Urteil des LAG Rheinland-Pfalz vom 10.03.2011

LArbG Mainz: gegen die guten sitten, altersrente, sozialplan, rückforderung, abweisung, betriebsrat, eugh, unverzüglich, behinderung, klageänderung

LAG
Mainz
10.03.2011
10 Sa 547/10
Sozialplan - Ungleichbehandlung wegen des Alters
Aktenzeichen:
10 Sa 547/10
4 Ca 665/10
ArbG Mainz
Entscheidung vom 10.03.2011
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Mainz vom 13. September 2010, Az.: 4 Ca
665/10, wird zurückgewiesen.
Die weitergehende Klage wird abgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
Die Revision wird zugelassen, soweit der Antrag zu 4.1. a) auf Zahlung einer Sozialplanabfindung in
Höhe von € 156.695,42 brutto abgewiesen worden ist. Im Übrigen wird die Revision nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Parteien streiten zuletzt noch über die Höhe einer Sozialplanabfindung.
Der am 10.06.1949 geborene Kläger ist in dritter Ehe verheiratet, er gewährt noch zwei Kindern Unterhalt.
Er ist mit einem GdB von 30 behindert und wurde auf seinen Antrag vom 17.11.2009 mit Bescheid vom
07.12.2009 einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt. Er war bei der Beklagten, die ein
Versandhandelsunternehmen mit über 900 Arbeitnehmern betreibt, seit dem 01.06.1972 als Bezirksleiter
im Sammelbesteller-Außendienst beschäftigt. Die Geschäftsführung der Beklagten beschloss im
September 2009, diesen Außendienst mit Wirkung zum 31.12.2009 ersatzlos einzustellen. Am 04.11.2009
vereinbarte sie mit dem Gesamtbetriebsrat einen Interessenausgleich mit Namensliste gemäß § 1 Abs. 5
KSchG. In der Liste sind 136 Arbeitnehmer, auch der Kläger, namentlich aufgeführt. Mit Datum vom
05.11.2009 schloss die Beklagte mit dem Gesamtbetriebsrat einen Sozialplan (Bl. 100-102 d.A.). Dieser
lautet - auszugsweise - wie folgt:
㤠2
Abfindung
2.2. Die Abfindung berechnet sich nach folgender Formel:
(Bruttoentgelt x Betriebszugehörigkeitszeit x Lebensalter) dividiert durch 60
Für die im Außendienst tätigen Arbeitnehmer … wird … das „Bruttoentgelt“ wie folgt pauschaliert:
bei Bezirksleitern: 3.650 EUR
bei Gebietsleitern: 4.450 EUR
Maximal beläuft sich die Abfindung auf den Betrag, den der Arbeitnehmer bei fortbestehendem
Arbeitsverhältnis bis zum frühestmöglichen Zeitpunkt des Anspruchs auf gesetzliche ungekürzte
Altersrente brutto verdient hätte.
§ 3
Sonderregelung für rentennahe Arbeitnehmer
3.1. Arbeitnehmer, die bei Ausschöpfung des gesetzlich höchstmöglichen
Arbeitslosengeldanspruchs nahtlos einen Anspruch auf Altersrente aus der gesetzlichen
Rentenversicherung haben, haben keinen Anspruch auf eine Abfindung nach § 2 dieses Sozialplans.
Für Abschläge aus der gesetzlichen Rentenversicherung infolge eines vorzeitigen Bezuges von
Altersruhegeld wird eine zusätzliche Abfindung in Höhe von 270 Euro brutto pro 0,1 % Rentenminderung
gezahlt. …
…“
§ 4
Sozialzuschläge
Schwerbehinderte Menschen und Gleichgestellte im Sinne des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches
(SGB IX) erhalten für den Grad der Behinderung bis 50 Prozent zusätzlich zu der Abfindung einen Betrag
von 5.000,00 Euro brutto; für jede weiteren 10 Grad der Behinderung steigt der Betrag um 1.000,00 Euro
(…).
Für jedes im Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Sozialplans auf der Steuerkarte eingetragene
unterhaltsberechtigte Kind wird ein zusätzlicher Abfindungsbetrag von 500 Euro gezahlt.
§ 6
Entstehung, Vererblichkeit und Fälligkeit des Abfindungsanspruchs
Der Abfindungsanspruch ist fällig am 31. Januar 2010.
Die Fälligkeit ist im Falle der Erhebung einer Kündigungsschutzklage oder einer Klage gegen die
Wirksamkeit einer Beendigungsvereinbarung bis zu einer Klagerücknahme oder einer rechtskräftigen
Abweisung der Klage gehemmt.
