Urteil des LAG Hessen vom 15.05.2008

LAG Frankfurt: nachtarbeit, tarifvertrag, arbeitsgericht, vergütung, betriebsrat, schichtdienst, zivilprozessrecht, quelle, niederlassung, pause

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Gericht:
Hessisches
Landesarbeitsgericht
5. Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
5 Sa 1937/07
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 1 TVG, § 77 Abs 3 S 2
BetrVG
Auslegung einer tariflichen Öffnungsklausel - wirksame
Betriebsvereinbarung über die Verkürzung der
Wochenarbeitszeit
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Kassel
vom 22. November 2007 – 3 Ca 300/07 – wird kostenpflichtig
zurückgewiesen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Vergütung von Nacht- und Feiertagsarbeit.
Der Kläger ist in einem Betrieb der Beklagten in A als Lagerarbeiter vollzeitig im
Schichtdienst zu einem Bruttostundenlohn von € 10,51 beschäftigt. Auf das
Arbeitsverhältnis der Parteien findet ein Haustarifvertrag vom 28.08.2006 (TV)
Anwendung, in dessen § 3 es u. a. heißt:
"1.1 Die regelmäßige Arbeitszeit beträgt für alle Beschäftigten, die vor dem
01. Mai 2005 in die B am Standort A eingetreten sind, ab dem 01.
August 2005 40 Stunden/Woche bzw. 8 Stunden/Tag ohne Ruhepausen.
Für die Mitarbeiter, die nach dem 01. Mai 2005 in die B am Standort A
eingetreten sind, gilt ab Eintritt die 40-Stunden-Woche bzw. der 8-
Stunden-Tag ohne Ruhepausen.
1.2 Eine abweichende Vereinbarung kann aus betrieblichen Gründen vom
Arbeitgeber im Einvernehmen mit dem Betriebsrat festgelegt werden.
...
3. Mehr-, Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit
...
3.2 Als Nachtarbeit gilt die in der Zeit von 22.00 Uhr bis 05.00 Uhr geleistete
Arbeit.
3.3 Die an Sonn- und Feiertagen in der Zeit von 00.00 Uhr bis 24.00 Uhr
geleistete Arbeit gilt als Sonn- und Feiertagsarbeit."
Gemäß § 3 Ziffer 3.6 TV sind für Nachtarbeit während der regelmäßigen Arbeitszeit
Zuschläge in Höhe von 25% sowie für Arbeit an Sonntagen sowie an gesetzlichen
Feiertagen, sofern diese auf einen Sonntag fallen, Zuschläge in Höhe von 60% zu
zahlen. Wegen des gesamten Inhalts des TV wird ergänzend auf seinen Wortlaut
(Bl. 46 – 58 d. A.) ergänzend Bezug genommen. Auf das Arbeitsverhältnis
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(Bl. 46 – 58 d. A.) ergänzend Bezug genommen. Auf das Arbeitsverhältnis
zwischen den Parteien findet weiterhin Anwendung eine
Rahmenbetriebsvereinbarung vom 28.08.2006 (RBV). Deren Ziffer 4. lautet:
"Die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit beträgt gemäß Haustarifvertrag der
C, Niederlassung A 40 Stunden (einschließlich 2 mal 15 Minuten bezahlte Pausen)
für alle Vollzeit beschäftigten Arbeitnehmer.
Die tägliche Soll-Arbeitszeit beträgt bezogen auf eine 5-Tagewoche 1/5 der
wöchentlichen Arbeitszeit, sofern einzelvertraglich keine andere Regelung (z. B.
Teilzeit) getroffen ist."
Schließlich ist auf das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien eine
Betriebsvereinbarung vom selben Tag (BV) anzuwenden, deren Ziffer 2. u. a.
lautet:
"Die regelmäßige tarifliche Wochenarbeitszeit beträgt 40 Stunden. Die
regelmäßige tägliche Arbeitszeit beträgt 8 Stunden (einschließlich 2 mal 15
Minuten bezahlte Pausen)."
Wegen des vollständigen Inhalts von RBV und BV wird ergänzend auf Bl. 59 – 63
bzw. 75 – 78 d. A. verwiesen.
Für die vom Kläger erbrachte Arbeitsleistung zahlte die Beklagte neben der
Grundvergütung auch die jeweils anfallenden Zuschläge bezogen auf die
tatsächlich erbrachte Arbeitsleistung, nicht jedoch für die Pausenzeiten. Hierfür
leistete sie lediglich die Grundvergütung.
Der Kläger hat gemeint, an seiner wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden habe
sich durch die RBV nichts geändert, sodass er auch die jeweiligen Zuschläge für
die bezahlten Pausenzeiten beanspruchen könne. Diese hat er für den Zeitraum
März bis September 2007 nebst Zinsen geltend gemacht und beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger € 99,56 brutto zu zahlen nebst
Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus € 17,34 seit
dem 15. April 2007, aus € 11,57 seit dem 15. Mai 2007, aus € 24,15 seit dem 15.
