Urteil des LAG Köln vom 14.08.2009

LArbG Köln (arbeitnehmer, mitarbeiter, beweis des gegenteils, kündigung, umfang, juristische person, produktion, bag, auswahl, arbeitsgericht)

Landesarbeitsgericht Köln, 11 Sa 320/09
Datum:
14.08.2009
Gericht:
Landesarbeitsgericht Köln
Spruchkörper:
11. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
11 Sa 320/09
Vorinstanz:
Arbeitsgericht Bonn, 2 Ca 1849/08
Schlagworte:
Interessenausgleich, Namenslliste, Vermutungswirkung,
Leiharbeitnehmer
Normen:
§ 1 V 1 KSchG
Sachgebiet:
Arbeitsrecht
Leitsätze:
1. Liegen die Voraussetzungen des § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG vor, muss
der Arbeitnehmer darlegen, dass die Beschäftigung für ihn nicht
entfallen ist. Die Vermutungswirkung erstreckt sich auch auf eine
fehlende anderweitige Beschäftigungsmöglichkeit.
2. Die von Leiharbeitnehmern besetzten Stellen können bei Beachtung
der unternehmerischen Organisationsfreiheit nur dann als freie
Arbeitsstellen angesehen werden, wenn sie nicht nur als
Personalreserve zur Abdeckung eines unvorhersehbar auftretenden
Beschäftigungsbedarfs beschäftigt werden.
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Bonn
vom 07.01.2009 – 2 Ca 1849/08 – wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
Die Revision wird zugelassen.
T a t b e s t a n d
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Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer ordentlichen, betriebsbedingten
Kündigung, die Pflicht zur Weiterbeschäftigung und einen Vergütungsanspruch für den
Monat November 2008.
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Die am 22.12.1971 geborene Klägerin ist seit dem 01.08.1999 bei der Beklagten als
gewerbliche Produktionsmitarbeiterin beschäftigt. Die Beklagte stellt Tiernahrung her
und beschäftigt in ihrem Werk E 242 Mitarbeiter.
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Die Beklagte hat unter dem 24.07.2008 einen Interessenausgleich nebst beigefügter
Namensliste von 31 zu kündigenden Arbeitnehmern, einen Sozialplan sowie eine
Auswahlrichtlinie vereinbart. In der Produktion waren 168 gewerbliche Arbeitnehmer
beschäftigt. Nach I. § 1 des Interessenausgleichs/Sozialplans ist der Wegfall von 31
Arbeitsplätzen in unterschiedlichen Bereichen der Produktion beabsichtigt. Dies soll
durch eine Linienoptimierung in verschiedenen Bereichen (11 Mitarbeiter), durch eine
Maschinenlaufzeitreduzierung aufgrund der Volumenreduzierung im Trockenbereich (8
Mitarbeiter) sowie den Wegfall zweier Produkte (C und J ) erfolgen, wovon die
Stilllegung zweier Maschinen und die Volumenreduktion einer Maschine betroffen
seien. Die Klägerin ist in der Namensliste aufgeführt. Ziffer 2. der Auswahlrichtlinie sieht
im Rahmen der sozialen Auswahl vor, dass die Personalstruktur, untergliedert in die
Altersgruppen 25 – 34, 35 – 44, 45 – 54 und 55 sowie älter erhalten bleiben soll.
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Mit Schreiben vom 28.07.2008 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Klägerin
zum 31.10.2008.
