Urteil des LAG Schleswig-Holstein vom 14.03.2017

LArbG Schleswig-Holstein: betriebsrat, unwirksamkeit der kündigung, anhörung, arbeitsgericht, aufhebungsvertrag, anfang, insolvenz, firma, geschäftsführung, unternehmen

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Gericht:
Landesarbeitsgericht
Schleswig-Holstein
1. Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 Sa 110/06
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 1 Abs 2 KSchG, § 102 Abs 1
S 2 BetrVG, § 112 BetrVG
Betriebsbedingte Kündigung - Betriebsstilllegung -
Belegschaftsreduzierung - Betriebsratsanhörung
Tenor
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Lübeck vom
03.02.2006 - 3 Ca 3173/05 - wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung.
Der Kläger war seit dem 27.09.1994 als Elektromaschinenbauer bei der w... electric
GmbH gegen eine Vergütung von zuletzt durchschnittlich 2.250,00 EUR brutto
monatlich beschäftigt. Die w... electric GmbH betrieb ein Werk in L... und eines in
E.... Sie versetzte den Kläger im November 2002 nach einer gerichtlichen
Auseinandersetzung wegen einer verhaltensbedingten Kündigung von L... nach
E.... Für beide Betriebsstätten war ein gemeinsamer Betriebsrat gewählt worden.
Die seinerzeit in vorläufiger Insolvenz befindliche w... electric GmbH und der bei ihr
gebildete Betriebsrat schlossen unter dem 27.09.2005 einen Interessenausgleich,
den der Beklagte als vorläufiger Insolvenzverwalter mit abzeichnete; wegen des
Inhalts wird auf die Ablichtung Bl. 33 - 37 d. A. Bezug genommen. Mit Wirkung zum
01.10.2005 hat das Amtsgericht das Insolvenzverfahren eröffnet und den
Beklagten als Insolvenzverwalter eingesetzt. Ebenfalls zum 01.10.2005 kaufte die
Firma V... den Betriebsteil in L.... Von den 50 Arbeitnehmern in E...
unterzeichneten 48 die Aufhebungsverträge mit dem Beklagten. Lediglich der
Kläger und der Arbeitnehmer F... lehnten dies ab.
Der Beklagte hörte daraufhin den Betriebsrat mit Schreiben vom 10.10.2005 zu
den beabsichtigten ordentlichen Kündigungen dieser beiden Arbeitnehmer an;
wegen des Inhalts der Anhörung wird auf das Schreiben vom 10.10.2005 Bezug
genommen.
Mit undatiertem Schreiben kündigte der Beklagte sodann das Arbeitsverhältnis mit
dem Kläger mit Wirkung zum 31.01.2006 (Abl. Bl. 7 d. A.).
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die Kündigung sei unwirksam und beruft
sich darauf, dass Kündigungsgründe nicht vorlägen, insbesondere bestreite er die
Stilllegungsabsicht. Auch habe eine soziale Auswahl mit den Arbeitnehmern in L...
nicht stattgefunden. Schließlich sei der Betriebsrat nicht ordnungsgemäß
angehört.
Der Kläger hat beantragt,
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die schriftliche,
undatierte Kündigung des Beklagten nicht aufgelöst wird, sondern zu
unveränderten Bedingungen gemäß dem Arbeitsvertrag vom 27. September 1994
auch über den 31. Januar 2006 hinaus fortbesteht.
Der Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
Der Beklagte hat sich auf die unternehmerische Entscheidung, den Betriebsteil L...
zu veräußern und den Betriebsteil E... stilllegen zu wollen, berufen. Die
Stilllegungsabsicht folge bereits aus dem Interessenausgleich. Die Stilllegung sei
auch Grundlage aller Verhandlungen zwischen Betriebsrat und Geschäftsführung
gewesen. Eine Sozialauswahl der Arbeitnehmer habe er weder in E... noch mit
denen in L... treffen müssen. Die Betriebsratsanhörung genüge den gesetzlichen
Anforderungen, weil dem Betriebsrat der Kündigungsgrund bekannt gewesen sei.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben und dies wie folgt begründet:
Die Kündigung sei sozial ungerechtfertigt, weil dringende betriebliche Gründe für
eine Kündigung nicht erkennbar seien. Vielmehr stelle sich die Kündigung als
Reaktion des Beklagten auf die Weigerung des Klägers dar, den gemäß
Interessenausgleich angebotenen Aufhebungsvertrag abzuschließen. Hierzu sei
der Kläger nicht verpflichtet gewesen.
Voraussetzung für die betriebsbedingte Kündigung sei gewesen, dass bei Zugang
der Kündigung der Entschluss festgestanden habe, den Betrieb in E... spätestens
zum 31.01.2006 zu schließen. Dass ein entsprechender Stilllegungsbeschluss
vorgelegen habe, habe aber der Beklagte nicht vorgetragen. Dagegen spreche
auch die Kündigungsbegründung in dem Schreiben zur Anhörung des Betriebsrats.
Danach habe er das Unternehmen mit reduzierter Belegschaft weiterführen
wollen. Das entspreche den Vereinbarungen mit dem Betriebsrat in einem
Interessenausgleich.
