Urteil des LAG Köln vom 04.06.2003
LArbG Köln: kündigung, beurteilungsspielraum, arbeitsgericht, rüge, baugewerbe, vorrang, entlassung, willkür, rechtsmissbrauch, anzeichen
Landesarbeitsgericht Köln, 7 Sa 245/03
Datum:
04.06.2003
Gericht:
Landesarbeitsgericht Köln
Spruchkörper:
7. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
7 Sa 245/03
Vorinstanz:
Arbeitsgericht Köln, 10 Ca 4193/02
Schlagworte:
Sozialauswahl; Beurteilungsspielraum; betriebsbedingte Kündigung
Normen:
§ 1 Abs. 3 KSchG
Sachgebiet:
Arbeitsrecht
Leitsätze:
Dem Arbeitgeber kommt bei der Gewichtung der einschlägigen Kriterien
für die Sozialauswahl ein Beurteilungs- oder Bewertungsspielraum zu.
Erscheint die vom Arbeitgeber getroffene Auswahlentscheidung im
Rahmen eines solchen Bewertungsspielraums "vertretbar", so sind
soziale Gesichtspunkte im Sinne von § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG
"ausreichend berücksichtigt".
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Köln
vom 30.10.2002 in Sachen 10 Ca 4193/02 wird kostenpflichtig
zurückgewiesen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
T a t b e s t a n d
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Die Parteien streiten um die Rechtswirksamkeit einer betriebsbedingten
arbeitgeberseitigen Kündigung vom 23.04.2002.
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Der am 09.05.1954 geborene Kläger ist ledig und kinderlos. Er war seit dem 01.02.2000
bei der Beklagten als Hilfs-Maurer, bzw. in der Diktion der Beklagten als Fachwerker, d.
h. als Mitarbeiter ohne Gesellenbrief beschäftigt. Sein Stundenlohn betrug 13,04 EUR
brutto bei 37,5 Wochenstunden.
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Die Beklagte, welche Anfang 2002 ca. 33 Arbeitnehmer beschäftigte, musste im ersten
Quartal 2002 und sich fortsetzend in den Monaten April und Mai 2000 einen erheblichen
Auftrags- und Umsatzrückgang hinnehmen. Sie entschloss sich daher im April 2002,
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zwei der vier als Fachwerker geführten Arbeitskräfte zu entlassen. Zum einen kündigte
sie daraufhin dem Mitarbeiter P zum 30.04.2002, welcher im Zeitpunkt des Ausspruchs
der ihn treffenden Kündigung noch keine sechs Monate bei der Beklagten beschäftigt
war. Zum andern sprach sie mit Schreiben vom 23.04.2002, zugegangen am
23.04.2002, dem Kläger eine Kündigung zum 08.05.2002 aus. Die Fachwerker E und A
wurden zum damaligen Zeitpunkt hingegen weiter beschäftigt. Der Mitarbeiter E wurde
im Jahre 1960 geboren, steht seit September 1994 in einem Arbeitsverhältnis zur
Beklagten und hat vier Unterhaltsverpflichtungen zu erfüllen. Der Mitarbeiter A wurde im
Jahre 1970 geboren, ist seit Juli 1995 bei der Beklagten beschäftigt und gegenüber drei
Personen unterhaltsverpflichtet.
Mit der am 24.04.2002 zu Protokoll der Geschäftsstelle des Arbeitsgerichts erhobenen
Kündigungsschutzklage hat der Kläger geltend gemacht, dass nach seiner Ansicht
betriebliche Gründe, die eine Kündigung rechtfertigen würden, nicht vorlägen und er die
ihm gegenüber ausgesprochene Kündigung als unsozial empfinde. Zu den von der
Beklagten vorgebrachten Kündigungsgründen hat der sich erstinstanzlich selbst
vertretende Kläger im weiteren Verlauf des erstinstanzlichen Rechtsstreits trotz
entsprechender gerichtlicher Auflagen und Nachfragen keine Stellungnahme
abgegeben.