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Die Kündigungsschutzklage blieb vor dem Arbeitsgericht ohne Erfolg. Das
Arbeitsgericht wies die Klage ab, da es der Klägerin nicht gelungen sei, die Vermutung
des Vorliegens dringender betrieblicher Erfordernisse zu widerlegen. Die vereinbarte
Betriebsänderung sei nach eigenem Vorbingen der Klägerin jedenfalls zunächst
umgesetzt worden. Eine dauerhafte, wesentliche Änderung der Sachlage nach
Zustandekommen des Interessenausgleichs sei nicht dargetan. Die Klägerin habe auch
nicht dargelegt, dass die Beklagte Stammarbeitsplätze dauerhaft mit Leiharbeitnehmern
besetze. Die stark schwankende Anzahl eingesetzter Leiharbeitnehmer spreche
erkennbar gegen Einsatz dieser Kräfte als Dauerbesetzung. Die soziale Auswahl sei
auch nicht grob fehlerhaft. Die Klägerin habe keinen anderen Arbeitnehmer benannt, der
aus demselben betriebsbedingten Kündigungsgrund an ihrer Stelle hätte gekündigt
werden müssen. Die Abgrenzung des einzubeziehenden Personenkreises nach
Einsatzbereichen halte sich im Rahmen des den Betriebsparteien zukommenden
Ermessensspielraums. Die mangelnde Nichtberücksichtigung einer Unterhaltspflicht für
ein Kind wirke sich vorliegend allenfalls marginal aus. Die Bildung der Altersgruppen
zwecks Erhalts der vorhandenen Altersstruktur stelle ein legitimes Ziel dar. Wegen der
weiteren Einzelheiten wird auf Tatbestand und Entscheidungsgründe des Urteils des
Arbeitsgerichts vom 07.01.2009 (Bl. 203 ff. d.A.) verwiesen.
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Gegen das ihr am 12.02.2009 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 09.03.2009
Berufung eingelegt und diese innerhalb der verlängerten Berufungsbegründungsfrist am
13.05.2009 begründet.
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Die Klägerin bestreitet, dass eine Linienoptimierung stattgefunden habe und im Bereich
Trockenfutter das Volumen dauerhaft reduziert worden sei. Zudem könne die
Entlassung weiterer 12 Mitarbeiter durch den Wegfall der Produkte C und J nicht
begründet werden, denn die Stilllegung zweier Maschinen sowie die
Volumenreduzierung bei einer weiteren Maschine habe bis Dezember 2008 nicht
stattgefunden. Zudem sei der Arbeitskräftebedarf durch Einführung neuer Produkte (M ,
H und G ) im Jahre 2008 angestiegen. Jedenfalls habe sich innerhalb der
Kündigungsfrist gezeigt, dass die im Sozialplan vereinbarten Maßnahmen nicht
umgesetzt worden seien. Die Beklagte benötige für die Produktion nicht nur 137
Arbeitnehmer, sondern, einschließlich des Lagers, 144 Mitarbeiter. Unter
Berücksichtigung von Fehlzeiten ergebe sich ein Arbeitskräftebedarf von 169
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Arbeitnehmern. Folglich seien 32 freie Arbeitsplätze vorhanden, die mit
Leiharbeitnehmern besetzt seien. Der Umfang des Einsatzes von Leiharbeitskräften sei
nach Ausspruch der Kündigung angestiegen. Dies zeige sich an den vorgelegten
Personaleinsatzplänen. Die Bildung der Altersgruppen in den Auswahlrichtlinien sei
willkürlich. Durch diese Altersgruppenbildung sei der 20-jährige Mitarbeiter H von
vornherein unberücksichtigt geblieben. Dies führe ebenso zur grob fehlerhaften
Sozialauswahl wie die Nichtberücksichtigung weiterer 10 Arbeitnehmer aus dem
gewerblichen Bereich. Wären die Altersgruppen in Zehnjahresabschnitten beginnend
mit dem Alter 20 festgelegt worden, wäre die Klägerin in der dann gebildeten
Altersgruppe der 31 bis 40 jährigen nicht von der Kündigung betroffen gewesen.
