Urteil des LG Berlin vom 19.11.2005

LG Berlin: europa, teleologische auslegung, unklarheitenregel, begriff, versicherungsnehmer, versicherungsschutz, wohnung, vollstreckung, einbruchdiebstahl, avb

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Gericht:
LG Berlin 7.
Zivilkammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
7 S 31/06
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 5 AGBG, § 305c Abs 2 BGB, § 6
Nr 3 VHB 1974
Hausratversicherung: Auslegung der Beschränkung der
Außenversicherung auf „Europa“
Tenor
1. Auf die Berufung des Klägers wird das am 1. Juni 2006 verkündete Urteil des
Amtsgerichts Köpenick, Gesch.-Z.: 12 C 100/06 geändert:
Die Beklage wird verurteilt, an den Kläger 2.278,41 € nebst Zinsen in Höhe von fünf
Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 19. November 2005 zu zahlen.
2. Die Beklagte hat die Kosten des gesamten Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung in Höhe des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages zuzüglich
10 % abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des
jeweils zu vollstreckenden Betrages zuzüglich 10 % leistet.
4. Die Revision wird zugelassen.
Gründe
I. Auf die tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils wird nach § 540 Abs. 1
Nr. 1 ZPO Bezug genommen.
Mit seiner Berufung verfolgt der Kläger sein erstinstanzliches Begehren, die Verurteilung
der Beklagten zur Zahlung i. H. v. 2.278,41 €, nach - teilweiser - Klagerücknahme wegen
ursprünglich mit der Klage geltend gemachter 132,99 € nebst anteiliger Zinsen (nicht
anrechenbare außergerichtliche Geschäftsgebühr) und wegen der Zinsforderung, die
bezogen auf die Hauptforderung nun erst ab dem 19. November 2005 begehrt wird,
weiter.
II. Die zulässige Berufung hat in der Sache Erfolg.
1. Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung von 2.278,41 € aus
dem zwischen den Parteien geschlossenen Hausratversicherungsvertrag zur
Versicherungsschein-Nr. KS 227/xxx iVm. AVB-VHB 74.
a) Der Versicherungsfall ist durch das Geschehen vom 10. Oktober 2005 iSv. §§ 1 b), 3
B 1a) AVB-VHB 74 eingetreten. Nach § 3 B Nr. 1a der Bedingungen der Beklagten
genügt .es, für die hier versicherte Einbruchdiebstahl- und Beraubungsversicherung,
wenn der Dieb in ein Gebäude oder den Raum eines Gebäudes "einsteigt". Sofern
ein Dieb sich einen Zugang über eine nicht dafür gedacht Öffnung verschafft, steigt
er i. S. der Bedingungen der Beklagten ein (vgl. z. B. Prälss/Martin-Kollhosser, WG,
27. Aufl. 2004, § 1 AERB 81, Rdnr. 24). Auf das Vorhandensein von Gewaltspuren
kommt es dabei nicht an.
b) Es besteht entgegen der Ansicht des Amtsgerichts Köpenick und der Beklagten auch
Versicherungsschutz nach den Regeln der Außenversicherung gemäß §. 6 Nr. 3 S. 1, 2
der Bedingungen der Beklagten. Danach besteht Versicherungsschutz außerhalb der
versicherten Wohnung zwar nur "innerhalb Europas", wenn sich die versicherten Sachen
vorübergehend außerhalb der Wohnung befanden und es zu einem versicherten
Einbruchdiebstahl in der "fremden Wohnung" gekommen ist. Indes ist das hier der Fall.
Insbesondere fand der Versicherungsfall, der sich auf Gran Canaria zutrug, innerhalb
Europas statt. Denn die Klausel ist nach § 305cAbs. 2 BGB in diesem Sinne auszulegen.
aa) Die Klausel ist hinsichtlich der Begrenzung der Außenversicherung auf "Europa"
unklar i. S. der Unklarheitenregel.
