Urteil des LAG Hessen vom 19.01.2010

LAG Frankfurt: einstweilige verfügung, anschlussbeschwerde, einweisung, sozialplan, betriebsrat, unterlassen, beschränkung, thüringen, niedersachsen, arbeitsgericht

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Gericht:
Hessisches
Landesarbeitsgericht
4. Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
4 TaBVGa 3/10
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 111 BetrVG, § 112 BetrVG,
§ 935 ZPO
(Unterlassungsanspruch im Zusammenhang mit einer
Betriebsänderung - einstweilige Verfügung)
Orientierungssatz
1. Ein Betriebsrat kann vom Arbeitgeber verlangen, die Durchführung einer geplanten
Betriebsänderung zu unterlassen, solange das Unterrichtungs- und
Beteiligungsverfahren gemäß §§ 111, 112 BetrVG nicht vollständig abgeschlossen ist
(Bestätigung der ständigen Rechtsprechung der erkennenden Kammer).
2. Der Unterlassungsanspruch erfasst die Durchführung von Maßnahmen, die Teil der
mitbestimmungspflichtigen Betriebsänderung sind oder die bezüglich des Ob und des
Wie der Betriebsänderung vollendete Tatsachen schaffen, die aufgrund der
Verhandlungen über den Interessenausgleich nicht mehr revidiert werden können. Nicht
erfasst werden reine Vorbereitungsmaßnahmen wie die Schulung und Einweisung der
Mitarbeiter eines anderen Unternehmens, auf das der nach der Planung des
Arbeitgebers auszugliedernde Betriebsteil übertragen werden soll.
Tenor
Auf die Beschwerde der Beteiligten zu 2) – 5) wird der Beschluss des
Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 30. Dezember 2009 – 3 BVGa 867/09 –
unter Zurückweisung der Anschlussbeschwerde des Antragstellers zum Teil
abgeändert:
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung wird zurückgewiesen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten über einen Unterlassungsanspruch im Zusammenhang mit
einer Betriebsänderung.
Die zu 2) bis 5) beteiligten Arbeitgeberinnen sind die deutschen
Tochtergesellschaften eines international tätigen Konzerns. Sie führen drei
Betriebe in Deutschland, u.a. jeweils einen in A und B. Die in den Betrieben
bestehenden Betriebsräte haben auf der Grundlage von Ziffer III des Tarifvertrages
zur Regelung der Arbeitnehmervertretungsstrukturen im C-Konzern vom 22. Mai
2003 unternehmensübergreifend den antragstellenden
Gemeinschaftsgesamtbetriebsrat gebildet.
Die Arbeitgeberinnen planen, ab Mitte April 2010 das bisher in den Betrieben A
und B, in denen insgesamt etwa 1.600 Arbeitnehmer beschäftigt werden,
angesiedelte Supply-Chain-Management auf eine D Konzerngesellschaft zu
übertragen. Dies soll zum Wegfall von 75 Arbeitsplätzen in A und B führen. Aus
diesem Anlass führen die Beteiligten derzeit Verhandlungen über einen
Interessenausgleich und einen Sozialplan, die bisher nicht abgeschlossen sind. Die
Arbeitgeberinnen beabsichtigten weiter, zur Vorbereitung der Maßnahme ab 04.
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Arbeitgeberinnen beabsichtigten weiter, zur Vorbereitung der Maßnahme ab 04.
Januar 2010 zwanzig Mitarbeiter der D Konzerngesellschaft von den deutschen
Arbeitnehmern der Supply-Chain-Managementabteilung schulen und einarbeiten
zu lassen. Nachdem der Gesamtbetriebsrat außergerichtlich ohne Erfolg von den
Arbeitgeberinnen verlangt hatte, von dieser Maßnahme bis zum Abschluss der
Interessenausgleichsverhandlungen abzusehen, verfolgt er dieses Anliegen mit
dem vorliegenden Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung weiter.
Er hat beantragt,
es dem Beteiligten zu 2), insbesondere der E GmbH, zu untersagen, bei
Meidung eines der Höhe nach durch das Gericht festzusetzenden Ordnungsgeldes
für den Fall der Zuwiderhandlung, im Rahmen der geplanten Verlagerung der
Supply-Chain-Aktivitäten vom Standort in A nach F die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer im AEDM Customer Service in A anzuweisen, ab Januar 2010 die
zukünftig in F mit den AEM Customer Service-Tätigkeiten betrauten
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schulen bzw. einzuarbeiten,
hilfsweise, den Vollzug des AEM Customer Service Transition Plans: Training &
Development ab Januar 2010 auszusetzen und zwar bis zum Abschluss der
Gespräche und Verhandlungen über einen Interessenausgleich und Sozialplan.