Die Klägerin beantragt,
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unter Abänderung des am 07.01.2009 verkündeten Urteils des Arbeitsgerichts
Bonn – 2 Ca 1849/08 EU –
10
1) festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom
28.07.2008, zugegangen am 28.07.2008, nicht aufgelöst worden ist,
11
2) die Beklagte zu verurteilen, die Klägerin als Produktionsmitarbeiterin weiter
zu beschäftigen
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3) die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 3.123,70 € nebst Zinsen in
Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszins seit Zustellung der
Klageerweiterung zu zahlen, abzüglich bezogenen Arbeitslosengeldes im
November 2008 in Höhe von 1.182,60 €.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie verteidigt die Entscheidung des Arbeitsgerichts. Die Linienoptimierung sei
durchgeführt worden, wodurch ein dauerhafter Personalminderungsbedarf entstanden
sei. Das Produktionsvolumen in Tonnen Fertigprodukt sei im Vergleich der Jahre 2008
und 2009 um mehr als 16 % zurückgegangen. Die Trockenproduktion sei nicht nur von
40.000 Tonnen auf 31.700 Tonnen zurückgegangen, sondern sogar auf 25.000 Tonnen.
Die vorübergehende, sporadische Produktion in einzelnen Schichten der Produkte C
und J beruhe unstreitig auf einem unabsehbaren temporären Engpass in dem
französischen Schwesterwerk. Die betreffenden Produktionsanlagen seien dadurch nur
minimal, stark schwankend und maximal in einem Umfang von 15 % ausgelastet
worden. Die von der Klägerin behauptete neue Produktpalette betreffe Produkte mit
ähnlich klingendem Namen, die bereits lange vor der im Interessenausgleich
vereinbarten Restrukturierungsmaßnahme in die Produktion aufgenommen worden
seien. Die Klägerin habe auch nicht dargetan, dass im Hause der Beklagten
Stammarbeitsplätze durch Leiharbeitnehmer besetzt wären, die nicht dazu dienten,
einen nicht vorhersehbaren Vertretungsbedarf zu decken. Mangels Qualifikation würden
die Leiharbeitnehmer mit wechselnden, einfachsten Aushilfstätigkeiten zur
Unterstützung des Stammpersonals betraut. Den tatsächlichen Einsatz von
Leiharbeitnehmern könne die Beklagte nicht mehr nachvollziehen. Die von der Klägerin
vorgelegte Personaleinsatzplanung sei lediglich Basis der Anfrage der Beklagten bei
verschiedenen Verleihfirmen gewesen. Es handele sich um Worst-Case-Betrachtungen,
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tatsächlich seien häufiger weniger, keinesfalls aber mehr Leiharbeitnehmer eingesetzt
worden. Zum Umfang des Einsatzes der Leiharbeitnehmer während der Kündigungsfrist
sei zu bemerken, dass viele Arbeitnehmer aufgrund der Haupturlaubszeit gefehlt hätten,
der Krankenstand nach Ausspruch der Kündigungen erheblich angestiegen und die
Produktivität gesunken sei. Der 24-jährige Mitarbeiter H sei nach seinem
Ausbildungsende zum 25.06.2008 als Aushilfe im Bereich Quality Assurance
beschäftigt worden und somit nicht mit der Klägerin vergleichbar. Bei den weiteren von
der Klägerin benannten Mitarbeitern handele es sich nicht um Produktionsmitarbeiter,
sondern um Arbeitnehmer mit abgeschlossener Ausbildung als Schlosser oder
Elektriker, die im Bereich Maintenance bzw. der Werkstatt beschäftigt seien.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
gewechselten Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen Bezug genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
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I. Die Berufung der Klägerin ist zulässig, denn sie ist gemäß § 64 Abs. 2 b), c) ArbGG
statthaft und wurde innerhalb der Fristen des § 66 Abs. 1 ArbGG eingelegt sowie
begründet.
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II. Die Berufung ist unbegründet, denn das Arbeitsgericht hat mit zutreffenden Gründen
die Klage in vollem Umfang abgewiesen. Die Ausführungen der Klägerin in ihrer
Berufungsbegründung rechtfertigen keine abweichende Entscheidung. Die Kündigung
der Beklagten vom 24.07.2008 hat das Arbeitsverhältnis der Klägerin rechtswirksam
zum 31.10.2008 beendet. Deshalb ist die Beklagte nicht zur Weiterbeschäftigung der
Klägerin verpflichtet und schuldet auch keinen Annahmeverzugslohn für den Monat
November 2008.