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Der Kläger hat beantragt,
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festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die am
23.04.2002 zugegangene Kündigung seitens der Beklagten aufgelöst
worden ist.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Die Beklagte hat sich auf die von ihr durch Zahlenmaterial unterlegte schlechte
wirtschaftliche Lage des Unternehmens berufen, die es notwendig gemacht habe, eine
personelle Umstrukturierung vorzunehmen und überflüssige und unproduktive
Arbeitsplätze einzusparen sowie eine Leistungsverdichtung im gesamten Betrieb
durchzuführen. Sie hat sich weiter darauf berufen, dass nur die vier erwähnten
Fachwerker untereinander vergleichbar seien und die im Betrieb verbliebenen
Arbeitnehmer E und A aufgrund ihrer längeren Betriebszugehörigkeit und ihrer
Unterhaltsverpflichtungen sozial schutzwürdiger seien als der Kläger.
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Das Arbeitsgericht Köln hat mit Urteil vom 30.10.2002 die Kündigungsschutzklage
abgewiesen. Auf Tatbestand und Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.
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Gegen die dem Kläger am 06.02.2003 zugestellte Kündigungsschutzklage hat dieser
am 26.02.2003 Berufung einlegen und die Berufung am 14.03.2003 begründen lassen.
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Der Kläger macht nunmehr geltend, aufgrund seiner Unfähigkeit, in deutscher Schrift
abgefasste Schreiben zu lesen, habe er die ihm erstinstanzlich zugegangenen
Schriftstücke der Beklagten und des Gerichts nicht verstanden und ihnen im übrigen
auch deshalb keine Bedeutung beigemessen, da er irrtümlich davon ausgegangen sei,
dass ein in der Güteverhandlung protokollierter Widerrufsvergleich bestandskräftig
geworden sei. In der Sache rügt der Kläger nunmehr, dass die streitgegenständliche
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Kündigung im Sinne von § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG sozialwidrig sei, da die Beklagte eine
unzutreffende Sozialauswahl vorgenommen habe. Bei der Beklagten sei nämlich ein
weiterer, mit dem Kläger vergleichbarer Fachwerker mit dem Vornamen R tätig
gewesen, welcher seiner Kenntnis nach erst im Kalenderjahr 2001 eingestellt worden
sei und ebenfalls keine Unterhaltspflichten zu erfüllen habe.
Der Kläger beantragt nunmehr,
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das Urteil des Arbeitsgerichts Köln aufzuheben und festzustellen, dass das
Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die am 23.04.2002 erklärte
Kündigung aufgelöst wurde.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Die Beklagte rügt zunächst das neue Vorbringen des Klägers in der Berufungsinstanz
als verspätet. Selbst wenn dieses Vorbringen jedoch zuzulassen sei, könne es der
Berufung nicht zum Erfolg verhelfen; denn die damalige Weiterbeschäftigung des
Mitarbeiters "R ", bei dem es sich nur um den Hilfsarbeiter R L handeln könne, führe
nicht zu einer fehlerhaften Sozialauswahl. So sei der Mitarbeiter R L schon nicht mit
dem Kläger und den anderen Fachwerkern vergleichbar; denn der Mitarbeiter R L habe
nur einfachste Hilfsarbeiten verrichtet und sei daher als einfacher Werker und nicht als
Fachwerker anzusehen. Im übrigen sei aber selbst bei Annahme der Vergleichbarkeit
dieses Mitarbeiters mit dem Kläger die vorgenommene Sozialauswahl nicht zu
beanstanden: Der seit dem 16.06.2000 beschäftigte, am 27.04.1970 geborene R L sei
zwar jünger als der Kläger, sei aber verheiratet (Steuerklasse 3) und habe zwei Kinder,
sei somit insgesamt drei Personen gegenüber unterhaltsverpflichtet. In der
Sozialsauswahl habe die Beklagte auch sonst unterhaltspflichtigen Mitarbeitern mit
Kindern den Vorrang vor kinderlosen Arbeitnehmern eingeräumt.
