Urteil des LAG Köln vom 15.04.2005

LArbG Köln: geeignete stelle, eigenes verschulden, kündigung, gewerkschaft, rechtsschutz, versicherung, klagefrist, betriebsrat, sorgfalt, bezirk

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Vorinstanz:
Schlagworte:
Normen:
Sachgebiet:
Leitsätze:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Landesarbeitsgericht Köln, 10 Ta 309/04
15.04.2005
Landesarbeitsgericht Köln
10. Kammer
Beschluss
10 Ta 309/04
Arbeitsgericht Köln, 22 Ca 4945/04
Nachträgliche Klagezulassung, Betriebsrat, gewerkschaftlicher
Vertrauensmann
§§ 5 KSchG, 85 II ZPO
Arbeitsrecht
1. Hat sich der gekündigte Arbeitnehmer zur Einleitung eines
Kündigungsschutzverfahrens an ein freigestelltes Betriebsratsmitglied
gewandt, das als ehrenamtlicher Gewerkschaftsfunktionär von der
rechtsschutzgewährenden Gewerkschaft dafür zuständig ist, als
Anlaufstelle Rechtsschutzanträge zu bearbeiten und an die
Fachgewerkschaft weiterzuleiten, trifft ihn kein Eigenverschulden, wenn
die Unterlagen durch einmaliges Versehen verspätet weitergeleitet
wurden und dadurch die Klagefrist versäumt ist.
2. Das Fremdverschulden muss sich der Arbeitnehmer nicht nach § 85 II
ZPO zurechnen lassen. Eine Tätigkeit im Rahmen der Abwicklung von
Rechtsschutzanträgen reicht für eine Verschuldenszurechnung nicht aus.
Auf die sofortige Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des
Arbeitsgerichts Köln vom 15.07.2004
- 22 Ca 4945/04 - aufgehoben und die Kündigungsschutzklage
nachträglich zugelassen.
G r ü n d e :
I. Der Kläger ist seit dem 01.01.1994 bei der Beklagten als Briefzusteller mit einem
monatlichem Bruttoentgelt von zuletzt 1.529,00 € beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis ist
das Kündigungsschutzgesetz anwendbar. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit
einem am 18.03.2004 zugegangenen Schreiben vom 16.03.2004 ordentlich zum
31.07.2004.
Der Kläger ist Mitglied der Gewerkschaft v . Am 22.03.2004 hatte er einen Termin beim
freigestellten Betriebsratsmitglied H , der gleichzeitig Vorsitzender der v -Betriebsgruppe im
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für den Kläger zuständigen Betrieb der Beklagten ist. Nach der eidesstattlichen
Versicherung des Herrn H ist es im Betrieb der Beklagten üblich, dass die freigestellten
Betriebsratsmitglieder, die gleichzeitig im Betriebsgruppenvorstand sind,
Rechtsschutzanträge der Mitglieder entgegen nehmen. Hierzu sind ihnen von der
Fachgewerkschaft und der D Formulare für den Rechtsschutzantrag und
Vollmachtsformulare zur Verfügung gestellt worden, die nach Ausfüllung an den Bezirk der
Fachgewerkschaft weitergeleitet werden. Herr H teilte dem Kläger mit, dass v in
Kündigungsschutzangelegenheiten Rechtsschutz durch die D gewähren könne. Der Kläger
füllte die Unterlagen am selben Tag noch aus und übergab sie Herrn H , der ihm
zusicherte, dass er sie an den v Bezirk weiterleiten werde.
Durch ein Versehen hat Herr H die Kündigungsschutzunterlagen in das Fach "erledigt"
abgelegt und erst nach Ablauf der Klagefrist beim Abheften wiedergefunden. Herr H
bemühte sich zunächst in einem persönlichen Gespräch bei der Niederlassungsleitung um
Rücknahme der Kündigung. Nach definitiver Ablehnung am 29.04.2004 informierte Herr H
den Kläger über die Sachlage am 30.04.2004. Am 14.05.2004 erhob die D für den Kläger
Kündigungsschutzklage und beantragte zugleich nachträgliche Klagezulassung.