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unklar i. S. der Unklarheitenregel.
aaa) Der Anwendbarkeit der Unklarheitenregel (§ 305c Abs. 2 BGB = § 5 AGBG) steht
nicht etwa entgegen, dass der Versicherungsvertrag bereits am 23. Juni 1977
geschlossen wurde. Zum einen galt bereits zu diesem Zeitpunkt das AGBG, das am 1.
April 1977 in Kraft getreten ist. Zum anderen handelt es sich bei der Unklarheitenregel
um eine bereits vor ihrer Kodifizierung allgemein anerkannte Auslegungsregel (s. nur RG,
Urt. v. 19. 5.1927 - IV 847/26, RGZ 117, 102,107; Urt. v. 10.1.1928 - VII 462/27, RGZ 120,
18, 20; BGH, Urt. v. 12. 2.1952 - I ZR 96/51, BGHZ 5, 111, 115 = NJW 1952, 657, 658;
Urt. v. 20.2.1967 - III ZR 134/65, BGHZ 47, 207, 216 = NJW 1967, 1022, 1025). Auch
kann dahinstehen, ob § 5 AGBG oder § 305c Abs. 2 BGB auf den vorliegenden Fall
Anwendung findet. Denn beide Vorschriften sind ihrem Inhalt nach identisch und die
Integrierung des § 5 AGBG in das BGB sollte nicht mit inhaltlichen Änderungen
verbunden sein.
bbb) Die Klausel ist objektiv mehrdeutig.
Dabei bestehen Zweifel bei der Auslegung i. S. der Unklarheitenregel bereits dann, wenn
zwei oder mehr Auslegungsergebnisse nach Ausschöpfung aller Auslegungsmethoden
(rechtlich) vertretbar sind und keine der Auslegungen den klaren Vorzug verdient (h. M.
s. nur BGH, Urt. v. 5.7.1995 - IV ZR 133/94, VersR 1995, 951, 952; VersR 1996, 622; OLG
Düsseldorf, Urt. v. 13.10.1988 - 99 0 206/89, NJW-RR 1990, 821; Prölss/Martin-Prölss,
aaO., Vorbem. III Rdnr. 18). Nicht erforderlich ist, dass beide Auslegungsergebnisse völlig
gleichwertig sind (vgl. Prölss in Festschrift für E. Lorenz, 2004, S. 533, S. 539 f.).
Legt man die Klausel am maßgeblichen Empfängerhorizont des durchschnittlichen
Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse aus, ergibt sich
für diesen ein mehrfacher Bedeutungssinn.
(1) Ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer kann danach den Begriff Europa ohne
nähere Erläuterung in einem rein geographischen Sinn verstehen. Allerdings hat der
Begriff Europa im allgemeinen Sprachgebrauch - auf den hier abzustellen ist - darüber
hinaus auch eine politische Bedeutung (im Grundsatz bereits BGH, Urt. v. 20.6.1963 - 11
ZR 199/61, VersR 1963, 768 [zu § 2 AKB]). Nicht selten wird der Begriff Europa im
täglichen Sprachgebrauch auch als Beschreibung einer Werte- und
Schicksalsgemeinschaft gebraucht, wobei dann hierunter jedenfalls die Länder mit einer
abendländischen Tradition verstanden werden. Eine am Wortlaut orientierte Auslegung
führt daher zu einer Mehrdeutigkeit der Klausel.
(2) Die Klausel wird auch nicht durch eine teleologische Auslegung aus Sicht des
durchschnittlichen Versicherungsnehmers eindeutig. So kann der Sinn und Zweck einer
Klausel nur soweit berücksichtigt werden, wie er dem durchschnittlichen
Versicherungsnehmer aus der Klausel erkennbar wird (siehe nur
Ulmer/Brandner/Hensen-Ulmer, AGB-Recht Kommentar zu den §§ 305 - 310 BGB und
zum UklaG, 10. Aufl. 2006, § 305c BGB, Rdnr. 81). Zwar wird ein durchschnittlicher
Versicherungsnehmer der Klausel entnehmen, dass der Versicherungsschutz nur für
Europa erweitert werden soll, ein klares Verständnis, etwa im geografischen Sinn, folgt
daraus jedoch nicht.