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Aufgrund der namentlichen Bezeichnung der Klägerin in der Namensliste des
Interessenausgleichs vom 24.07.2008 wird vermutet, dass die Kündigung durch
dringende betriebliche Erfordernisse bedingt ist, §§ 1 Abs. 2, 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG.
Der Klägerin ist es nicht gelungen, diese Vermutung zu widerlegen.
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1. Liegen die Voraussetzungen des § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG vor, muss der
Arbeitnehmer darlegen, dass die Beschäftigung für ihn nicht entfallen ist. Die
Vermutungswirkung erstreckt sich auch auf eine fehlende anderweitige
Beschäftigungsmöglichkeit. Die Vermutung der Betriebsbedingtheit führt gemäß § 46
Abs. 2 Satz 1 ArbGG zur Anwendung des § 292 ZPO, so dass der Beweis des
Gegenteils zulässig ist. Es ist erforderlich, dass substantiierter Tatsachenvortrag
vorliegt, der den gesetzlich vermuteten Umstand nicht nur in Zweifel zieht, sondern
ausschließt. Der Arbeitnehmer muss substantiiert darlegen, wieso der Arbeitsplatz trotz
Betriebsänderung noch vorhanden ist oder wo er sonst im Betrieb oder Unternehmen
weiterbeschäftigt werden kann. Die Führung des Gegenbeweises kann für den
Arbeitnehmer erleichtert werden, wenn es sich um Geschehnisse aus dem Bereich des
Arbeitgebers handelt. Dann mindert sich die Darlegungslast des Arbeitnehmers durch
die aus § 138 Abs. 1 und 2 ZPO folgende Mitwirkungspflicht des Arbeitgebers. Zwar
reicht es zur Widerlegung der Vermutungswirkung des § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG
grundsätzlich aus, wenn der Arbeitnehmer substantiiert darlegt und ggfs. beweist,
aufgrund der getroffenen Unternehmerentscheidung habe sich der
Beschäftigungsbedarf nicht in dem vom Arbeitgeber geltend gemachten Umfang
verringert. Geht es hingegen um die Weiterbeschäftigung in einem anderen als den
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originären Arbeitsbereich des Arbeitnehmers, ist weiter notwendig, dass dort ein freier
vergleichbarer (gleichwertiger) oder ein freier Arbeitsplatz zu geänderten (schlechteren)
Arbeitsbedingungen vorhanden ist. Als frei sind grundsätzlich solche Arbeitsplätze
anzusehen, die zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung unbesetzt sind. Dem steht
es gleich, wenn Arbeitsplätze bis zum Ablauf der Kündigungsfrist frei werden, sofern
dies dem Arbeitgeber im Kündigungszeitpunkt bekannt war oder bekannt sein musste.
Es ist Sache des Arbeitgebers zu bestimmen, wie er vorhandene Arbeiten auf die
beschäftigten Arbeitnehmer verteilt. Er kann grundsätzlich das Verhältnis der Anzahl der
Arbeitskräfte zum Volumen der anfallenden Arbeit festlegen. Die Vermutung der
Betriebsbedingtheit kommt gemäß § 1 Abs. 5 Satz 3 KSchG dann nicht zur Anwendung,
wenn sich die Sachlage nach dem Zustandekommen des Interessensausgleichs so
wesentlich geändert hat, dass von einem Wegfall der Geschäftsgrundlage auszugehen
ist. Wesentlich ist die Änderung dann, wenn nicht ernsthaft bezweifelt werden kann,
dass beide Betriebspartner oder einer von ihnen den Interessenausgleich in Kenntnis
der späteren Änderung nicht oder mit einem anderen Inhalt geschlossen hätte. Dies ist
etwa der Fall, wenn sich nachträglich ergibt, dass nun gar keine oder eine andere
Betriebsänderung durchgeführt werden soll oder wenn sich die im Interessenausgleich
vorgesehene Zahl der zur Kündigung vorgesehenen Arbeitnehmer erheblich verringert
hat. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der wesentlichen Änderung ist der
Kündigungszeitpunkt (BAG, Urt. v. 23.10.2008 – 2 AZR 163/07 – m.w.N.).