Das Arbeitsgericht hat den Antrag als unbegründet zurückgewiesen und hierzu im
Wesentlichen dazu ausgeführt, der Kläger sei nicht unverschuldet daran gehindert worden,
die Klagefrist einzuhalten. Er habe mindestens leicht fahrlässig gehandelt, als er das
Betriebsratsmitglied H mit der Versendung der Klageunterlagen an die
rechtsschutzgewährende Gewerkschaft beauftragt habe. Gegen diesen dem Kläger am
23.08.2004 zugestellten Beschluss hat er am 25.08.2004 sofortige Beschwerde eingelegt.
Der Kläger macht geltend, er habe auf die fristgerechte Weiterleitung der Unterlagen
vertrauen dürfen. Eine Zurechnung des Verschuldens des Herrn H nach § 85 Abs. 2 ZPO
scheide aus, da er nicht sein Prozessbevollmächtigter sei. Die Fachgewerkschaft v
entscheide nach Eingang der Unterlagen darüber, ob Rechtsschutz gewährt werde und ob
die Vertretung durch v selbst, die D oder durch einen Rechtsanwalt erfolge.
Der Kläger beantragt,
den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Kündigungsschutzklage
nachträglich zuzulassen.
Die Beklagte beantragt,
die sofortige Beschwerde kostenpflichtig zurückzuweisen.
Sie vertritt die Auffassung, der Zulassungsantrag sei bereits unzulässig, weil die 2-
Wochen-Frist des § 5 Abs. 3 S. 1 KSchG nicht gewahrt sei. Nach Kenntnis vom
Sachverhalt am 30.04.2004 habe der Kläger noch 2 weitere Wochen gebraucht, um den
Antrag einzureichen. In der Sache treffe den Kläger eigenes Verschulden, weil er eine nicht
zur Auskunft geeignete Stelle aufgesucht und den Botenauftrag nicht überwacht habe. Ihn
treffe aber auch das Verschulden des Herrn H nach § 85 Abs. 2 ZPO. In der Bitte um
Rechtsschutz liege, wenn schon keine unmittelbare Prozessvollmacht, so doch der Auftrag,
bei der Verfolgung der Ansprüche durch Bestellung eines bestimmten
Prozessbevollmächtigten tätig zu werden. Wie bei Rechtsanwälten liege auch bei der D ein
Organisationsmangel vor, wenn nicht gewährleistet werde, dass Vorgänge, die ein
Arbeitnehmer aus der Hand gegeben habe, fehlerfrei bearbeitet werden. Es spreche viel
dafür, dass die D einer Fachgewerkschaft die Vorbereitung der Kündigungsschutzklage nur
dann überlassen dürfe, wenn sie auch die Fristenkontrolle organisieren und überwachen
könne. Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien wird auf die vom
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Kläger eingereichten eidesstattlichen Versicherungen und den übrigen Akteninhalt
verwiesen.
