und eine Vielzahl von
psychologischen Betreuungsgesprächen durch Oberregierungsrat Ta. geführt worden.
Die Beamten des Landes hätten nicht ermessensfehlerhaft gehandelt. Die Entweichung
des Gefangenen und seine nachfolgenden furchtbaren Taten seien nicht vorhersehbar
gewesen.
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In rechtlicher Hinsicht weist das beklagte Land ferner darauf hin, der Schutzzweck der
§§ 10 und 11 Strafvollzugsgesetz, Lockerungen und Freigang nicht zu gewähren, wenn
Straftaten zu befürchten seien, beziehe sich auf die Allgemeinheit, nicht aber auf
einzelne Personen. Eine Haftung nach § 839 BGB setze aber voraus, dass der oder die
Beamten eine einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht verletzt hätten. Das sei
schon aus Rechtsgründen hier nicht der Fall.
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Wegen des weiteren Parteivorbringens wird auf den Inhalt der Schriftsätze Bezug
genommen.
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In der mündlichen Verhandlung haben die Gefangenen-Personalakten des A. sowie die
Akten 26 Js 404/99 der Staatsanwaltschaft Bielefeld (Ermittlungsverfahren gegen die
leitenden Bediensteten der Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Senne wegen fahrlässiger
Tötung, begangen durch Haftlockerungen für A.) vorgelegen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
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Die Klage ist nicht begründet.
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Die Klageansprüche sind auf § 839 BGB gestützt. Diese Bestimmung besagt im Absatz
1 Satz 1, dass ein Beamter, der vorsätzlich oder fahrlässig die ihm einem Dritten
gegenüber obliegende Amtspflicht verletzt, dem Dritten den daraus entstehenden
Schaden zu ersetzen hat. Durch Art. 34 des Grundgesetzes ist die Bestimmung dahin
modifiziert, dass im Falle der Amtspflichtverletzung unter den angegebenen
Voraussetzungen nicht der Beamte, sondern der Staat, die Anstellungskörperschaft des
Beamten, den Schadensersatz zu leisten hat.
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Nach dem in praktisch allen Punkten unstreitigen Sachverhalt, aus dem die Parteien
lediglich verschiedene Schlußfolgerungen ziehen, insbesondere hinsichtlich der
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Gefährlichkeit A.s zur Zeit seiner Flucht, läßt sich zwar begründen, dass die leitenden
Bediensteten der Justizvollzugsanstalt Senne einem Irrtum mit furchtbaren Folgen
erlegen sind, nicht aber, dass eine vorwerfbare Amtspflichtverletzung vorgelegen hat.
Was den Einwand des beklagten Landes betrifft, eine Ersatzpflicht scheide schon
deshalb aus, weil den Beamten die Pflichten nach § 10 und 11 des
Strafvollzugsgesetzes - Gefährlichkeitsabwägung bei Vollzugslockerungen - nur der
Allgemeinheit, nicht dem einzelnen gegenüber bestanden habe, vermag die Kammer
diesen Standpunkt nicht zu teilen. Allerdings heißt es in § 2 Strafvollzugsgesetz, dass
die Aufgaben des Strafvollzuges der Resozialierung des Gefangenen und dem Schutz
der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten dienen. Anders als in den klassischen
Polizeigesetzen wird der Schutz des Einzelnen hier nicht erwähnt. Daraus läßt sich eine
Begrenzung des Schutzzweckes des Strafvollzugsgesetzes auf die Allgemeinheit aber
nicht herleiten. Die Feststellung einer Amtspflicht gegenüber Dritten bestimmt sich nach
dem Schutzzweck der Amtspflicht (Staudinger-Schäfer, BGB, 12. Aufl., § 839 Rdnr. 236).
Dabei muß die Amtspflicht differenziert und situationsbezogen gesehen werden. So hat
der Bundesgerichtshof (BGHZ 35, 44) ausgeführt, dass die Dienstaufsicht der
Landgerichtspräsidenten über die Amtsführung der Notare nur einen allgemeinen, nicht
drittschützenden Zweck habe, Drittschutz aber dann anzunehmen sei, wenn
hinreichender Verdacht bestehe, dass eine Amtsenthebung des Notars erforderlich sei.
In einer weiteren Entscheidung (BGHZ 74, 144) führt der Bundesgerichtshof über die
Amtspflichten des Bundesaufsichtsamts für das Kreditwesen aus, bei einem
Unternehmen, dass ohne Genehmigung genehmigungspflichtige Bankgeschäfte
betreibe, beziehe sich die Amtspflicht der Behörde auch auf die Einlagegläubiger des
Unternehmens als Dritte. Anerkannt ist inzwischen auch, dass der Schutznormcharakter
polizeilicher und ordnungsbehördlicher Eingriffsermächtigungen nicht nur
Allgemeininteressen begünstigt, sondern auch gewichtige schutzbedürftige
Individualinteressen (Münchener Kommentar/Papier, 3. Aufl., § 839 Rdnr. 2, 131).
