Urteil des LAG Rheinland-Pfalz vom 14.04.2010
LArbG Mainz: ordentliche kündigung, anweisung, kundschaft, ware, kündigungsfrist, abmahnung, beendigung, medien, zustand, täuschung
LAG
Mainz
14.04.2010
8 Sa 762/09
Kündigung wegen "in den Verkauf bringen" von MHD-abgelaufener Fleischwaren
Aktenzeichen:
8 Sa 762/09
8 Ca 1162/09
ArbG Ludwigshafen
Entscheidung vom 14.04.2010
Tenor:
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Ludwigshafen vom 14.10.2009 - 8 Ca
1162/09 - unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen wie folgt teilweise abgeändert:
Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die außerordentliche Kündigung
der Beklagten vom 30.4.2009 aufgelöst worden ist.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Kläger hat 4/7 und die Beklagte 3/7 der Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen sowie einer hilfsweise
ausgesprochenen ordentlichen Kündigung.
Der am 19.09.1958 geborene Kläger, der eine Ausbildung zum Metzgermeister absolviert hat, war seit
dem 04.01.1982 bei der Beklagten, zuletzt in deren Filiale in M als Bereichsleiter beschäftigt. Die Beklagte
beschäftigt regelmäßig mehr als zehn Arbeitnehmer ausschließlich der Auszubildenden.
Am 24.04.2009 unterzeichnete der Kläger eine ihm vom Verkaufsförderer vorgelegte betriebliche
Anweisung zur Handhabung von Selbstbedienungsfleisch (SB-Fleisch) vom 08.04.2009. Die betreffende
Anweisung lautet auszugsweise wie folgt.
"(...)
3. SB-Ware darf nicht ausgepackt und über den Bedienungsbereich vermarktet werden.
Ausschließlich die in der Anlage 1 aufgeführten SB Artikel dürfen, da diese Artikel nicht als
Bedienungsartikel gelistet sind bzw., wenn sie für Sonderaktionen (z. B. Grillaktion) benötigt werden, bis
auf Widerruf in der Bedienungstheke vermarktet werden, wenn die Restlaufzeit noch mehr als 3 Tage
beträgt. Hierbei muss gewährleistet sein, dass dann die ausgepackte Ware innerhalb des aufgedruckten
Mindesthaltbarkeitsdatums abverkauft wird (bei Erreichen des Mindesthaltbarkeitsdatums ist die Ware aus
dem Verkauf zu nehmen und entsprechend Punkt 4 zu entsorgen).
4. Ware, die das Mindesthaltbarkeitsdatum erreicht hat, ist ordnungsgemäß zu erfassen, im Kühlhaus als
"nicht mehr für den Verzehr und Verkauf geeignet" zu deklarieren und spätestens am Morgen des
nächsten Arbeitstages über die Konfiskattonne zu entsorgen und ebenfalls als "nicht für den Verkauf bzw.
Verzehr geeignet" zu kennzeichnen.
(…)
Wir machen Sie ausdrücklich darauf aufmerksam, dass ein Verstoß gegen eine der oben genannten
Anweisungen eine Straftat darstellt, die durch die Behörden strafrechtlich verfolgt werden kann. Darüber
hinaus müssen Sie bei Verstoß gegen die Anweisung mit weitreichenden arbeitsrechtlichen
Konsequenzen bis hin zur Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses rechnen.
Als Abteilungsverantwortliche/r haben Sie für die Umsetzung und Information an alle Mitarbeiter Sorge zu
tragen."
Wegen aller weiteren Einzelheiten der betreffenden Anweisung wird auf Bl. 70 f d.A. Bezug genommen.
Am 25.04.2009 packte der Kläger SB-Fleisch (SB-Schweinefilet, SB-Schweinelende und SB-Steaks) aus
und brachte es über die Bedienungstheke in den Verkauf, obwohl z.T. das Mindesthaltbarkeitsdatum
(MHD) bereits abgelaufen bzw. die in der Anweisung vom 08.04.2009 vorgegebene Restlaufzeit nicht
mehr gegeben war. Die weiteren Einzelheiten sind zwischen den Parteien streitig.
Mit Schreiben vom 30.04.2009, welches dem Kläger noch am selben Tag zuging, kündigte die Beklagte
das Arbeitsverhältnis fristlos sowie hilfsweise ordentlich zum 30.11.2009. Hiergegen richtet sich die vom
Kläger am 19.05.200 beim Arbeitsgericht eingereichte Kündigungsschutzklage.