Juni 2007, aus € 17,34 seit dem 15. Juli 2007, aus € 10,24 seit dem 15. August
2007 und aus € 18,92 seit dem 15. Oktober 2007.
Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, nur für tatsächlich geleistete Nacht-,
Sonn- und Feiertagsarbeit bestehe nach dem TV ein Anspruch auf Zuschläge. Die
RBV sei abgeschlossen worden, da sich gezeigt habe, dass die Regelung der 40-
Stunden-Woche im TV im Betrieb der Beklagten nicht praktikabel gewesen sei
(Zeuge D). Um dem TV inhaltlich so nahe wie möglich zu bleiben, sei vereinbart
worden, die Arbeitszeit auf 37,5 Stunden wöchentlich zu reduzieren, indem den
Mitarbeitern arbeitstäglich 2 mal 15 Minuten bezahlte Pausen gewährt wurden.
Keinesfalls sei es beabsichtigt gewesen, Änderungen über die Regelung des § 3
Ziffer 1.1 TV hinaus vorzunehmen. Ein solches Vorgehen wäre nach Auffassung
der Beklagten auch angesichts der Sperrwirkung gem. § 77 Abs. 3 BetrVG
unwirksam gewesen.
Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien im ersten Rechtszug – insbesondere
hinsichtlich der Berechnung der geltend gemachten Ansprüche – wird auf die in
erster Instanz zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze ergänzend Bezug
genommen.
Mit am 22.11.2007 verkündetem Urteil hat das Arbeitsgericht Kassel – 3 Ca 300/07
– die Klage abgewiesen und die Berufung zugelassen. Zur Begründung hat es
ausgeführt, die Klage sei unbegründet, da gem. § 3 Ziffer 3 TV Anspruch auf
Zuschläge nur "für geleistete Arbeit" bestehe. Die RBV habe der Sache nach die
Arbeitszeit lediglich auf wöchentlich 37,5 Stunden verringert. Auch der Sinn der
Zuschlagszahlung für die besonderen Lasten von Nachtarbeit und für die
Beeinträchtigung von Sonn- und Feiertagen bestehe während der Pausen nicht.
Durch die Verkürzung der Arbeitstage um eine halbe Stunden verringerten sich
auch die durch die Zuschläge auszugleichenden Erschwernisse. Wegen der
vollständigen Entscheidungsgründe wird auf die S. 5 und 6 des angefochtenen
Urteils (Bl. 84 f. d. A.) ergänzend Bezug genommen.
Gegen dieses dem Kläger am 29.11.2007 zugestellte Urteil hat er am 20.12.2007
Berufung eingelegt und dieses Rechtsmittel am 15. Januar 2008 begründet. Er hält
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Berufung eingelegt und dieses Rechtsmittel am 15. Januar 2008 begründet. Er hält
es für zweifelhaft, ob die Betriebsparteien im Hinblick auf § 77 Abs. 3 Satz 1
BetrVG überhaupt befugt gewesen seien, die Arbeitszeit von 40 auf 37,5 Stunden
zu reduzieren und damit faktisch zu einer Lohnkürzung für Arbeitsschichten zu
zuschlagspflichtigen Zeiten zu führen. Er meint weiter, vor dem Hintergrund des §
77 Abs. 3 BetrVG wäre es unzulässig gewesen, durch Betriebsvereinbarung eine
Arbeitszeitverkürzung ohne jeglichen Lohnausgleich zu regeln. Deshalb hätten die
Betriebsparteien eine Vergütung der Pausenzeiten vereinbart und damit eine
Entgeltregelung getroffen, zu der der TV sie in § 3 Ziffer 1.2 TV nicht ermächtigt
habe. Damit habe der Kläger auch für den streitgegenständlichen Zeitraum
Anspruch auf die Zuschläge gem. § 3 Ziffer 3.6 TV für die komplette 8-Stunden-
Schicht.
Der Kläger beantragt,
unter Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Kassel vom 22. November
2007, Az.: 3 Ca 300/07, die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger € 99,56 brutto
nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus € 17,34
seit dem 15. April 2007, aus € 11,57 seit dem 15. Mai 2007, aus € 24,15 seit dem
15. Juni 2007, aus € 17,34 seit dem 15. Juli 2007, aus € 10,24 seit dem 15. August
2007 und aus € 18,92 seit dem 15. Oktober 2007 zu zahlen.
Die Beklagte war im zweiten Rechtszug einschließlich des Verhandlungstermins
vom 15.05.2008 nicht vertreten.
Wegen des vollständigen Vortrags des Klägers im Berufungsrechtszug wird
ergänzend auf Bl. 95 – 97 d. A. Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung des Klägers ist statthaft (§ 64 Abs. 2 a ArbGG) und insgesamt
zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet.