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Mit der Frage des Drittschutzes der Amtspflichten aus §§ 10 und 11 des
Strafvollzugsgesetzes ausdrücklich befaßt hat sich das Oberlandesgericht Karlsruhe in
einem Urteil vom 26.09.2001 (NJW 2002, 445/VersR 2002, 1239). Es kommt ebenfalls
zu dem Ergebnis, dass Justizvollzugsbehörden bei der Entscheidung über
Vollzugslockerungen für Strafgefangene nicht nur Amtspflichten gegenüber der
Allgemeinheit haben, sondern gegenüber allen Personen, für die die Freilassung des
Gefangenen eine potentielle Gefahr bedeutet. Das Oberlandesgericht Karlsruhe
widerspricht damit einer abweichenden Entscheidung des Oberlandesgerichts
Hamburg. Den Gründen des OLG Karlsruhe ist der Vorzug zu geben.
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Die Kläger haben in der mündlichen Verhandlung beantragt, ihnen Schriftsatzfrist
wegen des erst kurzfristig eingereichten Schriftsatzes des beklagten Landes vom
01.10.2003 zu gewähren. Da sich dieser Schriftsatz mit der Frage des Drittschutzes im
Sinne des § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB befaßt und die Kammer hier dem Rechtsstandpunkt
der Kläger entspricht, brauchte eine Schriftsatzfrist nicht gewährt zu werden.
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Es läßt sich nicht feststellen, dass die leitenden Beamten der Justizvollzugsanstalt
Bielefeld-Senne oder der Aufsichtsbehörde vorwerfbar, d.h. fahrlässig, gegen ihre
Amtspflicht aus § 11 Abs. 2 Strafvollzugsgesetz verstoßen haben. Die Lockerungen
haben zweifelsfrei zur Flucht A.s geführt und damit auch zu den späteren schweren
Straftaten. Die Lockerungen durften nur angeordnet werden, wenn nicht zu befürchten
war, dass der Gefangene sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die
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Lockerung des Vollzuges zu Straftaten mißbrauchen werde. Mit dem Merkmal "nicht zu
befürchten" führt das Gesetz einen Rechtsbegriff ein, der eine Prognose erfordert. Bei
menschlichen Prognosen sind Irrtümer niemals mit Sicherheit auszuschließen. Das muß
bei der Beurteilung der Amtspflichten der tätigen Beamten beachtet werden.
Zu beachten ist ferner die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts durch das Urteil
vom 21.06.1977 (BVfG Bd. 54 S. 187), wonach es zu den Voraussetzungen eines
menschenwürdigen Strafvollzugs gehört, dass dem zu lebenslanger Freiheitsstrafe
Verurteilten grundsätzlich eine Chance verbleibt, je wieder der Freiheit teilhaftig zu
werden. Diese Entscheidung war die Grundlage dafür, dass auch für zu lebenslanger
Haft verurteilte Straftäter die Möglichkeit einer Entlassung zur Bewährung eröffnet
wurde. Es hatte nun jeweils eine Strafvollstreckungskammer darüber zu entscheiden, ob
eine Bewährungsentlassung ausgesprochen werden sollte oder nicht. Sofern diese in
Betracht kam, was etwa im vorliegenden Fall auch nach dem Gutachten des
bereichsleitenden Arztes Dr. C. keineswegs ausgeschlossen wurde, so mussten
psychologische und insbesondere sozial-therapeutische Maßnahmen getroffen werden,
denn es ist bekannt, dass man einen jahrzehntelangen Strafgefangenen nicht
unvorbereitet in die Freiheit entlassen kann, auch nicht unter der Aufsicht eines
Bewährungshelfers. Die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts
Bielefeld vom 28.08.1997, A. nicht auf Bewährung zu entlassen, wurde auf Beschwerde
des Gefangenen vom Oberlandesgericht Hamm aufgehoben. Daraus mußte der Schluss
gezogen werden, dass eine Entlassung zur Bewährung jedenfalls nicht von vornherein
als aussichtslos angesehen wurde. Diesen Standpunkt hatte auch der Gutachter Dr. C.
nicht eingenommen, sondern eine weitere einjährige therapeutische Einwirkung auf den
Gefangenen vorgeschlagen. Er hatte auch nicht von Vollzugslockerungen abgeraten,
sondern sein Votum nur dahingehend abgegeben, eine günstige
Gefährlichkeitsprognose sei für den Fall selbstverantwortlicher Entlassung des
Gefangenen in die Freiheit nicht möglich. Deshalb war es kein Widerspruch, wenn zwar
zunächst einmal die Entlassung A.s auf Bewährung abgelehnt worden war,
Vollzugslockerungen aber beibehalten wurden, die Bestandteil des Vollzugsplans und
der sozial-therapeutischen Betreuung waren.