II. Die sofortige Beschwerde des Klägers ist zulässig und begründet.
1. Das Rechtsmittel ist zulässig, denn es ist nach § 5 Abs. 4 S. 2 KSchG statthaft sowie
form- und fristgerecht eingelegt worden. Die 2-Wochen-Frist des § 5 Abs. 3 S. 1 KSchG ist
gewahrt. Der Kläger hat durch eidesstattliche Versicherung glaubhaft gemacht, dass er erst
am 30.04.2004, also nach Ablauf der Klagefrist, Kenntnis davon erlangt habe, dass die
Klage noch nicht eingereicht worden ist. Bei einer Behebung des Hindernisses im Sinne
des § 5 Abs. 3 S. 1 KSchG erst am 30.04.2004 ist die Antragsfrist gewahrt, denn der Antrag
wurde am 14.05.2004 eingereicht. Allerdings hätte sich der Kläger auch im Rahmen der
Antragsfrist das Verschulden eines Prozessbevollmächtigten nach § 85 Abs. 2 ZPO
zurechnen lassen müssen. Die D als Prozessbevollmächtigte des Klägers ist ausweislich
des Schreibens des Herrn H vom 30.04.2004 aber ebenfalls erst an diesem Tage informiert
worden. Sollte v von Herrn H bereits vorher informiert worden sein, wäre eine mögliche
Verzögerung durch v mit der Klagebeauftragung durch die D dem Kläger nicht nach § 85
Abs. 2 ZPO zuzurechnen, denn die Mitarbeiter der Einzelgewerkschaft sind keine
Bevollmächtigten im Sinne dieser Bestimmung. Die Prozessvollmacht des Klägers bezog
sich nur auf die D . Abgesehen davon ergibt sich aus der eidesstattlichen Versicherung des
Herrn H , dass er erst nach dem gescheiterten Gespräch mit der Niederlassungsleitung um
die Rücknahme der Kündigung, also erst nach dem 29.04.2004 die v -
Gewerkschaftssekretärin K. aufsuchte und sodann die Unterlagen an die D weitergeleitet
wurden. Schließlich fällt dem Kläger im Hinblick auf den Beginn des Laufs der 2-Wochen-
Frist kein Eigenverschulden unter dem Gesichtspunkt zur Last, dass er etwa schon vorher
bei zumutbarer Sorgfalt hätte Kenntnis erlangen können (dazu 2.).
2. Der Antrag hat auch in der Sache Erfolg. Der Kläger war trotz Aufwendung aller ihm nach
Lage der Umstände zuzumutenden Sorgfalt verhindert, die Klage innerhalb von drei
Wochen nach Zugang der Kündigung zu erheben (§ 5 Abs. 1 KSchG).
a) Dem Kläger ist nach Lage der Umstände kein Schuldvorwurf zu machen. Grundsätzlich
ist es dem Arbeitnehmer gestattet Rechtsrat einzuholen, bevor er sich zu einer Klage gegen
eine Kündigung entschließt. Er muss sich allerdings an eine geeignete Stelle halten. Nur
wenn der Arbeitnehmer eine geeignete Stelle aufsucht, trifft ihn kein Eigenverschulden,
wenn die 3-Wochen-Frist für die Kündigungsschutzklage aus Gründen versäumt wird, die
allein im Verhalten dieser geeigneten Stelle liegen. Als geeignet kann die Stelle
angesehen werden, die über die notwendige Fachkunde verfügt und zur Auskunft in
arbeitsrechtlichen Fragen berufen ist. Dazu zählen neben Rechtsanwälten grundsätzlich
auch die Rechtsberatungsstellen der Gewerkschaften. Ob der Betriebsrat als eine
geeignete Stelle anzusehen ist, wird unterschiedlich beurteilt. Teilweise wird eine
Einschaltung des Betriebsrats nicht für ausreichend angesehen und dies im Wesentlichen
damit begründet, dass der Betriebsrat der Vertreter der Belegschaft in kollektiven Fragen
und für Einzelinteressen der Arbeitnehmer, insbesondere für die Durchsetzung individueller
Ansprüche nicht zuständig sei (so LAG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 16.04.1998 - 4
Ta 188/97 -; zum Meinungsstreit KR-Friedrich, § 5 KSchG, Rdnr. 33). Zweifel an der
Annahme einer fachkundigen Stelle werden auch bei gewerkschaftlichen Vertrauensleuten
geltend gemacht und dies im Wesentlichen damit begründet, dass sie Träger der
Gewerkschaftsarbeit in den Betrieben seien, deren Aufgabe nicht die Beratung der
Arbeitnehmer sei; ihre Aufgabe bestehe maßgeblich darin, an der Gestaltung und
Organisation ihrer Gewerkschaft mitzuarbeiten und die Gewerkschaftspolitik in den
Betrieben zu vertreten (KR-Friedrich a. a. O., Rdnr. 33 a).