(3) Ein anderes Ergebnis folgt auch nicht aus dem Aspekt der Rechtssicherheit (so aber
noch BGH, Urt. v. 20.6.1963 - III ZR 199/61, VersR 1963, 768 [zu § 2 AKB]). Es ist schon
fraglich, ob ein solcher Aspekt bei der Auslegung am Horizont des verständigen
Versicherungsnehmers überhaupt zu berücksichtigen ist, jedenfalls ist ein Verständnis
im geografischen oder politischen Sinn nicht mit erkennbar weniger
Rechtsunsicherheiten behaftet (a. A. OLG Hamburg, Urt. v. 21.1.1987 - 4 U 232/86, r+s
1990, 311, 312). So kann es auch bei einem Abstellen auf eine rein geografische
Betrachtung zu Abgrenzungsschwierigkeiten kommen (so auch OLG Hamburg, Urt. v.
21.1.1987 - 4 U 232/86, r+s 1990, 311, 312). Ein durchschnittlicher
Versicherungsnehmer wird jedenfalls solche Rechtsunsicherheiten nicht bei der
Auslegung mitberücksichtigen.
(4) Soweit die Beklagte durch ihre Klauselformulierung eine Begrenzung des
Versicherungsschutzes auf Europa im geografischen Sinn verfolgte, kann dies ebenfalls
zu keinem eindeutigen Verständnis der Klausel führen. Für diese Regelungsintention
mag zwar die Nachfolgeregelung des § 12 Nr. 1 VHB 84 sprechen, wo ausdrücklich von
Europa im geografischen Sinn gesprochen wird, doch ist die Entstehungsgeschichte
einer Regelung oder eine nicht vereinbarte Parallelvorschrift jedenfalls nicht zu Lasten
des Versicherungsnehmers bei der Auslegung zu berücksichtigen (BGH, Urt. v.
17.3.1999 - IV ZR VersR 1999, 748, 749; Urt. v. 9.7.2003 - IV ZR VersR
2003, 1163, 1164; Palandt/Heinrichs, 66. Auf!. 2007, § 305c BGB, Rdnr. 16; Prölss/Martin-
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2003, 1163, 1164; Palandt/Heinrichs, 66. Auf!. 2007, § 305c BGB, Rdnr. 16; Prölss/Martin-
Prölss, aaO., Vorbem. III Rdnr. 5 [Entstehungsgeschichte]; BGH, Urt. v. 17.9.1986 - IVa
ZR VersR 1987, 68, 69 [zu nicht vereinbarten Parallelvorschriften]). Irgendeine
Bedeutung für die Auslegung kann der Nachfolgeregelung auch schon deswegen nicht
zukommen, da auf das Verständnis bei Vertragsschluss abzustellen ist.
(5) Gegen die Mehrdeutigkeit des Begriffs Europa spricht auch nicht, dass ein
geografisches Verständnis womöglich näher liegen mag. Denn die Unklarheitenregel
erfordert keine völlige Gleichwertigkeit der Auslegungsergebnisse und einen klaren
Vorzug verdient die Auslegung im geografischen Sinn - wie gezeigt - nicht.
(6) Schließlich kann gegen die Annahme einer objektiven Mehrdeutigkeit nicht
eingewendet werden, dass der Begriff Europa zur Zeit der Einbeziehung eindeutig war.
Es ist zwar zutreffend, dass für die Auslegung .einer Willenserklärung und damit auch bei
der Auslegung Allgemeiner Versicherungsbedingungen auf den Zeitpunkt der
Einbeziehung abzustellen ist (Wolf/Horn/Lindacher-Lindacher, AGBG, 4. Aufl. 1999, § 5
AGBG, Rdnr. 16; Beckmann/Matusche-Beckmann-Präve, Versicherungsrechts-
Handbuch, 2004, § 10, Rdnr. 208) doch hat die Beklagte dazu, dass zur Zeit der
Einbeziehung in den hier gegenständlichen Vertrag eine abweichende Wortbedeutung
existiert nichts vorgetragen und ist auch sonst nichts ersichtlich.