2. a) Soweit die Klägerin eine dauerhafte Linienoptimierung bestreitet, ist ihr Vorbringen
zur Widerlegung der Vermutungswirkung des § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG ungeeignet. Das
Arbeitsgericht hat mit Recht darauf hingewiesen, dass zum Kündigungszeitpunkt von
einer laut Interessenausgleich geplanten Linienoptimierung auszugehen ist. Das zeigt
sich bereits daran, dass selbst nach dem Vortrag der Klägerin die Beklagte zunächst
versucht hat, die Anzahl der auf den einzelnen Maschinen eingesetzten Mitarbeiter zu
reduzieren. Ergänzend ist zu bemerken, dass die Klägerin lediglich pauschal behauptet,
dass die Mitarbeiter nunmehr in dem bisherigen Umfang auf den einzelnen Linien
eingesetzt würden, ohne die Linien mit der jeweiligen Mitarbeiterzahl konkret zu
benennen.
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b) Auch hinsichtlich der Maschinenlaufzeitreduzierung aufgrund Volumenreduzierung
im Trockenbereich sowie der betrieblichen Änderung aufgrund des geplanten Wegfalls
zweier Produkte (C und J ) ist das Vorbringen der Klägerin nicht hinreichend. Dass
zunächst eine Volumenreduzierung eingetreten ist, wird von der Klägerin zugestanden.
Wenn diese Reduktion im Herbst 2008 unstreitig durch einen Engpass im französischen
Schwesterwerk vorübergehend kompensiert wurde, ist dies nicht geeignet, einen
dauerhaften Beschäftigungsbedarf zu begründen. Hinsichtlich der behaupteten
Einführung neuer Produkte hat die Klägerin nicht dargetan, dass diese erst nach der
Betriebsänderung in die Produktion aufgenommen worden sind, so dass sich aus der
Erweiterung der Produktpalette keine hinreichenden Rückschlüsse auf einen
zusätzlichen Personalbedarf ziehen lassen.
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c) Wenn die Klägerin meint, die von ihr behauptete betriebliche Entwicklung stelle
jedenfalls eine wesentliche Änderung der Sachlage nach Zustandekommen des
Interessenausgleichs dar, kann dem nicht gefolgt werden, denn es handelt sich, soweit
relevant, sämtlich um Änderungen nach dem Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung, so
dass allenfalls ein Wiedereinstellungsanspruch in Betracht zu ziehen ist.
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d) Für die Klägerin besteht nicht bereits deshalb eine Beschäftigungsmöglichkeit, weil
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die Beklagte Leiharbeitnehmer einsetzt. Der Beklagten steht es grundsätzlich frei, zu
bestimmen, in welchem Umfang sie dauerhaft Personal zur Durchführung der
Produktion einsetzt, um das Volumen der anfallenden Arbeit zu bewältigen. Sie hat
unstreitig vor und nach der im Interessenausgleich beschriebenen
Restrukturierungsmaßnahme Leiharbeitnehmer eingesetzt. Wenn die Klägerin meint, für
die Feststellung eines dauerhaften Personalbedarfs sei der Grund des Einsatzes von
Leiharbeitskräften unbeachtlich, so kann dem nicht gefolgt werden. Es ist daher nicht
plausibel, wenn die Klägerin aufgrund einer Hochrechnung zu erwartender Fehlzeiten
zu einem dauerhaften zusätzlichen Arbeitskräftebedarf von 32
Arbeitnehmern/Leiharbeitskräften gelangt.
aa) Die von Leiharbeitnehmern besetzten Stellen können bei Beachtung der
unternehmerischen Organisationsfreiheit nur dann als freie Arbeitsstellen angesehen
werden, wenn sie nicht nur als Personalreserve zur Abdeckung eines unvorhersehbar
auftretenden Beschäftigungsbedarfs beschäftigt werden (Rost, NZA Beilage 2009, Heft
1, S. 23, 26). Der Arbeitgeber ist grundsätzlich frei in seiner Entscheidung, ob und ggfs.
