Urteil des LAG Rheinland-Pfalz vom 11.01.2006

LArbG Mainz: fristlose kündigung, wichtiger grund, ärztliche anordnung, kündigungsfrist, arbeitsunfähigkeit, arbeitsgericht, ausstellung, arbeitsrecht, arbeitsfähigkeit, küchenchef

LAG
Mainz
11.01.2006
10 Sa 838/05
Fristlose Kündigung wegen vorzeitigem Verlassens des Arbeitsplatzes
Aktenzeichen:
10 Sa 838/05
3 Ca 1273/05
ArbG Ludwigshafen
Entscheidung vom 11.01.2006
Tenor:
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Ludwigshafen vom 2.8.2005 - AZ: 3
Ca 1273/05 - wird kostenfällig zurückgewiesen.
2. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer fristlosen Kündigung.
Die Klägerin war bei der Beklagten, die eine Gaststätte betreibt, seit dem 05.02.2004 als Bedienung
beschäftigt. Die Beklagte beschäftigt regelmäßig nicht mehr als 5 Arbeitnehmer.
Am 05.05.2005 verließ die Klägerin nach ihrer Behauptung um 17:40 Uhr, nach Behauptung der
Beklagten um 16:30 Uhr das Lokal, obwohl das reguläre Ende ihrer Arbeitszeit erst für 18:00 Uhr
vorgesehen war. Zuvor war es nach Behauptung der Klägerin zwischen ihr, dem Küchenchef und einer
Aushilfskraft in Anwesenheit der Gäste zu einer heftigen Auseinandersetzung gekommen, in deren Verlauf
ihr - der Klägerin - letztlich vorgeworfen wurde, für Kassenfehlbeträge verantwortlich zu sein.
Am 06.05.2005 wurde die Klägerin zunächst für 3 Tage und sodann am 09.05.2005 bis voraussichtlich
22.05.2005 arbeitsunfähig krankgeschrieben.
Mit Schreiben vom 19.05.2005, welches der Klägerin noch am selben Tag zuging, kündigte die Beklagte
das Arbeitsverhältnis fristlos sowie vorsorglich auch ordentlich. Hiergegen richtet sich die von der Klägerin
am 25.05.2005 beim Arbeitsgericht eingereichte Klage.
Die Klägerin hat erstinstanzlich geltend gemacht, die außerordentliche Kündigung sei in Ermangelung
eines wichtigen Grundes i. S. v. § 626 Abs. 1 BGB unwirksam mit der Folge, dass das Arbeitsverhältnis
erst mit Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist, mithin zum 30.06.2005, geendet habe.
Die Klägerin hat beantragt,
1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Partei nicht durch die außerordentliche Kündigung mit
Schreiben vom 19.05.2005 beendet worden ist.
2. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis aufgrund ordentlicher arbeitgeberseitiger Kündigung
außerhalb des Anwendungsbereiches des Kündigungsschutzgesetzes mit Ablauf des 30.06.2005 sein
Ende gefunden hat.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Darstellung des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes wird auf den Tatbestand des Urteils des
Arbeitsgerichts Ludwigshafen vom 02.08.2005 (Bl. 29 - 31 d. A.) Bezug genommen.
Das Arbeitsgericht hat mit Urteil vom 02.08.2005 festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht
durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 19.05.2005 sondern aufgrund ordentlicher
Kündigung mit Ablauf des 30.06.2005 beendet worden ist. Wegen der maßgeblichen
Entscheidungsgründe wird auf die Seiten 6 - 10 dieses Urteils (= Bl. 32 - 36 d. A.) verwiesen.
Gegen das ihr am 26.09.2005 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 17.10.2005 Berufung eingelegt und
diese gleichzeitig begründet.
Die Beklagte trägt im Wesentlichen vor, entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichts sei die fristlose
Kündigung in Ansehung des gravierenden Fehlverhaltens der Klägerin wirksam. Die Klägerin habe ohne
ausreichenden Grund und trotz eines Besucherandrangs am 05.05.2005 ihren Arbeitsplatz bereits um
16:30 Uhr verlassen. Die Klägerin sei zu keinem Zeitpunkt in die lediglich verbalen
Auseinandersetzungen zwischen dem Küchenchef und der Aushilfskraft eingebunden gewesen, so dass
für sie überhaupt keine Veranlassung bestanden habe, ihre Arbeit niederzulegen. Am Vormittag des
06.05.2005 habe sie sich sodann zu ihrer Ärztin begeben und die Forderung erhoben, krankgeschrieben
zu werden. Es hätten jedoch keinerlei Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit vorgelegen.