Die Kündigung sei im Übrigen auch gem. § 102 Abs. 1 BetrVG unwirksam, da der
Beklagte den Betriebsrat nicht ordnungsgemäß zu den im
Kündigungsschutzverfahren geltend gemachten Kündigungsgründen angehört
habe. Er habe sich dem Betriebsrat gegenüber nicht auf eine geplante
Betriebsschließung, sondern auf eine beabsichtigte Reduzierung der Belegschaft
berufen. Es könne auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Betriebsrat
gewusst habe, dass der Arbeitgeber die beabsichtigte Kündigung auf die nicht
ausdrücklich genannten und dem Betriebsrat bekannten Gründe habe stützen
wollen.
Gegen dieses ihm am 10.02.2006 zugestellte Urteil hat der Beklagte am
10.03.2006 durch Telekopie und am 13.03.2006 durch Originalschriftsatz Berufung
eingelegt und diese sogleich begründet.
Der Beklagte meint, das Arbeitsgericht sei von einem unzutreffenden Sachverhalt
ausgegangen. Er, der Beklagte, sei zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung
entschlossen gewesen, den Betrieb stillzulegen. Dieser Entschluss sei dem
Betriebsrat auch bekannt gewesen.
Der Investor sei erstmals nach Ausspruch der Kündigung, nämlich Anfang
November, aufgetreten. Zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung habe er,
der Beklagte, davon ausgehen müssen, dass er den Betrieb stillzulegen habe und
habe dementsprechend in Ausübung seiner Stilllegungsentscheidung den beiden
Arbeitnehmern - u. a. dem Kläger - gekündigt. Seine Stilllegungsabsicht sei
Grundlage aller Gespräche mit dem Betriebsrat gewesen. Hierzu habe er auch im
ersten Rechtszug auf Seite 2 des Schriftsatzes vom 05.01.2006 vorgetragen.
Auch der Betriebsrat sei ordnungsgemäß angehört worden. Der Betriebsrat habe
gewusst, dass der Betrieb habe stillgelegt werden sollen. Im Übrigen komme es
hierauf auch nicht an, da der Betriebsrat der Kündigung wegen Fortführung des
Betriebes mit reduzierter Belegschaft zugestimmt habe. Damit habe er erst recht
der Kündigung für die Betriebsstilllegung zugestimmt. Schließlich meint der
Beklagte, dass er eine Sozialauswahl nicht habe durchführen müssen.
Der Beklagte beantragt
die Klage unter Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts L... Az. 3 Ca 3173/05
vom 03.02.2006 abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
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hilfsweise,
den Beklagten zu verurteilen, das Angebot des Klägers auf Abschluss eines
Arbeitsvertrages als Elektromaschinenbauer gemäß den bisherigen Bedingungen
des Arbeitsvertrages vom 27.09.1994 anzunehmen.
Der Kläger verteidigte die Entscheidungsgründe des Arbeitsgerichts und trägt vor:
Er bestreite weiterhin, dass überhaupt ein Beschluss oder eine Entscheidung des
Beklagten zu einer Stilllegung vorliege. Die Kündigung stelle sich lediglich als
Reaktion des Beklagten auf seine, des Klägers, Weigerung dar, den
Aufhebungsvertrag abzuschließen. Gegen die Behauptung des Beklagten, den
Betrieb zum 31.01.2006 schließen zu wollen, spreche auch die Tatsache, dass er
gegenüber den anderen verbliebenen Arbeitnehmern nicht von der Möglichkeit
Gebrauch gemacht habe, diese Arbeitsverhältnisse aufgrund seines
Bestimmungsrechts zum 31.01.2006 zu beenden. Er bestreite, dass der
ungarische Investor erstmals Anfang November 2005 aufgetreten sei. Bestritten
werde auch, dass der Betriebsrat gewusst habe, dass der Betrieb zum 31.01.2006
habe stillgelegt werden sollen.
Hilfsweise berufe er sich auf einen Wiedereinstellungsanspruch. Diesen habe
außergerichtlich mit Schreiben vom 06.01.2006 geltend gemacht.
Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien Im Berufungsrechtszug wird auf den
Inhalt der gewechselten Schriftsätze, die zum Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gemacht worden sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist zulässig; sie ist dem Wert der Beschwer nach statthaft und form-
und fristgerecht eingelegt und begründet worden. In der Sache ist sie jedoch nicht
gerechtfertigt.
Das Arbeitsgericht hat der Klage zu Recht stattgegeben. Die Angriffe der Berufung
rechtfertigen keine abweichende Entscheidung.