…“
In der
Protokollnotiz
Die Parteien des Sozialplans vereinbaren verbindlich, dass das Abfindungsvolumen aus beiden
Maßnahmen 6,8 Mio. EUR beträgt.
Sollte sich nach Abschluss des Interessenausgleichsverfahrens/ Vereinbarung der Namensliste …
herausstellen, dass das Abfindungsvolumen von 6,8 Mio. EUR … unterschritten würde, verpflichten sich
die Parteien zu einer entsprechenden Anpassung des o.g. Sozialplans mit dem Ziel einer vollständigen
Auskehrung des Sozialplanvolumen an die Betroffenen.
Gleiches gilt, wenn ein nach derzeitigem Kenntnisstand der in § 3 des Sozialplans enthaltenen
„Sonderregelung für rentennahe Arbeitnehmer“ unterfallender Arbeitnehmer nach Vorlage seiner
Rentenauskunft wieder aus der Regelung herausfällt und das Sozialplanvolumen von 6,8 Mio. EUR
deshalb über-/ unterschritten wird.
Im Fall der Nichteinigung entscheidet die Einigungsstelle.
…“
Nach Zustimmung des zuständigen Integrationsamtes mit Bescheid vom 24.03.2010 kündigte die
Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger mit Schreiben vom 26.03.2010 zum 31.10.2010
betriebsbedingt. Der Kläger hat die dagegen gerichtete Kündigungsschutzklage (Klageantrag zu 1), den
Feststellungsantrag auf unveränderten Fortbestand des Arbeitsverhältnisses (Klageantrag zu 2) und den
Weiterbeschäftigungsantrag (Klageantrag zu 3) in der mündlichen Berufungsverhandlung am 10.03.2011
mit Zustimmung der Beklagten zurückgenommen.
Die Beklagte hat für den Kläger eine Abfindung gemäß § 3 des Sozialplans von € 22.200,00 errechnet
(€ 16.200,00 [€ 270,00 x 60 wg. 6 % Rentenminderung] + € 6.000,00 Sozialzuschläge [€ 5.000 wg.
Gleichstellung, € 1.000,00 wg. zwei Kindern). Der Kläger ist der Ansicht, ihm stehe eine Abfindung von
€ 156.695,42 brutto nach § 2 des Sozialplans zu.
Von einer wiederholenden Darstellung des unstreitigen Tatbestandes, des erstinstanzlichen
Parteivorbringens und der erstinstanzlichen Sachanträge wird gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG abgesehen und
auf die Zusammenfassung im Urteil des Arbeitsgerichts Mainz vom 13.09.2010 (dort Seite 2-7 = Bl. 207-
212 d. A.) Bezug genommen.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, die
Sonderregelung für rentennahe Arbeitnehmer in § 3 des Sozialplans sei wirksam. Die Regelung trage in
zulässiger Weise dem Umstand Rechnung, dass Arbeitnehmer, die bei Ausschöpfung des gesetzlich
höchstmöglichen Arbeitslosengeldanspruchs nahtlos eine Altersrente aus der gesetzlichen
Rentenversicherung beanspruchen könne, weniger schutzbedürftig seien, als solche, die hierfür einen
weiteren Zeitraum überbrücken müssen. Auch in Bezug auf die Vorschriften des AGG bestünden nach der
Rechtsprechung des BAG (Urteil vom 26.05.2009 - 1 AZR 198/08 - NZA 2009, 849) keine rechtlichen
Bedenken.
Das Urteil vom 13.09.2010 ist dem Kläger am 04.10.2010 zugestellt worden. Er hat mit am 07.10.2010
beim Landesarbeitsgericht eingegangenem Schriftsatz Berufung eingelegt und diese innerhalb der bis
zum 04.01.2011 verlängerten Begründungsfrist am 03.01.2011 begründet.