Die Beklagte beantragt,
das erstinstanzliche Urteil abzuändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin verteidigt das erstinstanzliche Urteil und macht im Wesentlichen geltend, wegen der
massiven Beleidigungen, insbesondere wegen des gegenüber ihr erhobenen Vorwurfs, für
Kassenfehlbeträge verantwortlich zu sein, sei sie am Nachmittag des 05.05.2005 nicht mehr in der Lage
gewesen, ihre Arbeit fortzusetzen. Keineswegs treffe es zu, dass ab dem 06.05.2005 keine
Arbeitsunfähigkeit bestanden habe. Die behandelnde Ärztin habe die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung,
die der Beklagten vorliege, nach vorheriger Untersuchung erstellt. Im Übrigen sei ihr instabiler
Gesundheitszustand der Beklagten bekannt gewesen, da sie - die Klägerin - bereits in der Zeit vom 13.04.
bis 01.05.2005 arbeitsunfähig krank geschrieben gewesen sei. Die Beklagte habe aufgrund eines
entsprechenden Gespräches gewusst, dass die Erkrankung auf einer Überbelastung beruhe und dass sie
auf ärztliche Anordnung hin Antidepressiva einnehmen müsse.
Zur weitergehenden Darstellung des Vorbringens der Parteien im Berufungsverfahren wird auf die
Berufungsbegründungsschrift der Beklagten vom 14.10.2005 (Bl. 40 - 42 d. A.), auf den weiteren
Schriftsatz der Beklagten vom 16.11.2005 (Bl. 58 - 59 d. A.), auf die Berufungserwiderungsschrift der
Klägerin vom 20.10.2005 (Bl. 46 - 50 d. A.) sowie auf den weiteren Schriftsatz der Klägerin vom
01.12.2005 (Bl. 61 u. 62 d. A.) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte Berufung ist sowohl form- als auch fristgerecht eingelegt und begründet worden. Das
demnach insgesamt zulässige Rechtsmittel hat in der Sache jedoch keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht hat
der Klage vielmehr zu Recht stattgegeben.
Die gegen die mit Schreiben vom 19.05.2005 ausgesprochene fristlose Kündigung gerichtete
Kündigungsschutzklage ist begründet. Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist durch diese Kündigung nicht
aufgelöst worden. Die Kündigung erweist sich in Ermangelung eines wichtigen Grundes i. S. v. § 626 Abs.
1 BGB als rechtsunwirksam.
Ein wichtiger Grund i. S. v. § 626 Abs. 1 BGB ist nach der gesetzlichen Definition gegeben, wenn
Tatsachen vorliegen, die es dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles
und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile unzumutbar machen, das Arbeitsverhältnis für
die Dauer der ordentlichen Kündigungsfrist oder bis zur vereinbarten Beendigung des
Arbeitsverhältnisses fortzusetzen. Es ist daher zunächst zu prüfen, ob ein bestimmter Sachverhalt - ohne
die besonderen Umstände des Einzelfalles - (überhaupt) geeignet ist, einen wichtigen Grund zu bilden.
Sodann ist zu untersuchen, ob unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter
Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die konkrete Kündigung gerechtfertigt ist, d. h. ob es dem
Kündigenden unzumutbar geworden ist, das Arbeitsverhältnis bis zu dem gem. § 626 Abs. 1 BGB
relevanten Zeitpunkt fortzusetzen.
Soweit die Beklagte die außerordentliche Kündigung auf den Umstand stützt, dass die Klägerin am
05.05.2005 ihren Arbeitsplatz vor Arbeitszeitende verlassen hat, so kann offen bleiben, ob ein solches
Verhalten grundsätzlich geeignet ist, einen wichtigen Grund im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB zu bilden.
Denn auch dann, wenn man diese Frage zu Gunsten der Beklagten bejaht, so war es ihr jedenfalls bei
Berücksichtigung der besonderen Umstände des vorliegenden Einzelfalles nicht unzumutbar, das
Arbeitsverhältnis jedenfalls noch bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist (30.06.2005)
fortzusetzen. Zu Gunsten der Klägerin ist nämlich zu berücksichtigen, dass sie kurz vor dem Verlassen des
Arbeitsplatzes im Rahmen einer heftigen und von ihr nicht verschuldeten verbalen Auseinandersetzung
vor den anwesenden Gästen mit dem Vorwurf konfrontiert worden war, für Kassenfehlbestände
verantwortlich zu sein. Den diesbezüglichen substantiierten Sachvortrag der Klägerin hat die Beklagte
zwar durch ihre Behauptung, die Klägerin sei "nach diesseitigen Erkenntnissen zu keinem Zeitpunkt in die
lediglich verbalen Auseinandersetzungen eingebunden gewesen", bestritten. Jedoch hat die auch für die
Schwere der Vertragsverletzung, das Maß des Verschuldens der Klägerin und für das Nichtvorliegen
besonderer, zu Gunsten der Klägerin zu berücksichtigender Umstände darlegungs- und beweisbelastete
Beklagte ihre diesbezügliche Behauptung nicht unter Beweis gestellt. Es ist daher hinsichtlich der
Geschehnisse vor dem Verlassen des Arbeitsplatzes vom Sachvortrag der Klägerin auszugehen. Die
Klägerin befand sich demnach am Nachmittag des 05.05.2005 in einer besonderen, sie nervlich
zweifellos belastenden Situation, welche ihre Arbeitsniederlegung zwar weiterhin zweifellos als
vertragswidrig, jedoch durchaus in einem milderen Licht erscheinen lässt. Ausgehend vom Sachvortrag
der Klägerin stellt sich ihr Fehlverhalten als Kurzschlussreaktion dar, aus der sich eine Unzumutbarkeit für
die Beklagte, das Arbeitsverhältnis bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist fortzusetzen, nicht
herleiten lässt. Es kann im Übrigen auch keineswegs ausgeschlossen werden, dass sich die Klägerin in
der betreffenden Situation - wie von ihr behauptet - nervlich nicht mehr in der Lage sah, ihre Arbeit noch
fortzusetzen.
