Urteil des LAG Rheinland-Pfalz vom 22.11.2006

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LAG
Mainz
22.11.2006
9 Sa 621/06
Kürzung von tariflicher Sonderzuwendung
Aktenzeichen:
9 Sa 621/06
4 Ca 561/06
ArbG Ludwigshafen
Entscheidung vom 22.11.2006
Tenor:
1. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Ludwigshafen vom 06.07.2006, Az.:
561/06, wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
2. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Parteien streiten um die Zahlung von restlicher Sonderzuwendung.
Die Klägerin ist bei dem Beklagten, der eine Apotheke betreibt, seit dem 01.12.2004 als Pharmazeutisch-
Kaufmännische Assistentin gegen Zahlung eines monatlichen Arbeitsentgeltes in Höhe von zuletzt
1.473,91 EUR brutto beschäftigt. Dem Arbeitsverhältnis liegt der schriftliche Arbeitsvertrag vom
21.10.2004 (Bl. 5 ff.) zu Grunde. Dieser Arbeitsvertrag enthält keine Regelung über eine
Sonderzuwendung und unter Ziffer 14. die Vereinbarung, dass im Übrigen die Bestimmungen des
Bundesrahmentarifvertrages für Apothekenmitarbeiter in ihrer jeweils gültigen Fassung gelten.
Für das Kalenderjahr 2005 zahlte der Beklagte - unter Berufung auf die im Bundesrahmentarifvertrag vom
02.11.2004, geschlossen vom Arbeitgeberverband Deutscher Apotheken und der Apothekergewerkschaft
X. (im Folgenden: BRTV) vorgesehene Kürzungsmöglichkeit - an die Klägerin eine Sonderzuwendung in
Höhe der Hälfte eines tariflichen Monatsverdienstes. Nachdem die Klägerin, zusammen mit weiteren
Arbeitskolleginnen um schriftliche Darlegung der wirtschaftlichen Gründe, welche die Kürzung notwendig
machen, gebeten hatte, erwiderte der Beklagte in einem Schreiben ohne Datum (Bl. 20 f d. A.), dem als
Anlage ein Schreiben seines Steuerberaters vom 04.11.2005 (Bl. 15 f d. A.) und eine grafische
Darstellung beigefügt waren.
Anschließend hat die Klägerin die vorliegende Klage auf Leistung einer restlichen Sonderzuwendung für
das Kalenderjahr 2005 in Höhe eines halben tariflichen Monatsverdienstes beim Arbeitsgericht
Ludwigshafen eingereicht.
Wegen der weiteren Einzelheiten des unstreitigen Tatbestandes und hinsichtlich des erstinstanzlichen
Parteivorbringens wird auf die Zusammenfassung im Urteil des Arbeitsgerichts Ludwigshafen vom
06.07.2006 (dort S. 2 - 5 = Bl. 64 - 67 d. A.) verwiesen.
Das Arbeitsgericht Ludwigshafen hat der Klage mit Urteil vom 06.07.2006 (Bl. 63 ff. d. A.) stattgegeben;
wegen der Entscheidungsgründe wird auf S. 5 ff. des Urteils (Bl. 67 ff. d. A.) Bezug genommen.
Der Beklagte hat gegen diese Entscheidung, die ihm am 21.07.2006 zugestellt worden ist, am 08.08.2006
Berufung zum Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz eingelegt und am 05.10.2006 sein Rechtsmittel
begründet, nachdem die Berufungsbegründungsfrist bis zum 06.10.2006 verlängert worden war.
Der Beklagte macht geltend,
die Sonderzuwendung für das Jahr 2005 sei von ihm zu Recht um 50% gekürzt worden, da die tariflichen
Voraussetzungen aus § 18 Ziffer 6 BRTV erfüllt seien. Hiernach sei dem Apothekeninhaber die
Möglichkeit eingeräumt worden, die Sonderzahlung zu reduzieren, wenn es ihm aus wirtschaftlichen
Gründen notwendig erscheine. Im Gegenzug erhalte der Arbeitnehmer einen halbjährigen Schutz vor
betriebsbedingten Kündigungen. Hierbei handele es sich um ein ausgewogenes tarifliches Gesamtpaket,
bei dem die Kürzungsmöglichkeit bewusst in das weitgehend freie Ermessen des Apothekeninhabers
gestellt worden sei und der Arbeitnehmer als Ausgleich eine halbjährige Arbeitsplatzgarantie erhalte.