Wegen des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes wird auf den
tatbestandlichen Teil des angefochtenen Beschlusses Bezug genommen. Das
Arbeitsgericht hat befristet bis 15. Februar 2010 nach dem Hauptantrag des
Gesamtbetriebsrats erkannt und zur Begründung - kurz zusammengefasst -
ausgeführt, der Gesamtbetriebsrat verlange zu Recht die Unterlassung der
Schulungen und Einweisungen vor Abschluss der
Interessenausgleichsverhandlungen, da diese als Teil der Betriebsänderung
anzusehen seien und mit ihrer Durchführung Fakten geschaffen würden, die den
Verhandlungsspielraum des Betriebsrats hinsichtlich des Ob und des Wie der
Betriebsänderung objektiv erheblich und nachhaltig beeinflussten. Wegen der
vollständigen Begründung wird auf die Ausführungen unter II des angefochtenen
Beschlusses Bezug genommen.
Die Arbeitgeberinnen haben gegen den ihnen am 04. Januar 2010 zugestellten
Beschluss am 06. Januar 2010 Beschwerde eingelegt und diese gleichzeitig
begründet. Der Gesamtbetriebsrat hat auf die ihm am 12. Januar 2010 zugestellte
Beschwerdebegründung am 14. Januar 2010 Anschlussbeschwerde eingelegt.
Die Arbeitgeberinnen halten an ihrer Auffassung fest, dass die Schulung und
Einweisung der D Mitarbeiter nicht Teil der Betriebsänderung sei, und beantragen,
den Beschluss des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 30. Dezember 2009
- 3 BVGa 867/09 - zum Teil abzuändern und den Antrag insgesamt
zurückzuweisen,
die Anschlussbeschwerde zurückzuweisen.
Der Gesamtbetriebsrat beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen und den Beschluss des Arbeitsgerichts
Frankfurt am Main vom 30. Dezember 2009 - 3 BVGa 867/09 - zum Teil
abzuändern und den Beteiligten zu 2) bis 5) über den 15. Februar 2010 hinaus zu
untersagen, im Rahmen der geplanten Verlagerung der Supply Chain-Aktivitäten
vom Standort A nach F die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im AEM
Customer Service in A anzuweisen, die zukünftig in F mit den AEM Customer
Service-Tätigkeiten betrauten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu schulen
bzw. einzuarbeiten, und zwar bis zum Abschluss der Gespräche und
Verhandlungen über einen Interessenausgleich und Sozialplan.
Der Gesamtbetriebsrat geht weiter davon aus, dass der beabsichtigte Know-how-
Transfer bereits Teil des Vollzugs der Betriebsänderung sei. Es gebe allerdings
keinen Grund für eine zeitliche Beschränkung der einstweiligen Verfügung bis 15.
Februar 2010.
Wegen des weiteren zweitinstanzlichen Vortrags der Beteiligten wird auf die
gewechselten Schriftsätze verwiesen.
II.
Die Beschwerde der Arbeitgeberinnen ist begründet, da dem Gesamtbetriebsrat
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Die Beschwerde der Arbeitgeberinnen ist begründet, da dem Gesamtbetriebsrat
der geltend gemachte Unterlassungsanspruch nicht zusteht. Dementsprechend
ist die Anschlussbeschwerde des Gesamtbetriebsrats nicht begründet.
Nach der langjährigen Rechtsprechung der erkennenden Kammer kann ein
Betriebsrat vom Arbeitgeber die Unterlassung der Durchführung einer
Betriebsänderung verlangen, solange das Unterrichtungs- und
Beteiligungsverfahren gemäß §§ 111, 112 BetrVG nicht vollständig abgeschlossen
ist
. Dieser Anspruch dient der Sicherung des Verhandlungsanspruchs
des Betriebsrats. Mit ihm soll verhindert werden, dass der Arbeitgeber diesen
durch die Schaffung vollendeter Tatsachen zunichte machen kann
.