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Ergänzend weist die Beklagte darauf hin, dass die fortschreitende wirtschaftliche
Entwicklung zwischenzeitlich zur Entlassung von zehn weiteren Mitarbeitern geführt
habe, darunter auch des Mitarbeiters R L .
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
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1. Die Berufung des Klägers ist zulässig. Sie ist gemäß § 64 Abs. 2 c) ArbGG
statthaft und wurde innerhalb der in § 66 Abs. 1 S. 1 ArbGG vorgeschriebenen
Fristen eingelegt und begründet.
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1. Die Berufung des Klägers gegen das arbeitsgerichtliche Urteil vom 30.10.2002 ist
jedoch nicht begründet.
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1. Das Arbeitsgericht hat zutreffend angenommen, dass die Kündigung der
Beklagten vom 23.04.2002 durch dringende betriebliche Bedürfnisse bedingt ist,
die einer Beschäftigung des Klägers im Betrieb der Beklagten entgegenstehen (§
1 Abs. 2 S. 1 KSchG). Aus dem mit konkretem Zahlenmaterial unterlegten und in
sich schlüssigen Sachvortrag der Beklagten geht hervor, dass diese sich aufgrund
eines im Zeitpunkt des Ausspruchs der hier streitigen Kündigung erlittenen
Auftrags- und Umsatzrückgangs gezwungen sah, die unternehmerische
Entscheidung zu treffen, im Bereich der von ihr beschäftigten Fachwerker zwei
Arbeitsplätze einzusparen. Liegen die entsprechenden Rahmenbedingungen vor,
kann eine solche unternehmerische Entscheidung von den Arbeitsgerichten nur
auf Willkür und Rechtsmissbrauch hin überprüft werden. Anzeichen für beides sind
nicht ansatzweise gegeben. Somit ist das Vorliegen eines dringenden
betrieblichen Erfordernisses im Sinne von § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG zu bejahen. Der
Kläger hat hiergegen auch zweitinstanzlich keinerlei Einwände erhoben.
1. Die Kündigung der Beklagten vom 23.04.2002 ist aber auch deshalb nicht sozial
ungerechtfertigt, weil die Beklagte im Sinne von § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG bei der
Auswahl der zu kündigenden Arbeitnehmer soziale Gesichtspunkte nicht oder
nicht ausreichend berücksichtigt hätte. Die erstmals in der Berufungsinstanz
erhobene Rüge der Sozialauswahl kann der Berufung des Klägers auch dann
nicht zum Erfolg verhelfen, wenn man diese Rüge nicht gemäß § 67 Abs. 2 oder
Abs. 3 ArbGG als verspätet zurückzuweisen hat, etwa weil ihre Zulassung nicht zu
einer Verzögerung des Rechtsstreits führte.
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1. Die Beklagte hat die Sozialdaten des Mitarbeiters R L präzise vorgetragen und
zusätzlich durch Vorlage der Lohnsteuerkarte dieses Mitarbeiters glaubhaft
gemacht. Der Kläger hat die von der Beklagten vorgetragenen Sozialdaten des
Mitarbeiters L daraufhin nicht mehr in Zweifel gezogen, so dass der
diesbezügliche Sachvortrag der Beklagten als unstreitig angesehen werden kann.
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1. Danach spricht zwar im Ausgangspunkt entgegen der von der Beklagten
geäußerten Auffassung einiges dafür, dass der Mitarbeiter L mit den vier von der
Beklagten namentlich benannten Fachwerkern als vergleichbar anzusehen war;
denn nach den in den Regeln des Bundesrahmentarifvertrages für das
Baugewerbe zum Ausdruck kommenden Gepflogenheiten der Branche
unterscheidet sich ein sogenannter Bauwerker von einem Baufachwerker nicht
durch eine andere Art der Tätigkeit, sondern nur dadurch, dass ein Baufachwerker
mindestens 18 Jahre alt sein und mindestens 12 Monate als Bauwerker tätig
gewesen sein muss. Dies spricht dafür, dass nicht nur der Kläger, sondern auch
der Mitarbeiter L als Baufachwerker im Sinne der Berufsgruppe VI des
entsprechenden Anhangs zum Bundesrahmentarifvertrages für das Baugewerbe
über die Berufsgruppen für die Berufe des Baugewerbes anzusehen war.
