Urteil des LG Berlin vom 20.05.2008

LG Berlin: verletzter, strafverfahren, kreis, kapitalanleger, vergleich, straftat, strafrechtspflege, informationsanspruch, akteneinsichtsrecht, link

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Gericht:
LG Berlin 19. Große
Strafkammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
(519) 3 Wi Js 1665/07
KLs (03/09), (519) 3
Wi Js 1665/07 KLs
(3/09)
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 406e Abs 1 StPO, § 20a Abs 1
WpHG, § 826 BGB
Leitsatz
Kapitalanleger sind in Verfahren wegen Verstoßes gegen § 20a WphG keine Verletzten im
Sinne des § 406e StPO. Weitere Angaben: gegen Landgericht Berlin Beschluss vom
20.05.2008 (514 AR 01/07)
Tenor
Die Anträge auf Akteneinsicht werden zurückgewiesen.
Gründe
I.
Bei der Strafkammer ist gegen den Angeschuldigten ein Verfahren wegen des Verdachts
der strafbaren Marktmanipulation (§ 38 Abs. 2 i.V.m. § 39 Abs. 1 Nr. 2, § 20a Abs. 1 Satz
1 Nr. 3 Wertpapierhandelsgesetz – WpHG) anhängig. Dem Angeschuldigten, der über
eine entgeltliche E-Mail-Hotline und auf Seminaren Börseninformationen und
Empfehlungen zum Erwerb von Aktien angeboten hatte, wird mit der Anklageschrift vom
06. Juli 2009 vorgeworfen, die Börsenkurse geringwertiger Aktien durch falsche Angaben
in seinen Kaufempfehlungen in die Höhe getrieben zu haben, bevor sie dann aufgrund
von Geschäftsberichten der betroffenen Gesellschaften eingebrochen seien.
Verschiedene private Anleger, die meinen, aufgrund der Informationen und
Empfehlungen des Angeschuldigten Geld verloren zu haben, beantragen Einsicht in die
Strafakten.
II.
zurückzuweisen
§ 475 Abs. 1 StPO
1.
a)
Gesetzgeber bei der Neugestaltung der formellen Verletztenbeteiligung am
Strafverfahren durch Einführung der §§ 406d bis 406g StPO abgesehen hat (vgl.
§ 172 StPO
332; LG Stralsund StraFo 2006, 76; Meyer-Goßner, StPO, 52. Aufl. 2009, vor § 406d Rn.
2; Graalmann-Scheerer, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2008, § 172 Rn. 54; Schöch,
in: AK-StPO, 1996, vor § 406d Rn. 9).
Die Verletzteneigenschaft und damit der Anspruch auf Akteneinsicht stehen danach nur
demjenigen zu, der durch die behauptete Tat - ihre tatsächliche Begehung unterstellt -
unmittelbar
wistra 2006, 76; LG Stralsund, aaO.).
Schutzbereich der verletzten Strafrechtsnorm
abzustellen. Verletzter im Sinne der §§ 406d ff. StPO kann danach nur sein, wer in einem
rechtlich geschützten Interesse durch eine Straftat beeinträchtigt wird, soweit die
verletzte Strafrechtsnorm dabei auch seinem Schutz dient (Stöckel, in: KMR-Kommentar
zur StPO, Stand: April 2008, vor § 406d Rn. 11; Kurth, in: Heidelberger Kommentar zur
StPO, 3. Aufl. 2001, § 406d Rn. 2; Velten, in: Systematischer Kommentar zur StPO,
Stand: Februar 2008, vor §§ 406d - 406h Rn. 5; Schöch, a.a.O., vor § 406d Rn. 10).
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Soweit die Staatsanwaltschaft Berlin dem Angeschuldigten in ihrer Anklage einen
Verbot der Marktmanipulation (§ 20a WpHG)
steht den Antragstellern kein Schadenersatzanspruch aus §§ 823 Abs. 2 BGB, 20a
kein
Schutzgesetz
2009 - 1 Ws 150/09). Schutzgesetzcharakter im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB können die
Vorschriften des WpHG nur haben, soweit sie nicht lediglich aufsichtsrechtlicher Natur
sind, sondern ihnen auch eine anlegerschützende Funktion zukommt (vgl. BVerfG NJW
2003, 501, 502; BGHZ 160, 134, 139; BGH NJW 2008, 1734, 1735 zu § 32 WpHG; Wagner
in Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl., § 826 Rdn. 78). In dieser Vorschrift steht
allgemein die Zuverlässigkeit und Wahrheit der Preisbildung an Börsen und Märkten mit
ihrer für das gesamte Wirtschaftsleben weit reichenden Bedeutung im Vordergrund. Die
Norm bezweckt deshalb nach dem Willen des Gesetzgebers in erster Linie den Schutz
der Allgemeinheit. Zwar wirkt sich der Schutz der Allgemeinheit mittelbar auch zu
Gunsten des einzelnen Kapitalanlegers aus. Damit erstrebt das Gesetz aber noch keinen
besonderen Schadensersatzanspruch zum Schutze der Individualinteressen des
Einzelnen (vgl. BT-Drucks. 10/318, Seite 45 f.; BGHZ 160, 134; 125, 366 und 84, 312,
314).