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Die vermeintliche Amtspflichtsverletzung muß sich auf den Ausgang A.s beziehen, den
dieser zur Flucht benutzte. Dies war Anfang des Monats Dezember 1998. Zu diesem
Zeitpunkt war die Frage der Entlassung A.s durch die Strafvollstreckungskammer in der
Schwebe. Die ablehnende Entscheidung war durch das Oberlandesgericht aufgehoben
worden. Es mußte noch eine Anhörung A.s durch die Strafvollstreckungskammer
stattfinden, die noch ausstand. A. hatte sich in den langen Jahren seiner Gefangenschaft
gegenüber den Justizvollzugsbehörden sowie dem psychologischen Personal
kooperativ gezeigt. Er hatte die Bereitschaft erkennen lassen, an sich zu arbeiten. Das
war schwerlich wegzudiskutieren. Nach der Entscheidung des Oberlandesgerichts
mußte bei A. eine positive Erwartungshaltung vermutet werden, eine mögliche
Entlassung zur Bewährung nicht zunichte zu machen. Ihm mußte das Bewußtsein
unterstellt werden, dass er seine Chancen, frei zu leben, durch eine Flucht nur
verschlechtern konnte.
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Mit Recht weisen die Kläger auf die warnenden Einwendungen des
Regierungsdirektors S. gegen die Vollzugslockerungen hin. Diese wurden bereits 1993
und dann wieder ab Herbst 1996 geäußert. Es läßt sich aber nicht sagen, dass etwa der
Abteilungsleiter E. die Warnungen auf die leichte Schulter genommen hätte. Die
Entscheidungen über Vollzugslockerungen lagen jedoch wesentlich in den Händen
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eines Teams in der Vollzugsanstalt. Zudem gab die Aufsichtsbehörde ihre
Stellungnahme ab. Die ebenfalls fachlich als Psychologen qualifizierten
Oberregierungsräte T. und Ta. schlossen sich den Bedenken des Regierungsdirektors
S. nicht an. Nicht ganz ohne Wirkung bleiben konnten auch die - wenn auch bereits
etwas länger zurückliegenden - Einschätzungen des bekannten Kriminalpsychiaters
Prof. C.. Als dem Gefangenen A. Anfang Dezember 1998 weiterhin Ausgang zur Arbeit
gewährt wurde, lagen die von A. geäußerten Phantasien, die den Regierungsdirektor S.
so besorgt gemachten hatten, bereits mehr als zwei Jahre zurück. Mit A. war weiterhin
psychologisch gearbeitet worden. Auch ist zu beachten, dass die Besorgnisse S.s auf
geäußerten Phantasien des Gefangenen beruhten, die nicht im Rahmen einer
Exploration zur Begutachtung geäußert worden waren, sondern im Rahmen einer
Therapie, die die Gedanken des Gefangenen einbezog. Die Faktizität von Gedanken ist
zweifellos problematisch. Diese sind, um ein Zitat zu gebrauchen, "flüchtige Schatten".
Konnte es für gerechtfertigt gelten, A. nach fast fünfundzwanzigjähriger Haft und
vielfacher Erprobung im Freigang wegen Gedanken und Phantasien womöglich
dauernd in Haft zu halten, obwohl der Gefangene andern Psychologen gegenüber
glaubhaft machen konnte, sich real von der Verwirklichung solcher Gedanken losgesagt
zu haben? Die Kammer ist der Auffassung, dass die Justizvollzugsbeamten, die die
Lockerungen für A. beibehalten haben, gute Gründe für ihre Annahme gehabt haben, A.
werde seine Ausgänge aus der Vollzugsanstalt nicht zur Begehung neuer Straftaten
mißbrauchen. Im Rahmen der Vollzugskonferenz stand der Regierungsdirektor S.
letztlich allein. Es liegt auf der Hand, dass ihm kein Vetorecht gegen eine Entlassung
zustand. Die Beamten sind zu einem anderen Ergebnis gekommen. Aus der Sicht der
Lage im Herbst 1998 und früher kann ihnen daraus kein Vorwurf der Fahrlässigkeit
gemacht werden.
Dabei ist schließlich auch zu bedenken, dass A. - wohl unstreitig - kein Triebtäter war.
Die schweren Straftaten der Vergangenheit, auch die Vergewaltigungen, beruhten auf
seiner Neigung, sich mit Gewalt zu nehmen, was er jeweils gerne haben wollte. Dies
war der Grund seiner Handlungen, nicht ein unkontrollierter und devianter
Geschlechtstrieb. Die Neigung zur Gewaltausübung war selbstverständlich eine große
Gefahr für seine Mitmenschen. Sie erschien aber - im Gegensatz möglicherweise zum
Verhalten von Triebtätern - als grundsätzlich therapierbar. A. war aus der Sicht des
Jahres 1998 nicht die "tickende Zeitbombe", deren Rückfälligkeit in schwere Straftaten
zu erwarten war. Selbst der Straftat vom 10.02.1990 während des Hafturlaubs war ein
Stück weit eine positive Prognose immanent. Als das Opfer ihn anschrie, er solle es
loslassen, nahm A. von weierer Einwirkung Abstand. Das war im Jahre 1972 noch
anders gewesen. Grundsätzlich mußte es scheinen, als sei A. lern- und
besserungsfähig.
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Nach alldem war die Klage mit der Kostenfolge aus § 91 ZPO abzuweisen. Die
Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 709 ZPO.
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