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1. Gleichwohl ist die von der Beklagten vorgenommene Sozialauswahl objektiv nicht
zu beanstanden. Auch wenn man den Kläger mit dem Mitarbeiter L vergleicht, hat
die Beklagte bei der Sozialauswahl soziale Gesichtspunkte ausreichend
berücksichtigt.
2. So unterscheiden sich der Kläger und der Mitarbeiter L hinsichtlich des Kriteriums
der Betriebszugehörigkeit nicht nennenswert. Der Unterschied in den
Betriebszugehörigkeitszeiten - lediglich 4 1/2 Monate - ist zu geringfügig, um
zwingend den entscheidenden Ausschlag zu Gunsten des Klägers geben zu
müssen.
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1. Von den beiden übrigen Kernkriterien der Sozialauswahl, nämlich demjenigen des
Lebensalters und demjenigen der Unterhaltspflichten, spricht das deutlich höhere
Lebensalter zwar zu Gunsten des Klägers. Auf der anderen Seite hat der
Mitarbeiter L aber drei Personen gegenüber Unterhaltspflichten zu erfüllen,
während der Kläger keine Unterhaltspflichten hat. Nach Überzeugung des
Berufungsgerichts erscheint es - mindestens - ebenso gut vertretbar, bei einer
solchen Ausgangslage dem Kriterium der Unterhaltsverpflichtungen den Vorrang
einzuräumen wie umgekehrt.
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1. Dabei sieht es das Berufungsgericht nicht als seine Aufgabe an, das eigene
Gutdünken an die Stelle der Auswahlentscheidung des Arbeitgebers zu setzen.
Zwar unterliegt die vom Arbeitgeber getroffene Auswahlentscheidung nicht nur
einer Missbrauchs- und Willkürkontrolle, sondern ist von den Gerichten für
Arbeitssachen voll überprüfbar (KR-Etzel, § 1 KSchG Rz. 692). Bei der
Gewichtung der einschlägigen Kriterien für die Sozialauswahl kommt dem
Arbeitgeber jedoch ein Beurteilungsspielraum oder Bewertungsspielraum zu (vgl.
BAG EzA § 1 KSchG Soziale Auswahl Nr. 27; BAG EzA § 1 KSchG
Betriebsbedingte Kündigung Nr. 34; KR-Etzel, § 1 KSchG Rz. 668; Erfurter
Kommentar - Ascheid, Nachw. Rz. 3). Dies folgt zwingend aus der Formulierung
von § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG, wonach es darauf ankommt, ob der Arbeitgeber bei der
Sozialauswahl "soziale Gesichtspunkte nicht oder nicht ausreichend
berücksichtigt hat". Den ihr zustehenden Beurteilungsspielraum hat die Beklagte
im vorliegenden Fall, wie bereits ausgeführt, nicht überschritten.
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1. Andere Gesichtspunkte, die zur Unwirksamkeit der streitigen Kündigung führen
könnten, sind ebenfalls nicht ersichtlich.
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1. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 97 ZPO.
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Ein gesetzlicher Grund für die Zulassung der Revision ist nicht gegeben.
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R e c h t s m i t t e l b e l e h r u n g
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Gegen diese Entscheidung ist ein Rechtsmittel nicht gegeben.
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Auf den Rechtsbehelf der Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 72 a ArbGG wird
vorsorglich hingewiesen.
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(Dr. Czinczoll) (Freking) (Heider)
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