Von einer weitergehenden (wiederholenden) Darstellung des unstreitigen Tatbestandes sowie des
erstinstanzlichen streitigen Parteivorbringens wird gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG abgesehen. Insoweit wird
Bezug genommen auf den Tatbestand des Urteils des Arbeitsgerichts Ludwigshafen vom 14.10.2009 (Bl.
158 - 163 d.A.).
Der Kläger hat beantragt,
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die fristlose noch durch die hilfsweise
ordentliche Kündigung vom 30. April 2009 aufgelöst ist,
im Falle des Obsiegens mit dem Antrag zu 1) die Beklagte zu verurteilen, ihn bis zum rechtskräftigen
Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als
Bereichsleiter weiterzubeschäftigen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Arbeitsgericht hat der mit Urteil vom 14.10.2009 insgesamt stattgegeben. Zur Darstellung der
maßgeblichen Entscheidungsgründe wird auf die Seiten 7 - 13 dieses Urteils (= Bl. 163 - 169 d.A.)
verwiesen.
Gegen das ihr am 24.11.2009 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 18.12.2009 Berufung eingelegt und
diese am 23.12.2009 begründet.
Die Beklagte macht im Wesentlichen geltend, entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichts sei die
außerordentliche Kündigung nicht in Ermangelung einer vorherigen Abmahnung unwirksam. Eine
Abmahnung sei vielmehr wegen der Schwere der Vertragspflichtverletzungen des Klägers entbehrlich, da
dieser nicht nur gegen Anweisungen, sondern auch gegen gesetzliche Vorgaben, etwa gegen
Vorschriften des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches verstoßen habe. Es komme nicht darauf an,
ob der Kläger - wie von diesem behauptet - das Fleisch mit dem abgelaufenen MHD einer oberflächlichen
Überprüfung unterzogen und dabei festgestellt habe, dass dieses nicht verdorben gewesen sei. Ebenso
wenig komme es darauf an, ob der Kläger eine Gesundheitsgefährdung der Kunden billigend in Kauf
genommen habe. Entscheidend sei vielmehr, dass er das in der Selbstbedienungstheke ausgelegte
Fleisch mit dem abgelaufenen MHD ausgepackt und in der Bedienungstheke zum Verkauf bereitgestellt
habe. Damit habe er die Kundschaft darüber getäuscht, dass das Fleisch zuvor mit einem kürzeren,
zwischenzeitlich abgelaufenen MHD ausgezeichnet gewesen sei. Das MHD sei ein wesentliches
Kaufkriterium für die Kundschaft. Demgemäß werde abgelaufenes Fleisch bei ihr - der Beklagten -
vernichtet oder, von der regulären Ware deutlich sichtbar getrennt, unter Hinweis auf den Ablauf des MHD
preisreduziert zum Verkauf angeboten. Keinesfalls sei die Kundschaft bereit, für abgelaufenes Fleisch den
vollen Kaufpreis zu zahlen. Strafrechtlich stelle sich das Verhalten des Klägers daher als Betrug gemäß §
263 StGB dar. Würde das Verhalten des Klägers publik, so drohe ihr nicht nur eine Rufschädigung,
sondern auch ein erheblicher Schaden infolge von Umsatzeinbußen. Dem Kläger sei völlig bewusst
gewesen, dass die Medien Verstöße gegen lebensmittelrechtliche Vorgaben publikumswirksam
anprangerten. Es sei ihr daher nicht zumutbar, den Kläger auch nur bis zum Ablauf der ordentlichen
Kündigungsfrist weiterzubeschäftigen.