Der Kläger ist der Ansicht, § 3 des Sozialplans diskriminiere ihn wegen seines Alters und verstoße gegen
Art. 2 und Art. 6 der Richtlinie 78/2000/EG. § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG sei nicht anzuwenden bzw.
gemeinschaftsrechtskonform auszulegen. Er werde gemäß § 3 des Sozialplans gezwungen, mit einem
Abschlag von 7,2 % (im Juli 2012), mindestens jedoch von 6 % (im November 2012) in vorgezogene
Altersrente zu gehen, um überhaupt eine Abfindung zu erhalten. Dies stelle nach der Rechtsprechung des
EuGH in der Rechtssache Andersen (Urteil vom 12.10.2010 - C 499/08 - NZA 2010, 1341) eine
unzulässige Diskriminierung wegen des Alters dar. Auch nach der Rechtsprechung des BAG (Urteil vom
23.03.2010 - 1 AZR 832/08 - NZA 2010, 774) sei die Sozialplanregelung der Beklagten unwirksam. Die
Differenz zwischen den Abfindungen nach § 2 und § 3 des Sozialplans betrage in seinem Fall
€ 134.495,00 brutto. Diese Kürzung benachteilige ältere Arbeitnehmer bei einer typisierenden
Betrachtungsweise unangemessen. Bei einer monatlichen Durchschnittsrente von statistisch € 987,00
seien Altersrentner sozial nicht abgesichert, insbesondere wenn sie mit lebenslangen Abschlägen in
Rente gehen müssten. Bei einer hohen Ehescheidungsquote reduziere sich - in Westdeutschland in der
Regel bei Männern - das Rentenkonto durch den Versorgungsausgleich erheblich. Die Annahme des
BAG, Rentner seien per se sozial abgesichert, sei nur noch ein „frommer Wunsch“. Seine Einbußen seien
erheblich. Die Differenz zwischen dem Arbeitslosengeld in Höhe von € 1.662,00 (vom 01.11.2010 bis
30.10.2012) und seinem Einkommen bei der Beklagten betrage monatlich € 905,43 netto. Bei
Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente sei die Differenz noch höher. Er werde nur eine
niedrige Sozialversicherungsrente von monatlich ca. € 1.000,00 beziehen, weil nach jeder Scheidung ein
Versorgungsausgleich durchgeführt worden sei.
Rein vorsorglich stütze er den Zahlungsanspruch sowohl auf einen Nachteilsausgleich gemäß § 113
BetrVG, als auch auf einen Schadensersatzanspruch gemäß § 826 BGB.
Die Beklagte könne sich nicht darauf berufen, dass das vereinbarte Sozialplanvolumen von € 6,8 Mio.
nicht ausreiche, um den rentennahen Arbeitnehmern eine Abfindung nach der in § 2 des Sozialplans
vereinbarten Formel zu zahlen. Sie habe - trotz mehrerer Gerichtsverfahren - Abfindungen an die unter § 2
des Sozialplans fallenden Arbeitnehmer gezahlt und sogar den Härtefonds ohne Vorbehalt ausgekehrt.
Wer sich so verhalte, könne sich nicht darauf berufen, dass das Sozialplanvolumen nicht ausreiche.
Aufgrund der Auszahlung der Abfindungen, die die Beklagte nicht zurückfordern könne, sei wohl auch
keine Neuverteilung der € 6,8 Mio. möglich. Ihm sei unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung mit
den Arbeitnehmern, die ihre Abfindung bereits erhalten hätten, die Abfindung ebenfalls zuzusprechen;
zumindest unter dem Vorbehalt der Rückforderung. Nur so bestehe ein ausreichender Anreiz für die
Beklagte, eine Änderung des Sozialplans herbeizuführen. Sollte das Gericht der Argumentation der
Beklagten folgen, ergäbe sich ein Anspruch auf Ergänzung der Protokollnotiz des Sozialplans vom
05.11.2009, wo eine Verhandlungsverpflichtung festgehalten worden sei. Sollte er eine Änderung des
Sozialplans nicht erzwingen können, wäre dem hilfsweisen Klageanspruch auch daher stattzugeben,
zumindest dem Vorbehaltsantrag. Wegen weiterer Einzelheiten der Berufungsbegründung wird auf die
Schriftsätze des Klägers vom 03.01.2011 (Bl. 261-279 d. A.), vom 25.02.2011 (Bl. 353-356 d.A.) und vom
28.02.2011 (Bl. 369-379 d.A.) Bezug genommen.