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Im Streitfall besteht die Besonderheit darin, dass sich der Kläger nicht allgemein an "den
Betriebsrat" oder an irgendein Mitglied des Betriebsrats oder an einen mit
Rechtsschutzfragen nicht befassten gewerkschaftlichen Vertrauensmann gewandt hat,
sondern an ein freigestelltes Betriebsratsmitglied, das als ehrenamtlicher
Gewerkschaftsfunktionär von der rechtsschutzgewährenden Gewerkschaft gerade dafür
zuständig war, als Anlaufstelle für die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer
Rechtsschutzanträge zu bearbeiten und an die Fachgewerkschaft weiterzuleiten. Diese
Personen sind nach der eidesstattlichen Versicherung des Gewerkschaftssekretärs H v
Landesfachbereich , P , S , L für ihre Aufgaben auf arbeitsrechtlichem und
sozialrechtlichem Gebiet besonders geschult. Es ist daher nicht zu beanstanden, dass sich
der Kläger wegen seiner Kündigung an Herrn H als die für ihn zuständige Anlaufstelle
gewandt hat. Nachdem Herr H den Kläger dahingehend beraten hatte, dass v in der
Kündigungsschutzangelegenheit Rechtsschutz durch die D gewähren könne und ihm
zugesichert hatte, dass er die Unterlagen an den v -Bezirk weiterleiten werde, durfte sich
der Kläger darauf verlassen, dass Herr H die rechtzeitige Weiterleitung einer
beabsichtigten Klage nicht fahrlässig unterlassen würde (vgl. LAG Bremen, Beschluss vom
23.07.1999 - 4 Ta 48/99 -).
Anhaltspunkte für Zweifel an der Zuverlässigkeit des Herrn H bestanden nicht. Nach allen
drei eidesstattlichen Versicherungen (Kläger, H und H ) hatte Herr H bislang immer korrekt
gearbeitet und alle Anträge fristgerecht weitergeleitet. Der Fall des Klägers stellt sich als
einmaliges Versehen dar.
Dem Kläger kann auch nicht als Verschulden vorgehalten werden, er habe den
"Botenauftrag" durch Herrn H nicht überwacht. Nach Lage der Umstände hatte der Kläger
aus seiner Sicht alles Erforderliche getan, um die 3Wochen-Frist einzuhalten,
insbesondere hatte er bereits vier Tage nach Zugang der Kündigung die Weiterleitung
durch Herrn H veranlasst. Es bestand daher auch keine zeitliche Enge, die den Kläger
hätte dazu veranlassen können, den weiteren Verlauf nachfragend zu überwachen.
b) Das Fremdverschulden des Herrn H muss sich der Kläger nicht nach § 85 Abs. 2 ZPO
zurechnen lassen. Die Zurechnungsnorm des § 85 Abs. 2 ZPO ist zwar im Bereich der
nachträglichen Klagezulassung anwendbar (vgl. nur LAG Köln, Beschluss vom 20.01.2004
- 10 Ta 68/04 -). Herr H ist jedoch nicht Bevollmächtigter im Sinne der Norm.
Bevollmächtigte ist nur die D . Die Tätigkeit des Herrn H im Rahmen der Beratung und
Abwicklung von Rechtsschutzanträgen reicht für eine Verschuldenszurechnung nicht aus.
Das Verschulden anderer nicht mit der Führung des Prozesses beauftragter Personen
kommt nur unter dem Gesichtspunkt des Eigenverschuldens in Betracht, wenn dem Kläger
also vorzuhalten wäre, dass er bei der Auswahl derer, die er im Vorfeld der Beauftragung
eines Prozessbevollmächtigten beteiligt hat, nicht die notwendige Sorgfalt hat walten
lassen (LAG Bremen, Beschluss vom 26.05.2003 - 2 Ta 4/03 -; KR § 5 KSchG Rdnr. 75).
Ein solches Eigenverschulden ist aus den vorgenannten Gründen zu verneinen.
3. Gegen diese Entscheidung ist kein Rechtsmittel gegeben.
(Schroeder)