1. Die Kündigung ist sozial ungerechtfertigt und damit rechtsunwirksam (§ 1 Abs. 1
und 2 KSchG). Der Beklagte hat sich auf dringende, betriebliche Erfordernisse,
nämlich die behauptete Absicht zur Stilllegung zum Zeitpunkt der Kündigung,
berufen. Hierzu hat er auch im Berufungsrechtszug nicht ausreichend
vorgetragen. Er beruft sich insoweit auf die Verhandlungen über den
Interessenausgleich und dessen Inhalt. Daraus ergibt sich jedoch lediglich, dass
die Stilllegung „nach dem jetzigen Stand“ stattfinden sollte. Eine endgültige
Stilllegungsabsicht ergibt sich daraus nicht. Insoweit hätte es noch einer
Konkretisierung des Entschlusses durch den Beklagten bedurft. Dass und ggf.
wann das geschehen ist, ist nicht dargelegt.
2. Der Beklagte kann sich überdies prozessrechtlich nicht darauf berufen, dass die
Kündigung auf die Stilllegung des Betriebs bzw. Betriebsteils in E... gestützt werden
soll.
a) Zwar ist die Anhörung des Betriebsrates insoweit, entgegen der Auffassung des
Arbeitsgerichts, ordnungsgemäß, da der Beklagte konkrete Kündigungsgründe
mitgeteilt hat. Der Beklagte kann sich jedoch in Grundsätzen des unzulässigen
Nachschiebens von Kündigungsgründen nicht darauf berufen, dass die Kündigung
aufgrund eines Stilllegungsentschlusses ausgesprochen worden ist.
b) Nach § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG muss der Arbeitgeber dem Betriebsrat
diejenigen Gründe mitteilen, die nach seiner subjektiven Sicht die Kündigung
rechtfertigen und für seinen Kündigungsentschluss maßgebend sind (Grundsatz
der subjektiven Determination). Diesen Kündigungssachverhalt muss er unter
Angabe von Tatsachen, aus denen der Kündigungsentschluss hergeleitet wird, so
beschreiben, dass der Betriebsrat ohne zusätzliche eigene Nachforschungen die
Stichhaltigkeit der Kündigungsgründe prüfen kann. Teilt der Arbeitgeber objektiv
kündigungsrechtlich erhebliche Tatsachen dem Betriebsrat deshalb nicht mit, weil
er darauf die Kündigung nicht oder zunächst nicht stützen will, dann ist die
Anhörung ordnungsgemäß, weil eine nur bei objektiver Würdigung unvollständige
Mitteilung der Kündigungsgründe nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung nach §
102 BetrVG führt. Eine in diesem Sinne objektiv unvollständige Anhörung verwehrt
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102 BetrVG führt. Eine in diesem Sinne objektiv unvollständige Anhörung verwehrt
es dem Arbeitgeber allerdings, im Kündigungsschutzprozess Gründe
nachzuschieben, die über die Erläuterung des mitgeteilten Sachverhalts
hinausgehen (st. Rechtspr, des Bundesarbeitsgerichts, zuletzt Urteil vom
06.10.2005 - 2 AZR 316/04 - AP Nr. 150 zu § 102 BetrVG).
c) Der Beklagte hat den Betriebsrat über einen anderen Kündigungsgrund, nämlich
die beabsichtigte Fortführung des Betriebs bzw. Betriebsteils in E... mit reduzierter
Belegschaft, unterrichtet. Allein auf diesen Kündigungsgrund kann er sich im
Rahmen des Kündigungsschutzprozesses berufen. Unerheblich ist, ob der
Betriebsrat von einer beabsichtigten Stilllegung Kenntnis hatte. Abgesehen davon,
dass der Beklagte auch hierzu nicht ausreichend vorgetragen hat, ergibt sich
bereits daraus, dass der Beklagte den Betriebsrat über einen anderen
Kündigungsgrund unterrichtet hat. Nach dem Grundsatz der subjektiven
Determination kommt es nicht darauf an, ob der Betriebsrat Kenntnis von
möglichen objektiven Kündigungsgründen hat. Vielmehr muss der Betriebsrat
wissen, auf welche Gründe der Arbeitgeber die Kündigung bei der Anhörung
stützen will. Hat der Arbeitgeber den Tatsachenkomplex umrissen, auf den er die
Kündigung stützen will, kann er im Prozess alle dazu gehörigen Tatsachen
vortragen, die er entweder dem Betriebsrat mitgeteilt hat oder die dem
Betriebsrat bekannt waren (vgl. hierzu Bundesarbeitsgericht, Urteil vom
11.12.2003 - 2 AZR 536/02 -, AP Nr. 65 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl), er
kann aber nicht - wie hier - den Kündigungsgrund auswechseln.
d) Dem Beklagten kann auch nicht darin gefolgt werden, dass sich aus der
Zustimmung des Betriebsrats zur Kündigung wegen Reduzierung der Belegschaft
im Erst-recht-Schluss ergebe, dass damit auch die Zustimmung zur Kündigung
wegen einer Betriebsstilllegung erteilt sei. Abgesehen davon, dass damit die
Nichtanhörung des Betriebsrats zur Stilllegungsabsicht nicht geheilt würde, stellt
die Stilllegung gegenüber der Fortführung des Betriebes mit eingeschränkter
Belegschaft kein „Minus“ dar.
Die Berufung war aus den dargelegten Gründen mit der Kostenfolge aus § 97 ZPO
zurückzuweisen.
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Sache keine grundsätzliche Bedeutung
hat.