Der Kläger beantragt zweitinstanzlich zuletzt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Mainz vom 13.09.2010, Az.: 4 Ca 665/10, abzuändern und
4.1. die Beklagte zu verurteilen, an ihn € 156.695,42 brutto Sozialplanabfindung nebst Zinsen in Höhe von
5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit dem 01.02.2010 zu zahlen,
hilfsweise hierzu: festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, an ihn im Falle der rechtskräftigen
Abweisung des Klageantrages zu 1) (hilfsweise der Klageanträge zu 1 bis 3) € 156.695,42 brutto
Sozialplanabfindung nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz
hieraus seit dem 01.02.2010 zu zahlen,
4.2. hilfsweise zu 4.1. a) und b):
die Beklagte zu verurteilen, an ihn € 156.695,42 brutto Sozialplanabfindung nebst Zinsen in Höhe von
5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit dem 01.02.2010 unter dem Vorbehalt
der Rückforderung zu zahlen,
hilfsweise hierzu: festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, an den Kläger im Falle der
rechtskräftigen Abweisung des Klageantrages zu 1), (hilfsweise der Klageanträge zu 1 bis 3) € 156.695,42
brutto Sozialplanabfindung nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen
Basiszinssatz hieraus seit dem 01.02.2010 unter dem Vorbehalt der Rückforderung zu zahlen,
hilfsweise hierzu:
die Beklagte zu verurteilen, mit dem Betriebsrat Verhandlungen über die Änderungen des Sozialplanes
vom 05.11.2009 unverzüglich aufzunehmen und bei Nichteinigung unverzüglich die Einigungsstelle
anzurufen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers zurückzuweisen,
die in zweiter Instanz erweiterte Klage abzuweisen.
Sie verteidigt das angefochtene Urteil nach Maßgabe ihrer Berufungserwiderung vom 04.02.2011
(Bl. 329-347 d.A.) und des Schriftsatzes vom 07.03.2011 (Bl. 385-387 d.A.), auf die Bezug genommen
wird, als zutreffend. Der Kläger könne keine erhöhte Abfindung beanspruchen. Die Abfindungsregelung
für rentennahe Arbeitnehmer in § 3 des Sozialplans verstoße weder gegen das AGG noch gegen die
Richtlinie 2000/78/EG. Die streitgegenständliche Regelung genüge auch den Anforderungen der BAG-
Entscheidung vom 23.03.2010 (1 AZR 832/08 - NZA 2010, 774). Der Betrag von € 16.200,00 (ohne
Sozialzuschläge) würde die Rentenminderung wegen vorgezogener Inanspruchnahme für mehr als
15 Jahre abdecken. Auch die EuGH-Entscheidung vom 12.10.2010 (C 499/08 - NZA 2010, 1341) führe
nicht zur Unwirksamkeit der vorliegenden Regelung für rentennahe Arbeitnehmer.
Selbst bei unterstellter Unwirksamkeit des § 3 des Sozialplans bestünde der geltend gemachte
Zahlungsanspruch jedenfalls zur Zeit nicht, weil die Mehrkosten, die mit einer Anwendung der in § 2 des
Sozialplans enthaltenen allgemeinen Abfindungsformel auf die Gruppe der rentennahen Arbeitnehmer
entstünden, für sie nicht mehr hinnehmbar seien. Das bei Anwendung des § 3 des Sozialplans auf die
Gesamtheit der 30 rentennahen Arbeitnehmer entfallende Abfindungsvolumen betrage € 803.400,00. Es
würde sich auf € 2.376.569,00 erhöhen, also um einen Betrag von ca. € 1,57 Mio., wenn man auf diese
Personengruppe die Abfindungsformel des § 2 des Sozialplans anwenden müsste. Die Parteien des
Sozialplans seien - wie sich aus Ziffer 3.2. der Protokollnotiz ergebe - übereinstimmend von einem
Sozialplanvolumen von 6,8 Mio. ausgegangen. Eine Steigerung des Sozialplanvolumens um ca. 23,1 %
sei nicht mehr hinnehmbar. Ggf. wären die Betriebspartner verpflichtet, den wegen Wegfalls der
Geschäftsgrundlage insgesamt unwirksamen Sozialplan neu zu verhandeln.
Zur näheren Darstellung des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die zwischen den Parteien
gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
I.
§§ 517, 519 ZPO form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist somit zulässig.
Der Kläger hat in der Berufungsinstanz mit seinen neu gestellten Hilfsklageanträgen neue
Streitgegenstände in den Prozess eingeführt. Hierin liegt eine nachträgliche (Eventual-)Klagehäufung, die
wie eine Klageänderung im Sinne der §§ 263, 533 ZPO zu behandeln ist (BAG Beschluss vom 11.04.2006
- 9 AZN 892/05 - AP Nr. 1 zu § 533 ZPO; BGH Urteil vom 27.09.2006 - VIII ZR 19/04 - NJW 2007, 2414).