Dem Wortlaut der Tarifregelung sei zu entnehmen, dass man bewusst in Kauf genommen habe, dass die
Einschätzung der wirtschaftlichen Gegebenheiten einzig und allein dem Apothekeninhaber, ohne
Rechtfertigungsgründe nach außen (gegenüber Arbeitnehmern oder Arbeitsgerichten), zukommen solle.
Über diese geringen tariflichen Anforderungen hinausgehend habe der Beklagte im gegebenen Fall
einen Umsatzeinbruch nebst Vergleich der Zahlen seit Januar 2004 mit einem Erläuterungsschreiben
seines Steuerberaters vorgelegt.
Wegen der weiteren Einzelheiten der Berufungsbegründung wird auf den Schriftsatz des Beklagten vom
04.10.2006 (Bl. 84 ff. d. A.) Bezug genommen.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Ludwigshafen vom 06.07.2006, Az.: 4 Ca 561/06 abzuändern und nach den
Schlussanträgen erster Instanz zu erkennen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin führt aus,
der Beklagte sei - wie das Arbeitsgericht zutreffend ausgeführt habe - unter Beachtung von § 18 Ziffer 6
BRTV nicht zu einer Leistungskürzung berechtigt gewesen. Aus den vorgelegten Wirtschaftszahlen des
Beklagten ergebe sich, dass er den Gewinn im Jahr 2004 gegenüber dem Jahr 2003 gesteigert habe; für
das Jahr 2005 habe er auf die Vorlage von Zahlen im vorliegenden Verfahren gänzlich verzichtet.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten der Berufungserwiderung wird auf den Schriftsatz der Klägerin vom
06.11.2006 (Bl. 102 ff. d. A.) verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist gemäß §§ 64 ff. ArbGG, 513 ff. ZPO zwar zulässig, in der
Sache jedoch nicht begründet.
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zahlung von restlicher Sonderzuwendung für das Jahr 2005 in der
erstinstanzlich zuerkannten Höhe. Dementsprechend steht ihr eine Restforderung in Höhe von 666,65
EUR brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.12.2005
zu.
1.
Anspruchsgrundlage für die Hauptforderung ist § 18 Ziffer 1 S. 1 BRTV, da die Prozessparteien in dem
schriftlichen Arbeitsvertrag, ohne dass darin eine spezielle Regelung über eine Sonderzuwendung
enthalten wäre, unter Ziffer 14. vereinbart haben, dass im Übrigen die Bestimmungen des
Bundesrahmentarifvertrages für Apothekenmitarbeiter in ihrer jeweils gültigen Fassung gelten. § 18 Ziffer
1 S. 1 BRTV lautet:
"Jeder Mitarbeiter erhält jährlich eine Sonderzahlung in Höhe von 100% seines tariflichen
Monatsverdienstes."
Demnach stand der Klägerin für das Kalenderjahr 2005 ein tariflicher Sonderzahlungsanspruch in Höhe
von 1.333,30 EUR brutto - dies entspricht einem monatlichen Tarifgehalt aus dem Jahr 2005 - zu, wovon
der Beklagte lediglich die Hälfte gezahlt hat.
Der Beklagte war nicht berechtigt, den tariflichen Sonderzahlungsanspruch für das Kalenderjahr 2005 um
50% zu kürzen, da die tariflichen Voraussetzungen hierfür nicht erfüllt sind. In § 18 Ziffer 6 ist eine
Kürzungsmöglichkeit wie folgt geregelt:
"Der Apothekeninhaber ist für jedes Jahr berechtigt, die Sonderzahlung auf bis zu 50% des tariflichen
Mindestverdienstes zu kürzen, sofern sich dies dem Apothekeninhaber aus wirtschaftlichen Gründen als
notwendig darstellt."