Die Beklagte beantragt,
das erstinstanzliche Urteil abzuändern und die Klage insgesamt abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger verteidigt das erstinstanzliche Urteil und macht im Wesentlichen geltend, es treffe nicht zu,
dass er dadurch, dass er am 25.04.2009 SB-Fleisch ausgepackt und in die Bedienungstheke gelegt habe,
die Kundschaft getäuscht habe. Das betreffende Fleisch sei zuvor im Kühlhaus bei einer Temperatur von
zwei Grad Celsius gelagert gewesen, wohingegen sich das MHD auf eine Kühltemperatur von sieben
Grad Celsius beziehe. Die im Kühlhaus gelagerten Produkte seien weit über das auf der Packung
aufgedruckte MHD hinaus haltbar. Die von ihm ausgepackten Schweinefilets seien in einem
einwandfreien Zustand gewesen. Er habe das Fleisch sowohl nach dem Auspacken und auch nochmals
ca. eine Stunde danach einer Geruchsprüfung unterzogen. Bei der zweiten Geruchsprüfung sei der
anfänglich vorhandene Vakuumgeruch nicht mehr wahrnehmbar gewesen. Wenn die Beklagte sein
Verhalten als Täuschung der Kundschaft darstelle, so täusche sie ihre Kunden selbst. Bei der Beklagten
gebe es kein Verbot, SB-Fleisch auszupacken und über die Bedienungstheke zu verkaufen. Vielmehr
bestünden im Rahmen der von der Beklagten selbst erstellten betrieblichen Richtlinien zahlreiche
Ausnahmen. Aus Sicht des Verbrauchers stelle auch bereits dies eine Täuschung dar. Der Kunde, der
Fleisch- und Wurstwaren an der Bedienungstheke erwerbe, gehe davon aus, dass es sich dabei um
Produkte handele, die von einem Metzger frisch zubereitet seien und nicht um in Massenproduktion
hergestellte und verpackte Ware, die üblicherweise nur in dem Selbstbedienungsregal angeboten werde.
Dadurch, dass die Beklagte es zulasse, dass bestimmte Selbstbedienungsware aus dem
Selbstbedienungsregal herausgenommen, ausgepackt und in die Bedienungstheke gelegt werde,
täusche sie selbst die Verbraucher.
Zur Darstellung aller weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien im Berufungsverfahren wird auf
die in zweiter Instanz zu den Akten gereichten Schriftsätze sowie auf die Sitzungsniederschrift vom
14.04.2010 (Bl. 237 ff d.A.) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
I.
somit insgesamt zulässige Rechtsmittel hat in der Sache zum Teil Erfolg.
II.
durch die außerordentliche Kündigung vom 30.04.2009 aufgelöst worden ist. Im Übrigen erweist sich die
Klage als unbegründet.
1. Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist nicht durch die außerordentliche Kündigung vom 30.04.2009
aufgelöst worden.
Ein wichtiger, den Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung rechtfertigender Grund i.S.v. § 626 Abs.
1 BGB ist nach der gesetzlichen Definition gegeben, wenn Tatsachen vorliegen, die es dem Kündigenden
unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider
Vertragsteile unzumutbar machen, das Arbeitsverhältnis für die Dauer der ordentlichen Kündigungsfrist
oder bis zur vereinbarten Beendigung des Arbeitsverhältnisses fortzusetzen. Es ist daher zunächst zu
prüfen, ob ein bestimmter Sachverhalt - ohne die besonderen Umstände des Einzelfalles - (überhaupt)
geeignet ist, einen wichtigen Grund zu bilden. Sodann ist zu untersuchen, ob unter Berücksichtigung aller
Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die konkrete
Kündigung gerechtfertigt ist, d.h. ob es dem Kündigenden unzumutbar geworden ist, das Arbeitsverhältnis
bis zu dem gemäß § 626 Abs. 1 BGB relevanten Zeitpunkt fortzusetzen.
Im Streitfall liegt ein Sachverhalt vor, der an sich geeignet ist, den Ausspruch einer außerordentlichen
Kündigung zu rechtfertigen, da sich der Kläger eine schwere und schuldhafte Vertragspflichtverletzung hat
zu Schulden kommen lassen.