(7) Die Kammer verkennt nicht, dass die veröffentlichte herrschende Meinung von einem
alleinigen Verständnis im geografischen Sinne ausgeht (so etwa BGH, Urt. v. 20.6.1963 -
II ZR 199/61, VersR 1963, 768 [zu § 2 AKB]; BGH VersR 1989, 948; OLG Hamburg, Urt. v.
21.1.1987 - 4 U 232/86, r+s. 1990, 311, 312; LG Berlin, Urt. v. 14.7.1977 - 7 S 13/77,
VersR 1977, 853; Prölss/Martin-Knappmann, aaO., § 12 VHB 84 Rdnr. 2). Die Kammer
folgt dem nicht und hält insoweit auch an ihrer eigenen Rechtsprechung nicht mehr fest.
Die gegenteiligen Positionen beruhen erkennbar auf der früher üblichen
gesetzesähnlichen Auslegung von Versicherungsbedingungen (zumeist wird die
Auslegung nur unter Rückgriff auf frühere Entscheidungen unbesehen übernommen, so
etwa OLG Saarbrücken, Urt. v. 8.10.2004 - 5 U 87/04-13, VersR 1997, 972 [zu § 2aAKB]),
nicht aber an einer solchen orientiert am durchschnittlichen Versicherungsnehmer.
ccc) Folge der Unklarheitenregel ist - in Abweichung zur Vorschrift des § 155 BGB -, dass
die kundengünstigste Auslegungsvariante maßgebend ist. Ob hierbei ein konkret-
individueller Maßstab (so etwa Wolf/Horn/Lindacher-Lindacher, aaO., § 5 AGBG, Rdnr. 34)
oder ein generell-abstrakter Maßstab (so etwa OLG Hamm, Urt. v. 23.5.1986 - 20 U
327/85, VersR 1986, 883, 884) heranzuziehen ist, ist - soweit erkennbar -
höchstrichterlich nicht geklärt, bedarf hier aber keiner Entscheidung. Bei einem konkret-
individuellen Maßstab ist von einer Auslegung in einem politischen Sinn auszugehen.
Denn der Versicherungsfall trat auf der Insel Gran Canaria ein, welche politisch zu
Spanien gehört, das wiederum Europa zugehört. Ob bei einer generell-abstrakten
Betrachtung der Begriff Europa im geografischen oder politischen Sinn günstiger ist,
bedarf keiner Entscheidung. Denn auch eine Auslegung .im geografischen Sinn als
generell-abstrakt günstiger angesehen, was vorliegend für den Kläger den
Versicherungsschutz ausschließen würde, ist es der Beklagten zumindest nach § 242
BGB verwehrt, sich auf diese konkret ungünstigere Auslegung zu berufen (so zutreffend
H. Roth, WM 1991, 2130, 2135; Pilz, ZVersWiss 2006, Suppl., 233, 235, Fn. 25; wohl a. A.
Ulmer/Brandner/Hensen-Ulmer, aaO., § 305c BGB, Rdnr. 92a).
2. Der Zinsanspruch folgt aus §§ 288 Abs. 1, 286 Abs. 2 Nr. 3 BGB i. V. m. § 11 Abs. 1
WG ab dem 19. November 2005. Zu diesem Zeitpunkt hat die Beklagte ihre Leistung
aus dem Versicherungsvertrag endgültig und ernsthaft verweigert.
3. Die Revision war nach § 543 Abs. 2 Nr. 2 ZPO zuzulassen, da die Frage, wie der Begriff
Europa in Allgemeinen Versicherungsbedingungen auszulegen ist, zur Sicherung einer
einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert. Denn
diese Rechtsfrage ist konkret entscheidungserheblich sowie über den Einzelfall hinaus
generell klärungsbedürftig und -fähig, da hier durchaus eine andere Auslegung als von
der Kammer angenommen, in Betracht gezogen wird. Auch ist zu erwarten, dass sich
diese Frage durchaus auch zukünftig noch in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen
stellen wird.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91 Abs. 1 S. 1 ZPO. Die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711 S. 1, 2, 709 S. 2 ZPO.
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