Wie bereits das Arbeitsgericht zutreffend ausgeführt hat, lässt die Formulierung "…, sofern sich dies dem
Apothekeninhaber aus wirtschaftlichen Gründen als notwendig darstellt." mehrere Möglichkeiten des
Verständnisses und der Deutung zu; dies zeigen bereits die unterschiedlichen Auffassungen dieser
Vorschrift durch die Prozessparteien. Mithin bedarf es einer Auslegung der Tarifregelung.
Der normative Teil eines Tarifvertrages ist nach den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln
auszulegen. Zunächst ist vom Tarifwortlaut auszugehen. Zu ermitteln ist der maßgebliche Sinn der
Erklärung, ohne an den Buchstaben zu haften. Über den reinen Wortlaut hinaus ist jedoch der wirkliche
Wille der Tarifvertragsparteien und der damit von ihnen beabsichtigte Zweck der Tarifnormen zu
berücksichtigen, sofern und soweit dieser Wille in den Tarifnormen seinen Niederschlag gefunden hat.
Hierzu ist auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang abzustellen, weil häufig nur aus ihm und nicht
aus der einzelnen Tarifnorm auf den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien geschlossen und nur bei
Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs der Sinn und Zweck zutreffend ermittelt werden kann.
Noch verbleibende Zweifel können ohne Bindung an eine Reihenfolge mittels weiterer Kriterien wie der
Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags, ggf. auch der praktischen Tarifübung geklärt werden. Im Zweifel
gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten,
zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (vgl. BAG, Urteil vom 18.05.2006 - 6 AZR
631/05 = AP Nr. 1 zu § 8 TV-SozSich m. w. N.). Die Einholung einer Auskunft der Tarifparteien erübrigt
sich, falls Wortlaut und Zusammenhang der tariflichen Bestimmungen keinen Anhaltspunkt für eine
gegenteilige Auskunft der Tarifparteien bieten (vgl. BAG, Urteil vom 12.10.2005 - 10 AZR 630/04 = AP Nr.
1 zu § 1 TVG, Tarifverträge: Sanitärhandwerk).
Im vorliegenden Fall ist hinsichtlich des Tarifwortlautes in § 18 Ziff. 6 BRTV aus Sicht der
Berufungskammer zweierlei von wesentlicher Bedeutung:
Zum einen kann der Hinweis auf die Sicht des Apothekeninhabers - entgegen der Auffassung des
Beklagten - nicht bedeuten, dass die Kürzung im unüberprüfbaren, subjektiven Ermessen des
Apothekeninhabers steht. Ansonsten wäre die Verknüpfung mit dem weiteren Wortlaut "… aus
wirtschaftlichen Gründen als notwendig…." vollkommen bedeutungslos. Dementsprechend kann es nur
darauf ankommen, ob aus der Sicht eines objektiv an Stelle des konkreten Apothekeninhabers
entscheidenden Arbeitgebers die wirtschaftlichen Gründe für eine Kürzung gegeben sind. Mithin ist auch
nicht auf die durchschnittliche wirtschaftliche Belastung aller Apotheken in Deutschland für die
Tarifauslegung abzustellen.
Zum anderen müssen sich die wirtschaftlichen Gründe nach dem Tarifwortlaut als "notwendig", also zur
Abwendung einer Not darstellen. Dieser Wortgebrauch weist darauf hin, dass nicht jeder beliebige
wirtschaftliche Grund zur Begründung einer Zahlungskürzung herangezogen werden kann. Vielmehr
deutet der Wortlaut auf das Erfordernis einer letzten Möglichkeit zur Abwendung einer Not (ultima-ratio-
prinzip) hin.
Dieses Verständnis der Tarifregelung wird darüber hinaus auch durch den tariflichen
Gesamtzusammenhang bestätigt. § 18 Ziffer 6 S. 2 BRTV sieht eine Nachzahlung der ursprünglich
gekürzten Sonderzuwendung vor, falls binnen 6 Monaten nach der Zahlung eine betriebsbedingte
Kündigung erfolgt. Die Beschränkung der Nachzahlungspflicht auf den Kündigungsgrund der
Betriebsbedingtheit lässt erkennen, dass die Kürzungsmöglichkeit zumindest auch der Vermeidung
solcher Kündigungen dienen soll. Wäre es den Tarifparteien nur um den Gedanken der zusätzlichen
Abgeltung von Arbeitsleistung bei späterer Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegangen, so hätten sie
zumindest auch personenbedingte Kündigungsgründe in die Regelung aufgenommen.