Nach § 533 ZPO, der gemäß § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG auch im arbeitsgerichtlichen Berufungsverfahren
Anwendung findet, ist eine Klageänderung in der Berufungsinstanz zulässig, wenn (1.) der Gegner
einwilligt oder das Gericht dies für sachdienlich hält und (2.) diese auf Tatsachen gestützt werden kann,
die das Berufungsgericht seiner Verhandlung und Entscheidung über die Berufung ohnehin nach § 529
ZPO zugrunde zu legen hat. Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Die Beklagte hat in die
Klageänderung ausdrücklich eingewilligt. Die für die Hilfsanträge maßgebenden Tatsachen machen nicht
die Beurteilung eines völlig neuen Streitstoffs erforderlich. Die neu in den Rechtsstreit eingeführten
Hilfsanträge stellen einen selbständigen Angriff dar. Sie unterliegen nicht der Bestimmung über die
Zulassung verspäteter Angriffsmittel nach § 67 ArbGG.
II.
sind abzuweisen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zahlung einer Abfindung, die den von der
Beklagten errechneten Betrag von € 22.200,00 brutto übersteigt. Er hat auch keinen Anspruch darauf,
dass die Beklagte mit dem Betriebsrat Verhandlungen über eine Änderung des Sozialplans vom
05.11.2009 aufnimmt.
1.
zahlen. Der nach Rücknahme der Klageanträge zu 1) bis 3) (Kündigungsschutz-, allgemeiner
Feststellungs- und Weiterbeschäftigungsantrag) nunmehr als Hauptantrag gestellte Zahlungsantrag zu
4.1. a) ist unbegründet.
Die Beklagte hat die sich aus dem Sozialplan vom 05.11.2009 ergebenden Ansprüche des Klägers
zutreffend mit € 22.200,00 errechnet. Der Kläger hat nach § 3 des Sozialplans einen Anspruch auf
€ 16.200,00. Hinzu kommen nach § 4 des Sozialplans weitere € 5000,00 als Ausgleich für den
festgestellten Grad der Behinderung von 30 sowie € 1.000,00 für zwei unterhaltsberechtigte Kinder, die
auf der Lohnsteuerkarte eingetragen waren. Der Kläger kann nach § 127 Abs. 2 SGB III 24 Monate
Arbeitslosengeld I (vom 01.11.2010 bis 31.10.2012) beanspruchen. Ab dem 01.11.2012 erfüllt er die
Voraussetzungen für den Bezug einer vorgezogenen Altersrente wegen Arbeitslosigkeit nach § 237
SGB VI. Die Inanspruchnahme dieser Rente führt zu einer Minderung der Rente um 6 % (20 Monate x
0,3 %). Wegen dieser Minderung besteht nach § 3 des Sozialplans ein Anspruch auf Zahlung von
€ 270,00 pro 0,1 %; mithin € 16.200,00 (€ 270,00 x 60).
Der Kläger hat keinen weitergehenden Abfindungsanspruch. Die Sonderregelung in § 3 des Sozialplans
für rentennahe Arbeitnehmer verstößt nicht gegen höherrangiges Recht.
Nach § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG können die Betriebsparteien eine nach Alter oder Betriebszugehörigkeit
gestaffelte Abfindungsregelung vorsehen, in der sie die wesentlich vom Alter abhängenden Chancen auf
dem Arbeitsmarkt durch eine verhältnismäßig starke Betonung des Lebensalters erkennbar
berücksichtigen, oder auch Beschäftigte von den Leistungen des Sozialplans ausschließen, weil diese,
gegebenenfalls nach Bezug von Arbeitslosengeld I, rentenberechtigt sind. Mit dieser Vorschrift hat der
Gesetzgeber den Betriebsparteien einen Gestaltungs- und Beurteilungsspielraum eröffnet, der es ihnen
unter den in der Vorschrift bestimmten Voraussetzungen ermöglicht, das Lebensalter als
Bemessungskriterium für die Sozialplanabfindung heranzuziehen.
Das BAG hat mit Urteil vom 26.05.2009 (1 AZR 198/08 - NZA 2009, 849) festgestellt, dass eine
Abfindungsregelung in einem Sozialplan, die zwischen „rentenfernen“ und „rentennahen“ Jahrgängen
differenziert, durch § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG gedeckt ist und auch nicht gegen die Richtlinie 2007/78/EG
verstößt. Das BAG hat sich ausführlich mit Fragen der Diskriminierung wegen des Alters beschäftigt und
u.a. ausgeführt:
„Rn. 48 Die Vorschrift [§ 10 Satz 3 Nr. 6 AGG] ist auch insoweit gemeinschaftsrechtskonform, als sie den
Ausschluss von Sozialplanleistungen ermöglicht, wenn Arbeitnehmer, gegebenenfalls nach dem Bezug
von Arbeitslosengeld, gesetzliche Altersrente in Anspruch nehmen können.