wie lange er eine Abwesenheit von Arbeitnehmern aufgrund von Krankheit, Urlaubs-,
Sonderurlaubs- oder aus sonstigen Gründen hinnimmt und wie er sie überbrückt. Wird
der Vertretungsbedarf etwa durch rechtlich zulässig gestaltete Arbeitsverträge mit
Arbeitnehmern abgedeckt, denen er durch "Rahmenverträge" verbunden ist, so ist das
durch den Vertretungsbedarf beschriebene Beschäftigungsvolumen nicht frei (vgl.: BAG,
Urt. v. 01.03.2007 – 2 AZR 650/05 -). Der Arbeitgeber ist auch frei in der Entscheidung,
ob und in welchem Umfang er eine Personalreserve für Vertretungsfälle vorhält (vgl.:
BAG, Urt. v. 08.09.1983 – 2 AZR 438/82 -).
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bb) Somit kämen allenfalls diejenigen Arbeitsstellen als frei in Betracht, die dauerhaft
unabhängig eines konkreten Vertretungsbedarfs mit Leiharbeitnehmern besetzt sind.
Dass die Beklagte sich im Rahmen eines unternehmerischen Konzeptes entschlossen
hat, im Abwesenheitsfalle stets auf eine Leiharbeitskraft zurückzugreifen, wird von der
Klägerin nicht behauptet. In welchem Umfang die Beklagte kontinuierlich welche
Arbeitsplätze mit Leiharbeitskräften unabhängig von einem konkreten Vertretungsanlass
besetzt, wird von der Klägerin nicht vorgetragen. Auch die von der Klägerin
eingereichten Personaleinsatzpläne weisen erhebliche Schwankungen in dem –
unterstellten – Einsatz von Leiharbeitskräften ab der 31. Kalenderwoche auf. So
schwankt der Einsatz im Wochendurchschnitt im Bereich Treats zwischen 10,7 und 22,3
sowie im Bereich Dry von 1,5 bis 11,2 in der Spitze. Anhand der von der Klägerin
vorgetragenen Zahlen lässt sich auch nicht beurteilen, ob ihre Tätigkeit nunmehr von
Leiharbeitnehmer übernommen worden ist, da sie pauschal auf den Einsatz von
Leiharbeitskräften ohne Bezug zum Grund des Einsatzes verweist.
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2. Die Kündigung ist nicht wegen einer fehlerhaften sozialen Auswahl sozial
ungerechtfertigt gemäß § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG. Die soziale Auswahl war nicht grob
fehlerhaft im Sinne des § 1 Abs. 5 Satz 2 KSchG.
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a) Grob fehlerhaft ist eine soziale Auswahl nur, wenn ein evidenter, ins Auge
springender schwerer Fehler vorliegt und der Interessenausgelich jede Ausgewogenheit
vermissen lässt. Durch § 1 Abs. 5 Satz 2 KSchG soll den Betriebspartnern ein weiter
Spielraum bei der Sozialauswahl eingeräumt werden. Das Gesetz geht davon aus, dass
durch die Gegensätzlichkeit der von den Betriebspartnern vertretenen Interessen und
durch die auf beiden Seiten vorhandene Kenntnis der betrieblichen Verhältnisse
gewährleistet ist, dass der Spielraum angemessen und vernünftig genutzt wird. Der
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Prüfungsmaßstab gilt sowohl für die sozialen Indikatoren und deren Gewichtung selbst
als auch die Bildung der auswahlrelevanten Gruppen. Die Bildung von Altersgruppen
zum Zwecke der Altersstruktur der Belegschaft ist grundsätzlich rechtlich nicht zu
beanstanden, wobei Gruppenbildungen im Rahmen von "Zehnerschritten" unbedenklich
sind (BAG, Urt. v. 12.03.2009 – 2 AZR 418/07 – m.w.N.).
b) Soweit die Klägerin weiterhin rügt, die Beklagte habe nicht offen gelegt, welche
Vergleichsgruppen sie gebildet habe, ist dies nicht richtig. Die Beklagte hat bereits
erstinstanzlich mit Schriftsatz vom 10.12.2008 die Listen der 168 in die Sozialauswahl
einbezogenen Mitarbeiter vorgelegt und hierzu ergänzend am 07.01.2009 zu Protokoll
erklärt, dass es sich bei den 168 Arbeitnehmern um jene Mitarbeiter handelt, die im
Produktionsbereich beschäftigt werden. Daneben gäbe es noch gewerbliche
Arbeitnehmer im Werkstattbereich, im Lager sowie in der Qualitätsprüfung.