Der Zusammenhang zwischen notwendigen wirtschaftlichen Gründen unter Vermeidung von
betriebsbedingten Kündigungen legt nahe, dass die Kürzung der Sonderzuwendung Bestandteil eines
Sanierungsgesamtkonzeptes sein muss, das von dem Apothekeninhaber zu erstellen ist. Hierfür spricht
auch, dass das finanzielle Gesamtvolumen, welches durch die 50 % Kürzung von Sonderzuwendungen
entsteht, in der Regel zu gering sein dürfte, um allein eine wirtschaftliche Schieflage, wie sie bei einem oft
kleinen oder mittelständischen Apothekenbetrieb betriebsbedingten Kündigungen vorausgeht, zu
korrigieren.
Wenn der Beklagte dem entgegenhält, die Tarifregelung in § 18 Ziffer 6 BRTV verkörpern ein
ausgewogenes Paket, das die Interessen beider Arbeitsvertragsparteien berücksichtige, indem dem
Apothekeninhaber "in einem vereinfachten Verfahren" eine Kürzungsmöglichkeit eröffnet werde und der
Arbeitnehmer bei einer betriebsbedingten Kündigung einen Nachzahlungsanspruch habe, folgt dem die
Berufungskammer nicht. Der Beklagte sieht dabei nämlich letztlich die Nachzahlungspflicht als
Gegenleistung für freies Kürzungsermessen. Ein dahingehendes Verständnis des Tarifwortlautes ist aber,
wie oben bereits ausgeführt, nicht durch hineichend konkrete Anhaltspunkte in § 18 Ziffer 6 BRTV zu
belegen.
Im Übrigen ist auch nicht ersichtlich, weshalb die von den Tarifparteien erstmals vereinbarte
Kürzungsmöglichkeit nicht an objektiven, gerichtlich nachprüfbaren Voraussetzungen - neben der
vereinbarten Nachzahlungspflicht für bestimmte Fälle - gebunden sein sollte. Auch dies wäre im Vergleich
zu dem vorausgehen den Tarifzustand - vor 1995 überhaupt keine Kürzungsmöglichkeit - nicht als
unausgewogen zu bezeichnen.
Die Berufungskammer hat angesichts der vorstehend getroffenen Feststellungen auf die Einholung einer
Auskunft der Tarifparteien verzichtet, da Tarifwortlaut und Zusammenhang keine hinreichenden
Anhaltspunkte für eine sachbezogene gegenteilige Auskunft boten.
Aus dem Sachvortrag des darlegungsbelasteten Beklagten ergibt sich kein Anhaltspunkt dafür, dass die
Kürzung der Sonderzuwendungen aus der Sicht eines objektiven Apothekeninhabers aus wirtschaftlichen
Gründen notwendig war. Insbesondere hat er nicht eine wirtschaftliche Lage dargelegt, die - im Falle des
Unterbleibens einer Leistungskürzung - betriebsbedingte Kündigungen notwendig machen würde. Im
Schreiben des Beklagten ohne Datum und jenem seines Steuerberaters vom 04.11.2005 sind weder
aussagekräftige betriebliche Wirtschaftsdaten für das Jahr 2005 noch ein Sanierungskonzept zu
entnehmen.
2.
Die auf die Hauptforderung zuerkannten Zinsen beruhen auf §§ 286 Abs. 2 Nr. 1, 288, 247 BGB i. V. m. §
18 Ziffer 2 S. 2 BRTV.
In Ergänzung der vorstehenden Ausführungen wird auf die vollumfänglich zutreffenden
Entscheidungsgründe aus dem Urteil des Arbeitsgerichts Ludwigshafen vom 06.07.2006 (S. 5 ff. = Bl. 67 ff.
d. A.) Bezug genommen.
Nach alledem war die Berufung mit der Kostenfolge aus § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen.
Die Revision war unter Beachtung von § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zuzulassen, da die Prozessparteien um
die Auslegung einer bundesweit geltenden Tarifregelung streiten.