Der Kläger hat unstreitig am 25.04.2009 SB-Fleisch (SB-Schweinefilet, SB-Schweinelende und SB-
Steaks) ausgepackt und über die Bedienungstheke in den Verkauf gebracht, obwohl das
Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen bzw. die in der ihm erteilten Anweisung vom 08.04.2009
vorgegebene Restlaufzeit nicht mehr gegeben war. Er hat damit vorsätzlich und in schwerwiegender
Weise gegen die arbeitgeberseitige Anweisung vom 08.04.2009 verstoßen. Hinzu kommt, dass ihm die
betreffende Anweisung noch am Vortag zur Kenntnis und zur Unterschrift vorgelegt worden war. Das
Fehlverhalten des Klägers erweist sich jedoch auch gerade deshalb als besonders schwerwiegend, weil
es geeignet ist, das Ansehen der Beklagten in der Öffentlichkeit zu beschädigen. Dabei ist es ohne
Belang, ob das Fleisch, insbesondere infolge der vorherigen Lagerung im Kühlhaus, noch in
einwandfreiem Zustand und verzehrbar war. Die Beklagte macht diesbezüglich mit Recht geltend, dass
das MHD ein wesentliches Kaufkriterium für die Kundschaft bildet und diese regelmäßig nicht bereit ist,
MHD-abgelaufenes Fleisch zu kaufen und dafür auch noch den vollen Kaufpreis zu zahlen. Bezüglich
unverpackter, in der Bedienungstheke angebotener Fleischprodukte besteht seitens der Kundschaft im
Allgemeinen die berechtigte Erwartung, dass es sich nicht um Ware handelt, deren MHD bereits
abgelaufen ist. In dieser Erwartungshaltung wurde die Kundschaft der Beklagten durch das Verhalten des
Klägers getäuscht. Die Beklagte macht in diesem Zusammenhang auch mit Recht geltend, dass ihr, falls
die Vorgehensweise des Klägers an die Öffentlichkeit gedrungen wäre, ein immenser Ansehensverlust
und nicht unerhebliche Umsatzeinbußen entstanden wären oder zumindest gedroht hätten. Dies gilt
gerade in Zeiten der sog. "Gammelfleisch-Skandale", in denen über solche Themen in der Presse und
anderen Medien ausführlich berichtet wird. Der Verstoß des Klägers gegen die Anweisung vom
08.04.2009 stellt daher zugleich eine gravierende Verletzung seiner Pflicht dar, Handlungen zu
unterlassen, die dem Ansehen des Arbeitgebers abträglich sein können. Der Kläger kann sich in diesem
Zusammenhang auch nicht darauf berufen, die Beklagte täusche ihre Kundschaft selbst, indem sie - wie
es sich aus der Anweisung vom 08.02.2009 ergebe - es bei bestimmten Fleischprodukten zulasse, dass
SB-Ware ausgepackt und über die Bedienungstheke verkauft werde. Es ist nicht davon auszugehen, dass
die Kundschaft der Beklagten annimmt, dass es sich bei den in der Bedienungstheke angebotenen
Fleisch- und Wurstwaren um von einem Metzger frisch zubereitete Waren, nicht hingegen um in
Massenproduktion industriell hergestellte Produkte handelt. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass
die Beklagte in der Anweisung vom 08.04.2009 ausdrücklich angeordnet hat, dass SB-Fleisch nur dann
ausgepackt und in die Bedienungstheke verbracht werden darf, wenn die MHD-Restlaufzeit noch mehr als
drei Tage beträgt. Die betreffende Anweisung ist daher gerade auch darauf gerichtet, die Interessen der
Kundschaft zu wahren.
Die streitbefangene außerordentliche Kündigung erweist sich nicht wegen Fehlens einer vorherigen
Abmahnung als unwirksam. Zwar kann sich die Beklagte wohl bereits deshalb nicht auf die dem Kläger
erteilten Abmahnungen vom 16.08.1995 und 29.02.1996 berufen, da diese nicht zum Gegenstand der
Betriebsratsanhörung gemacht worden waren. Im Streitfall bedurfte es indessen keiner vorherigen
Abmahnung. Zwar ist eine solche bei einem steuerbaren Verhalten grundsätzlich erforderlich. Bei
schweren Pflichtverletzungen gilt dies aber nur, wenn der Arbeitnehmer mit vertretbaren Gründen
annehmen konnte, sein Verhalten sei nicht vertragswidrig oder werde vom Arbeitgeber zumindest nicht
als erhebliches, den Bestand des Arbeitsverhältnisses gefährdendes Verhalten angesehen (BAG vom
10.10.2002 - 2 AZR 418/01 - EzA BGB 2002 § 626 Unkündbarkeit Nr. 1; BAG v. 21.06.2001 - 2 AZR
325/00 - AP Nr. 5 zu § 55 BAT). Vorliegend konnte der Kläger keinesfalls annehmen, seine
Pflichtverletzung im Zusammenhang mit dem Verkauf von MHD-abgelaufenem Fleisch und der damit
verbundenen Gefährdung des Ansehens der Beklagten werde von dieser nicht als bestandsgefährdendes
Verhalten angesehen. Ein Arbeitgeber, der erfährt, dass ein Arbeitnehmer einer ausdrücklichen
Anweisung zuwider handelt und dadurch zugleich den Ruf des Unternehmens gefährdet, wird dies
keineswegs dulden. Hinzu kommt, dass die Anweisung vom 08.04.2009 auch den Hinweis enthält, dass
ein Verstoß "weitreichende arbeitsrechtliche Konsequenzen bis hin zur Kündigung" haben kann.