31
Die grobe Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl lässt sich nicht damit begründen, dass
weder der Mitarbeiter H noch die Arbeitnehmer P S , S , K , G , A , J , K , A S , W und G
berücksichtigt worden sind. Die Beklagte hat ohne Widerspruch der Klägerin
vorgetragen, dass es sich hierbei um Arbeitnehmer der Bereiche Quality Assurance,
Maintenance bzw. der Werkstatt handelt. Die Klägerin hat nicht dargelegt, dass diese
Arbeitnehmer überhaupt eine vergleichbare Tätigkeit ausüben. Ob diese Arbeitnehmer
in der Vergangenheit bei Bedarf auch einmal in der Produktion eingesetzt worden sind,
ist im Übrigen unerheblich. Vergleichbar sind Arbeitnehmer, die nach
arbeitsplatzbezogenen Merkmalen aufgrund ihrer Fähigkeiten und Kenntnisse sowie
nach dem Vertragsinhalt austauschbar sind. Es geht darum, ob der unmittelbar
kündigungsbedrohte Arbeitnehmer den fortbestehenden Arbeitsplatz desjenigen
Arbeitnehmers übernehmen kann, dessen Arbeitsplatz nicht weggefallen ist (BAG, Urt.
v. 23.10.2008 – 2 AZR 163/07 – m.w.N.). Wegen der weiteren Rügen der Klägerin im
Rahmen der Sozialauswahl (Nichtberücksichtigung Kinderfreibetrag) wird auf die
überzeugenden Ausführungen des Arbeitsgerichts Bezug genommen.
32
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
33
IV. Die Revision wurde zugelassen. Die Berufungskammer bemisst der Frage, ob
Arbeitsstellen, die von Leiharbeitskräften besetzt werden, ohne Berücksichtigung des
Grunds des Einsatzes als anderweitige Beschäftigungsmöglichkeit zu berücksichtigen
sind, grundsätzliche Bedeutung zu.
34
R e c h t s m i t t e l b e l e h r u n g
35
Gegen dieses Urteil kann von
36
R E V I S I O N
37
eingelegt werden.
38
Die Revision muss
innerhalb einer Notfrist* von einem Monat
39
Bundesarbeitsgericht
40
Hugo-Preuß-Platz 1
41
99084 Erfurt
42
Fax: 0361 2636 2000
43
eingelegt werden.
44
Die Notfrist beginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils,
spätestens mit Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung.
45
Die Revisionsschrift
muss
Bevollmächtigte
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1. Rechtsanwälte,
47
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2. Gewerkschaften und Vereinigungen von Arbeitgebern sowie Zusammenschlüsse
solcher Verbände für ihre Mitglieder oder für andere Verbände oder
Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder,
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50
3. juristische Personen, deren Anteile sämtlich im wirtschaftlichen Eigentum einer
der in Nr. 2 bezeichneten Organisationen stehen, wenn die juristische Person
ausschließlich die Rechtsberatung und Prozessvertretung der Mitglieder dieser
Organisation oder eines anderen Verbandes oder Zusammenschlusses mit
vergleichbarer Ausrichtung entsprechend deren Satzung durchführt und wenn die
Organisation für die Tätigkeit der Bevollmächtigten haftet.
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In den Fällen der Ziffern 2 und 3 müssen die Personen, die die Revisionsschrift
unterzeichnen, die Befähigung zum Richteramt haben.
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Eine Partei die als Bevollmächtigter zugelassen ist, kann sich selbst vertreten.
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* eine Notfrist ist unabänderlich und kann nicht verlängert werden.
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Weyergraf Dipl.Ing. Alfter Holzberger
56