Rn. 49 Die gesetzliche Regelung ist auch in dieser Hinsicht mit der Richtlinie 2000/78/EG vereinbar. Die
Differenzierung zwischen „rentenfernen“ und „rentennahen“ Jahrgängen ist i.S.v. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der
Richtlinie 2000/78/EG objektiv und angemessen und im Rahmen des deutschen Rechts durch ein
legitimes sozialpolitisches Ziel gerechtfertigt. Auch das Mittel zur Erreichung dieses Ziels ist angemessen
und erforderlich. Der deutsche Gesetzgeber verfolgt auch mit dieser Regelung das im Allgemeininteresse
liegende sozialpolitische Ziel, den Betriebsparteien zu ermöglichen, Sozialplanleistungen an den
wirtschaftlichen Nachteilen zu orientieren, die den Arbeitnehmern drohen, die durch eine
Betriebsänderung ihren Arbeitsplatz verlieren. Diese Nachteile sind bei Arbeitnehmern, die wirtschaftlich
abgesichert sind, weil sie, gegebenenfalls nach dem Bezug von Arbeitslosengeld, gesetzliche Altersrente
in Anspruch nehmen können, geringer als bei den von längerer Arbeitslosigkeit bedrohten „rentenfernen“
Arbeitnehmern (vgl. dazu zuletzt BAG 30.09.2008 - 1 AZR 684/07 - Rn. 38 m.w.N - AP BetrVG 1972 § 112
Nr. 197; BAG 20.01.2009 - 1 AZR 740/07 - Rn. 17, 25 m.w.N - NZA 2009, 495). Es ist ein legitimes Ziel,
diesem Umstand durch differenzierte Sozialplanleistungen Rechnung tragen zu können. Dazu ist es
angemessen und erforderlich, den Betriebsparteien entsprechende Sozialplangestaltungen zu
ermöglichen. Durch die Reduzierung der Sozialplanabfindungen bei rentennahem Ausscheiden ist es
möglich, im Interesse der Verteilungsgerechtigkeit das weitere Anwachsen der Abfindungen trotz
abnehmender Schutzbedürftigkeit zu korrigieren.“
Dem ist nichts hinzuzufügen. Das BAG hat in der Entscheidung vom 26.05.2009 einen vollständigen
Ausschluss von Sozialplanleistungen bei „rentennahen“ Arbeitnehmern für möglich gehalten. Das BAG
hat seine Rechtsprechung mit Urteil vom 23.03.2010 (1 AZR 832/08 - NZA 2010, 774) im Wesentlichen
bestätigt und u.a. ausgeführt:
„Rn. 20 „§ 10 Satz 3 Nr. 6 AGG ermöglicht danach den Betriebsparteien unter den dort bestimmten
Voraussetzungen eine unmittelbar auf dem Alter beruhende Ungleichbehandlung in einem Sozialplan.
Die Vorschrift bestimmt aber nur das legitime Ziel i.S.v. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2000/78/EG und
eröffnet den Betriebsparteien einen Gestaltungs- und Beurteilungsspielraum. Dessen Ausgestaltung
unterliegt noch einer weiteren Verhältnismäßigkeitsprüfung nach § 10 Satz 2 AGG. Die von den
Betriebsparteien gewählte Sozialplangestaltung muss geeignet sein, das mit § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG
verfolgte Ziel tatsächlich zu fördern und darf die Interessen der benachteiligten (Alters-)Gruppe nicht
unverhältnismäßig stark vernachlässigen.“
Unter Anwendung dieser Rechtsprechungsgrundsätze auf den vorliegenden Fall, haben die
Betriebsparteien die Interessen der „rentennahen“ Altersgruppe, der der (am 10.06.1949 geborene)
Kläger angehört, im Sozialplan vom 05.11.2009 nicht unverhältnismäßig stark vernachlässigt, wie die
Berufung meint. Der Kläger erhält zusätzlich zu den Sozialzuschlägen von € 6.000,00 eine Abfindung von
€ 16.200,00. Dass der Kläger wegen zwei Scheidungen - trotz einer besonders langjährigen
Rentenversicherung von über 45 Jahren - nur eine relativ geringe Altersrente von ca. € 1.000,00
monatlich beziehen wird, macht die Regelung in § 3 des Sozialplans nicht unverhältnismäßig. Auf die
konkrete wirtschaftliche Absicherung des Klägers, dessen persönliche Rente sich durch zwei