Auch wenn die Beklagte im Berufungsverfahren und im Berufungstermin nicht
vertreten war, war die Berufung des Klägers als unbegründet zurückzuweisen, da
sein Vortrag auch im Berufungsrechtszug kein Klage stattgebendes Urteil trägt (§
64 Abs. 6 ArbGG i. V. m. § 539 Abs. 2 Satz 2, 2. Halbsatz ZPO).
Eine Anspruchsgrundlage für das klägerische Begehren vermochte die Kammer
nicht zu erkennen.
1.
Auf § 3 Ziffer 3.2 und 3.3 i. V. m. 3.6 TV kann der Kläger sein Begehren nicht
stützen. Nach diesen Vorschriften ist u. a. Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit mit
20% bzw. 60% zuschlagspflichtig. Diese Zuschläge sind jedoch nur für "geleistete
Arbeit" zu zahlen. Zutreffend hat das Arbeitsgericht festgestellt, dass während der
Pausen, auch wenn sie aufgrund der BV bzw. RBV mit dem Grundlohn vergütet
wurden, keine Arbeit geleistet wird.
Nach ständiger und zutreffender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts
ist
bei der Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages über die Auslegung
des Wortlauts hinaus der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien zu ermitteln,
soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Weiter ist
danach der tarifliche Gesamtzusammenhang zur Ermittlung von Sinn und Zweck
der Tarifnorm zu bestimmen. Auch wenn man diese Auslegungskriterien
anwendet, wird das bereits vom arbeitsgerichtlichen Urteil gefundene Ergebnis
bestätigt: Die besonderen Belastungen durch Nachtarbeit und die Vorenthaltung
der Sonn- und Feiertagsruhe sollte den Arbeitnehmern durch Zahlung der
entsprechenden Zuschläge ausgeglichen oder jedenfalls gemildert werden. Da der
Umfang dieser Beeinträchtigung des Arbeitnehmers von der Zeitdauer abhängt,
für die Nachtarbeit von ihm gefordert und ihm Sonn- und Feiertagsruhe
genommen werden, ergeben auch Sinn und Zweck der tariflichen Regelung, dass
die Zuschläge nur für Zeiten tatsächlich geleisteter Arbeit beansprucht werden
können.
2.
Entgegen der Auffassung der Berufung ergibt sich auch aus § 77 Abs. 3 BetrVG
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Entgegen der Auffassung der Berufung ergibt sich auch aus § 77 Abs. 3 BetrVG
kein anderes Ergebnis.
Gemäß § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG können Arbeitsentgelte und sonstige
Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise
geregelt werden, wie im vorliegenden Fall die Dauer der Arbeitszeit, nicht
Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Gemäß § 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG
gilt dies allerdings nicht, wenn der Tarifvertrag selbst ergänzende
Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zulässt.
Zwar ist im vorliegenden Fall durch die RBV bzw. die BV keine "ergänzende"
Betriebsvereinbarung abgeschlossen worden. Vielmehr haben die daran
Beteiligten – entsprechend der tariflichen Öffnungsklausel in § 3 Ziffer 1.2 TV – eine
abweichende Vereinbarung getroffen. Auch dies aber ist nach überwiegender
Auffassung zulässig
.
Nach zutreffender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts
können die
Tarifvertragsparteien vom Tarifvertrag abweichende Regelungen auch bezüglich
der tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit wirksam vereinbaren. Dies ist entgegen
der Auffassung des Klägers ggf. auch zu seinen Ungunsten zulässig (§ 4 Abs. 3
TVG;
Da sich aus der Öffnungsklausel des § 3 Ziffer 1.2 TV keine Einschränkung ergibt,
waren die Parteien der RBV bzw. der BV berechtigt, die wöchentliche betriebliche
Arbeitszeit auch mit der Folge von Verdiensteinbußen für die betroffenen
Arbeitnehmer zu verkürzen. Eine Unwirksamkeit der genannten Betriebsnormen,
die zur Fortgeltung der tariflich geregelten Wochenarbeitszeit von 40 Stunden
hätte führen können, ergibt sich daraus nicht.
Wenn der Kläger sich schließlich darauf stützt, dass die Betriebsparteien mit der
Regelung einer vergüteten Pausenzeit von arbeitstäglich 2 mal 15 Minuten über
die Öffnungsklausel des Tarifvertrages hinausgegangen seien, so führt auch dies
nach Auffassung der Kammer nicht zur Begründetheit der Klage. Wenn durch
Betriebsvereinbarung nicht geregelt werden durfte, dass arbeitstäglich 2 mal 15
Minuten Pause mit dem Grundlohn zu vergüten sind, so kann dies nicht zur Folge
haben, dass – entgegen dem Wortlaut des Tarifvertrages (s. o. unter 1.) – für
während der Pausen nicht geleistete Arbeit auch noch Zuschläge zu zahlen sind.
Die Kosten des erfolglosen Rechtsmittels der Berufung hat der Kläger zu tragen (§
97 Abs. 1 ZPO).
Die Revision war gem. § 77 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zuzulassen.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.