Letztendlich führt aber die bei einer außerordentlichen Kündigung vorzunehmende Interessenabwägung
zu dem Ergebnis, dass es der Beklagten zumutbar gewesen wäre, das Arbeitsverhältnis noch bis zum
Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist (sieben Monate zum Ende eines Kalendermonats) fortzusetzen.
Zwar spricht für die Beklagte die erhebliche Gewichtigkeit des Verstoßes des Klägers gegen seine
arbeitsvertraglichen Pflichten. Zugunsten des Klägers ist jedoch nicht nur zu berücksichtigen, dass er zum
Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs bereits 51 Jahre alt war. Insbesondere fällt vielmehr seine immens
lange Betriebszugehörigkeit von 27 Jahren ins Gewicht. Darüber hinaus kann nicht gänzlich
unberücksichtigt bleiben, dass sein Fehlverhalten nicht zu einer konkreten Rufschädigung der Beklagten
geführt hat. In Ansehung all dieser Umstände überwiegt (noch) das Interesse des Klägers an einer
Beschäftigung bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist gegenüber dem Interesse der Beklagten
an einer sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses.
2. Die gegen die hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung vom 30.04.2009 gerichtete Klage ist
indessen unbegründet. Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist durch diese Kündigung aufgelöst worden.
Die Kündigung ist aus verhaltensbedingten Gründen i.S.v. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG sozial gerechtfertigt.
Wie bereits ausgeführt, ist das Fehlverhalten des Klägers vom 25.04.2009 an sich geeignet, einen den
Ausspruch einer fristlosen Kündigung rechtfertigenden, wichtigen Grund zu bilden, wobei es - wie
ebenfalls bereits ausgeführt - keiner vorherigen einschlägigen Abmahnung bedurfte. Der schwere
Pflichtenverstoß des Klägers ist daher erst recht geeignet, den Ausspruch einer verhaltensbedingten
ordentlichen Kündigung zu rechtfertigen. Im Unterschied zur außerordentlichen Kündigung müssen
nämlich die verhaltensbedingten Gründe bei einer ordentlichen Kündigung nicht so schwerwiegend sein,
dass sie für den Arbeitgeber die Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ende
der Kündigungsfrist oder bis zur vereinbarten Beendigung des Arbeitsverhältnisses begründen.
Die auch bei einer ordentlichen Kündigung durchzuführende, umfassende Interessenabwägung führt zu
dem Ergebnis, dass das Interesse der Beklagten an der Auflösung des Arbeitsverhältnisses zum Ablauf
der Kündigungsfrist (30.11.2009) das Interesse des Klägers zum Erhalt seines Arbeitsplatzes bis zum
regulären Ende des Arbeitsverhältnisses überwiegt. Zwar sind auch hier zu Gunsten des Klägers die
selben Gesichtspunkte (insbesondere Betriebszugehörigkeitsdauer, Lebensalter) wie bei der Prüfung der
Wirksamkeit der außerordentlichen Kündigung zu berücksichtigen. In Anbetracht der Schwere des
klägerischen Fehlverhaltens sowie des dadurch eingetretenen Vertrauensverlustes erscheint die
ordentliche Kündigung jedoch bei verständiger Würdigung und Abwägung der Interessen der Parteien
billigenswert und angemessen.
Die ordentliche Kündigung ist schließlich auch nicht gemäß § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG unwirksam. Die
Beklagte hat, wie sich aus dem Anhörungsschreiben vom 29.4.2009 nebst den beigefügten Anlagen (Bl.
40 ff d.A.) ergibt, den Betriebsrat sowohl voll umfänglich über den maßgeblichen Kündigungssachverhalt
als auch über die Sozialdaten des Klägers informiert. Der Betriebsrat hat ausweislich seiner
Stellungnahme (Bl. 40 d.A.) noch am 30.04.2009 sowohl einer fristlosen als auch einer (hilfsweisen)
ordentlichen Kündigung zugestimmt. An der Ordnungsgemäßheit der Betriebsratsanhörung bestehen
somit keinerlei Zweifel.
3. Da dem Kündigungsschutzbegehren des Klägers nicht insgesamt stattzugeben war, erweist sich der
Weiterbeschäftigungsantrag als unbegründet.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
Für die Zulassung der Revision bestand im Hinblick auf die in § 72 Abs. 2 ArbGG genannten Kriterien
keine Veranlassung. Auf die Möglichkeit, die Nichtzulassung der Revision selbständig durch Beschwerde
anzufechten (§ 72 a ArbGG), werden beide Parteien hingewiesen.