Da die hier in Rede stehende Strafnorm mithin nicht den Schutz der Kapitalanleger
bezweckt, sind die Anleger auch nicht „Verletzte“ eines etwa gegen diese Vorschrift
verstoßenden Verhaltens.
b)
erscheint weder sachgerecht noch geboten.
Die Interpretation der Vorschrift durch eine andere Kammer des Landgerichts Berlin (vgl.
WM 2008, 1470-1475), wonach auch diejenigen Geschädigten als Verletzte im Sinne von
§ 406e Abs. 1 StPO einzuordnen seien, die aufgrund eines strafrechtlich relevanten
§ 826 BGB
könnten, verdient unbeschadet ihrer verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit (vgl.
BVerfG ZIP 2009, 1270-1272) auch mit Blick auf den Funktionszusammenhang der Norm
keine Zustimmung.
aa)
Sinn und Zweck
Klageerzwingungsverfahrens andererseits (vgl. Riedel/Wallau NStZ 2003, 393/394) : Bei
der Bestimmung der zur Durchführung eines Klageerzwingungsverfahrens Befugten geht
öffentliche Interesse
allein private Zwecke
Bereits dieser Vergleich zeigt, dass der Kreis der Berechtigten bei § 406e StPO eher
enger gezogen werden muss als im Rahmen des § 172 StPO.
bb)
Schadensersatzanspruchs nach § 826 BGB eröffnete dagegen in Fällen der vorliegenden
Art einem unübersehbaren Kreis von Kapitalanlegern eine Beteiligung am
ohne
wären. Anders als bei den individuelle Rechtsgüter schützenden Strafnormen erscheint
gänzlich unklar, wann ein möglicherweise gegen § 20a WpHG verstoßendes Verhalten im
Einzelfall die besonderen Anforderungen einer „vorsätzlich sittenwidrigen Schädigung“
erfüllt. Obergerichtliche Rechtsprechung zu Schadensersatzansprüchen etwaiger
Kapitalanleger in Fällen vorgeworfener Kursmanipulation ist nicht ersichtlich.
cc)
Umgehung zivilrechtlicher Beweisregeln
Ausforschung
könne eine Zivilklage häufig nur mittels der Erkenntnisse aus der strafprozessualen
Akteneinsicht überhaupt substantiieren und Beweis antreten (so LG Berlin aaO.), teilt die
Kammer nicht. Im Übrigen ist es Sache der Zivilgerichte, typischen Darlegungs- und
Beweisschwierigkeiten einer Partei durch das zivilprozessuale Instrumentarium
angemessen zu begegnen.
dd)
Ausforschungsmöglichkeit begründen schließlich eine nicht unerhebliche
Missbrauchsgefahr
bloßen Berufung auf § 826 BGB zweckgerichtet einen Umweg über das Strafrecht zur
Durchsetzung zivilrechtlicher (auch mit § 826 BGB möglicherweise konkurrierender)
Ansprüche suchen. Adhäsionsanträge werden sich in Fällen der vorliegenden Art wegen
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Ansprüche suchen. Adhäsionsanträge werden sich in Fällen der vorliegenden Art wegen
Verfahrensverzögerung
Berücksichtigung der berechtigten Belange des Antragstellers regelmäßig zur Erledigung
im Strafverfahren nicht eignen (vgl. § 406 Abs. 1 Satz 4 und 5 StPO).
2.
werden.
a)
des Akteneinsichtsbegehrens eines Zeugen, der nicht Verletzter ist, den
Strafverfolgungszwecken Vorrang eingeräumt hat (§ 477 Abs. 2 Satz 1 StPO). Hier
kommen sämtliche Anspruchsteller als Zeugen jedenfalls in Betracht.Die damit aus
Beeinträchtigung der
Wahrheitsfindung
muss auch dann gelten, wenn (wie hier angesichts der tatbestandlichen Ausgestaltung
des § 20a WpHG) eine Vernehmung der Anspruchsteller in der Hauptverhandlung nicht
sehr wahrscheinlich ist.
b)
Recht des Beschuldigten
informationelle Selbstbestimmung
1052). Die Vorschrift des § 406e StPO zeigt, dass der Gesetzgeber im schwierigen
Spannungsverhältnis zwischen Datenschutz, Verteidigungsinteressen, Wahrheitsfindung,
Funktionsinteressen der Strafrechtspflege und dem legitimen, verfassungsrechtlich
abzuleitenden Informationsanspruch des Verletzten einen vertretbaren Ausgleich (LR-
Hilger, StPO 25. Aufl., § 406e Rdnr. 3; vgl. auch BGHSt 39, 112, 116) gesucht hat und nur
dem verletzten Zeugen regelmäßig ein Akteneinsichtsrecht zubilligen wollte. Selbst
diesem insoweit begünstigten Zeugen kann nach § 406e Abs. 2 StPO im Interesse der
Wahrheitsfindung und der Verfahrensökonomie die Akteneinsicht versagt werden. Erst
recht ist daher dem nicht durch die Straftat verletzten Zeugen und seinem Beistand die
Akteneinsicht zu verweigern, wenn dies Verfahrenszwecke gefährdet (vgl. KG Beschluss
vom 07. Februar 2008 – [1] 2 BJs 58/06 - 2 [2/08]).
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