Die Beklagte kann die fristlose Kündigung vorliegend im Ergebnis auch nicht mit Erfolg auf die
Behauptung stützen, die Klägerin habe sich in der Folgezeit ohne Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit
krankschreiben lassen. Unstreitig hat die Klägerin der Beklagten für den Zeitraum vom 06.05. bis
einschließlich 22.05.2005 zwei von ihrer behandelnden Ärztin ausgestellte
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zukommen lassen. Mit der Ausstellung einer ordnungsgemäßen
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung besteht eine tatsächliche Vermutung, dass der Arbeitnehmer
tatsächlich infolge Krankheit arbeitsunfähig war (vgl. Dörner, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 5.
Aufl., § 5 EFZG, Rz. 33 m. Nw. a. d. Rspr.). Umstände, die den Beweiswert der der Klägerin ausgestellten
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erschüttern oder gar den Verdacht des "Krankfeierns" begründen
könnten (vgl. die Beispiele bei Dörner, a. a. O., RZ 39 ff. sowie bei Müller-Glöge, in Erfurter Kommentar
zum Arbeitsrecht, 5. Aufl., § 626 BGB Rz. 142), hat die Beklagte nicht dargetan. Soweit sie diesbezüglich
behauptet, die Klägerin habe sich am 06.05.2005 zu ihrer Ärztin begeben und die Forderung erhoben,
krankgeschrieben zu werden, so ist dieses Vorbringen - selbst wenn man seine Richtigkeit unterstellt -
nicht geeignet, den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen im Streitfall in Zweifel zu ziehen.
Das Verlangen des Arbeitnehmers, krankgeschrieben zu werden, steht nämlich jedenfalls dann der
Annahme einer Arbeitsunfähigkeit nach Ausstellung einer entsprechenden ärztlichen Bescheinigung nicht
entgegen, wenn der Arzt den Arbeitnehmer - wie von der Klägerin vorgetragen und seitens der Beklagten
nicht bestritten - vor Ausstellung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung untersucht hat. Von einem bloßen
Gefälligkeitsattest kann in diesem Fall nicht ausgegangen werden. Soweit die Beklagte schließlich
behauptet, bei der Klägerin hätten keinerlei Einschränkungen ihrer Arbeitsfähigkeit vorgelegen, so
handelt es sich um ein unsubstantiiertes und demzufolge unzureichendes Bestreiten der attestierten
Arbeitsunfähigkeit. Es wäre insoweit Sache der Beklagten gewesen, konkrete Umstände darzulegen und
ggf. zu beweisen, aus denen sich begründete Zweifel an der Richtigkeit der
Arbeitunfähigkeitsbescheinigungen ergeben (vgl. auch Matissek, in: Arbeitsrechts-Lexikon, Stichwort:
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung).
Da sich die streitbefangene fristlose Kündigung somit als unwirksam erweist, hat das Arbeitsverhältnis der
Parteien - wie im Tenor des arbeitsgerichtlichen Urteils festgestellt - infolge der von der Beklagten
hilfsweise ausgesprochenen ordentlichen Kündigung erst mit Ablauf der in § 12 Ziffer 1 des
allgemeinverbindlichen Manteltarifvertrages für das Hotel- und Gaststättengewerbe Rheinland-Pfalz
normierten Kündigungsfrist von vier Wochen zum Fünfzehnten bzw. zum Ende eines Kalendermonats,
mithin zum 30.06.2005 geendet.
Nach alledem war die Berufung der Beklagten mit der sich aus § 97 Abs. 1 ZPO ergebenden Kostenfolge
zurückzuweisen.
Für die Zulassung der Revision bestand im Hinblick auf die in § 72 Abs. 2 ArbGG genannten Kriterien
keine Veranlassung. Auf die Möglichkeit, die Nichtzulassung der Revision selbständig durch Beschwerde
anzufechten (§ 72 a ArbGG), wird hingewiesen.