Versorgungsausgleiche verringert, kommt es nicht an. Mit den Vorschriften über die gesetzliche
Rentenversicherung und ihre Ausgestaltung hat der Gesetzgeber ein geeignetes
Altersversorgungssystem für Arbeitnehmer geschaffen, das nach ihrem Ausscheiden aus dem
Erwerbsleben ihren Lebensunterhalt sicherstellt. Durch die von beiden Arbeitsvertragsparteien
entrichteten Beiträge erwerben die Arbeitnehmer eine Altersrente, die ihre wirtschaftliche
Existenzgrundlage nach Wegfall des Arbeitseinkommens bilden soll. Die Höhe der sich im Einzelfall aus
der gesetzlichen Rentenversicherung ergebenden Ansprüche ist für die Wirksamkeit eines Sozialplans
ohne Bedeutung (vgl. zur Altersbefristung: BAG Urteil vom 18.06.2008 - 7 AZR 116/07 - Rn. 26 - NZA
2008, 1302). Der EuGH hat in seiner Entscheidung in der Rechtssache Rosenbladt vom 12.10.2010
(C 45/09 - NZA 2010, 1167) erkannt, dass die gesetzliche Altersrente (der seit 39 Jahren
teilzeitbeschäftigten Reinigungskraft) von monatlich ca. € 250,00 für ihren Lebensunterhalt völlig
unzureichend ist, die fragliche Regelung jedoch gleichwohl für angemessen erachtet.
Eine Abweichung von der Rechtsprechung des BAG ist nicht durch die vom Kläger in der Berufung zitierte
Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Andersen vom 12.10.2010 (C 499/08 - NZA 2010, 1341)
veranlasst. In dieser Rechtssache ging es um eine Vorschrift nach dänischem Recht, die bei einer
Kündigung nach einer Betriebszugehörigkeit von 12, 15 oder 18 Jahren einen gesetzlichen Anspruch auf
eine Abfindung von 1, 2 bzw. 3 Monatsgehältern vorsieht, die ausgeschlossen ist, wenn der Arbeitnehmer
die Möglichkeit hat, eine von seinem Arbeitgeber finanzierte Rente zu beziehen. Diese Entscheidung ist
nicht auf die Regelung des § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG für Sozialpläne übertragbar. Die Berufungskammer folgt
der Ansicht von Rolfs (BB 2010, 2894-2896), der ausführt, dass es bei einem Sozialplan gilt, ein
begrenztes Volumen zu verteilen. Die Betriebsparteien müssen die zur Verfügung stehenden Mittel im
Hinblick auf den Ausgleich künftiger Nachteile der Arbeitnehmer, die von der Betriebsänderung betroffen
sind, optimieren und darauf achten, dass keine Gruppe übermäßig bevorzugt wird
(Verteilungsgerechtigkeit). Erhöhen sich die Abfindungen für ältere Arbeitnehmer, weil ein möglicher
Rentenbezug nicht mehr berücksichtigt würde, hat dies einen nachhaltigen Effekt für jüngere
Arbeitnehmer, für die die Rente noch in weiter Ferne liegt. Die Betriebspartner können deshalb zwischen
„rentennahen“ und „rentenfernen“ Jahrgängen differenzieren. Vorliegend werden die Nachteile, die der
Kläger durch den vorzeitigen Bezug der Altersrente erleidet, durch die Abfindung von € 16.200,00 (ohne
Sozialzuschläge von zusätzlich € 6.000,00) ausreichend gemildert.
2.
Nach § 826 BGB ist derjenige dem anderen zum Ersatz des Schadens verpflichtet, der in einer gegen die
guten Sitten verstoßenden Weise dem anderen vorsätzlich Schaden zufügt. Für ein sittenwidriges
Verhalten der Beklagten fehlt jedweder Anhaltspunkt. Der Kläger kann einen Anspruch auf eine höhere
Abfindung auch nicht aus § 113 BetrVG herleiten. Ein Nachteilsausgleich ist zu zahlen, wenn der
Arbeitgeber ohne zwingenden Grund von einem Interessenausgleich abweicht (Abs. 1) oder einen
Interessenausgleich nicht ausreichend versucht (Abs. 3). Diese Voraussetzungen liegen ersichtlich nicht
vor.
3.
rechtskräftigen Abweisung des Klageantrages zu 1) (hilfsweise der Klageanträge zu 1 bis 3) € 156.695,42
brutto Sozialplanabfindung nebst Zinsen zu zahlen, ist unzulässig.
Der Kläger hat die Kündigungsschutzklage (Klageantrag zu 1) sowie die Klageanträge zu 2) bis 3) mit
Zustimmung der Beklagten in der mündlichen Berufungsverhandlung am 10.03.2011 zurückgenommen.
Der Zahlungsantrag zu 4.1. a) ist demzufolge Hauptantrag. Für den Feststellungsantrag zu 4.1. b) fehlt das
Feststellungsinteresse. Dieser Antrag ist auch nicht als Zwischenfeststellungsklage im Sinne des § 256
Abs. 2 ZPO zulässig. Die begehrte Feststellung müsste sich auf einen Gegenstand beziehen, der über den
der Rechtskraft fähigen Gegenstand des Zahlungsantrags zu 4.1. a hinausgeht. Für eine
Zwischenfeststellungsklage ist kein Raum, wenn mit dem Urteil über die Hauptklage die
Rechtsbeziehungen der Parteien erschöpfend geregelt werden (Zöller/Greger, ZPO, 28. Aufl., § 256
Rn. 26). Letzteres ist vorliegend der Fall.
4.
verpflichtet, an den Kläger eine Sozialplanabfindung „unter dem Vorbehalt der Rückforderung“ zu zahlen.
Hierfür besteht keine Anspruchsgrundlage.
Nach Ziffer 6.2. des Sozialplans ist die Abfindung im Fall der Erhebung der Kündigungsschutzklage bis zu
einer Klagerücknahme oder einer rechtskräftigen Abweisung der Klage gehemmt. Nach der
Rechtsprechung des BAG, der die Berufungskammer folgt, ist es sachlich gerechtfertigt, die Fälligkeit des
Sozialplananspruchs bis zum Abschluss eines etwaigen Kündigungsschutzprozesses hinauszuschieben
(vgl. BAG Urteil vom 31.05.2005 - 1 AZR 254/04 - Rn. 21 - NZA 2005, 997; m.w.N.). Der Kläger hat die
Kündigungsschutzklage am 10.03.2011 mit Einwilligung der Beklagten zurückgenommen. Die Abfindung
(in Höhe von € 22.200,00) wurde deshalb erst im Laufe des 10.03.2011 zur Zahlung fällig. Der Kläger
konnte zuvor keine Abfindung „unter dem Vorbehalt der Rückforderung“ beanspruchen. Entgegen der
Ansicht des Klägers war die Beklagte nicht unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung verpflichtet, an
ihn eine Abfindung „unter dem Vorbehalt der Rückforderung“ zu zahlen, weil andere Arbeitnehmer, ihre
Abfindung bereits erhalten haben. Die anderen Arbeitnehmer haben entweder keine
Kündigungsschutzklage erhoben oder die Klage zurückgenommen, so dass ihre Abfindung fällig war.
Etwas anderes behauptet der Kläger selbst nicht. Für die Vorstellung des Klägers, durch eine Verurteilung
der Beklagten, ihm eine Abfindung von € 156.695,42 „unter dem Vorbehalt der Rückforderung“ zu zahlen,
könne ein „ausreichender Anreiz“ geschaffen werden, um die Beklagte zu einer Änderung des
Sozialplans zu veranlassen, fehlt jedwede Anspruchsgrundlage.
5.
Verhandlungen über die Änderungen des Sozialplanes vom 05.11.2009 unverzüglich aufzunehmen und
bei Nichteinigung unverzüglich die Einigungsstelle anzurufen, ist ebenfalls unbegründet. Der Kläger hat
keinen Rechtsanspruch darauf, dass die Beklagte mit dem Betriebsrat derartige Verhandlungen aufnimmt
und führt. Ein Anspruch folgt auch nicht aus der Protokollnotiz zum Sozialplan. Ein Verhandlungsanspruch
steht - unter den geregelten Voraussetzungen - dem Betriebsrat zu, nicht dem einzelnen Arbeitnehmer,
der eine Bestimmung des Sozialplans für unwirksam hält. Dessen ungeachtet ist die Sonderregelung für
rentennahe Arbeitnehmer in § 3 des Sozialplans - wie oben ausgeführt - nicht unwirksam, so dass kein
Fall vorliegt, der zur Überschreitung des Sozialplanvolumens von € 6,8 Mio. führen könnte.
III.
Die Revision wird gemäß § 72 Abs. 2 Ziffer 1 ArbGG zugelassen, soweit der Klageantrag zu 4.1. a) auf
Zahlung einer Sozialplanabfindung in Höhe von € 156.695,42 brutto abgewiesen worden ist. Im Übrigen
wird die Revision nicht zugelassen.