Die Reichweite dieses Anspruchs ergibt sich aus dieser Zwecksetzung und dem
Umfang des geschützten Mitbestimmungsrechts. Zu unterlassen hat der
Arbeitgeber die Durchführung von Maßnahmen, die Teil der
mitbestimmungspflichtigen Betriebsänderung sind, also etwa den Ausspruch
betriebsbedingter Kündigungen, die Durchführung von Versetzungen oder
grundlegenden Änderungen der Betriebsorganisation, des Betriebszwecks oder
der Betriebsanlagen oder die Einführung grundlegend neuer Arbeitsmethoden.
Vom Unterlassungsanspruch ebenso erfasst werden Dispositionen des
Arbeitgebers, mit denen dieser vollendete Tatsachen hinsichtlich des Ob oder des
Wie der Betriebsänderung schafft, die aufgrund der Verhandlungen über den
Interessenausgleich nicht mehr revidiert werden können. Dagegen bezieht sich der
Unterlassungsanspruch nicht auf reine Vorbereitungshandlungen. Dazu zählen
etwa Akte der unternehmensinternen Willensbildung wie die Durchführung von
Gesellschafterversammlungen oder Verwaltungsratssitzungen, in denen über eine
Betriebsänderung entschieden werden soll
, aber auch sonstige, nach außen tretende
Vorbereitungshandlungen wie die Unterrichtung der Arbeitnehmer über im Fall von
Eigenkündigungen bestehende Abfindungsansprüche, sofern durch diese nicht
unumkehrbare Tatsachen geschaffen werden
. Andernfalls würden durch die
Gewährung von Unterlassungsansprüchen dem Betriebsrat weitergehende,
gesetzlich nicht vorgesehene Beteiligungsrechte eröffnet und das
Beteiligungssystem des Betriebsverfassungsgesetzes contra legem erweitert.
Danach sind die Arbeitgeberinnen nicht verpflichtet, die Schulung und Einweisung
der D Arbeitnehmer bis zum Abschluss der Interessenausgleichsverhandlungen
der Beteiligten zurückzustellen. Diese sind entgegen der Ansicht des
Gesamtbetriebsrats nicht Teil der geplanten Betriebsänderung, sondern reine
Vorbereitungsmaßnahmen. Die Durchführung von Schulungen der Arbeitnehmer
anderer Konzerngesellschaften durch den Arbeitgeber wird von keinem der
Tatbestände von § 111 Satz 1, Satz 3 BetrVG erfasst. Sie ist auch nicht Teil der
von den Arbeitgeberinnen geplanten mitbestimmungspflichtigen
Betriebseinschränkung gemäß § 111 Satz 3 Nr. 1 BetrVG. Die Durchführung einer
Betriebsänderung beginnt erst, wenn der Arbeitgeber Maßnahmen ergreift, die
vollendete Tatsachen schaffen und die Betriebsänderung vorwegnehmen
. Dazu genügt etwa die Bekanntgabe
des Entschlusses des Arbeitgebers zur Durchführung der Betriebsänderung nicht,
obwohl der Arbeitgeber sich dadurch öffentlich festlegt
.
Die Schulungen und Einweisungen der D Arbeitnehmer sind nicht Teil der
Betriebsänderung, da sie diese nicht vorwegnehmen, sondern nur vorbereiten. Mit
Betriebsänderung, da sie diese nicht vorwegnehmen, sondern nur vorbereiten. Mit
ihnen werden hinsichtlich der Durchführung der Betriebsänderung keine
vollendeten Tatsachen geschaffen, die aufgrund der
Interessenausgleichsverhandlungen nicht revidiert werden könnten. Die Betriebe in
A und B werden durch sie weder in ihrer Größe noch in ihrem Ablauf auf nach § 111
Satz 1, Satz 3 BetrVG relevante Weise betroffen. Es kommt insbesondere nicht zu
dem vom Gesamtbetriebsrat angeführten „Know-how-Transfer“. Das in den
Betrieben vorhandene Know-how und damit die Leistungsfähigkeit der Supply-
Chain-Managementabteilungen dieser Betriebe bleibt vielmehr unberührt. Durch
die Maßnahmen werden lediglich die Kenntnisse der externen Mitarbeiter der D
Schwestergesellschaft erweitert. Dies ist eine reine Vorbereitungsmaßnahme, mit
der hinsichtlich der Betriebsänderung keine vollendeten Tatsachen geschaffen
werden. Dass in der Durchführung der Schulungen eine nach außen tretende
Manifestierung der Entschlossenheit der Arbeitgeberinnen zur Durchführung der
geplanten Betriebsänderung liegt, macht sie nicht zum Teil der Betriebsänderung.
An derartigen Handlungen sind die Arbeitgeberinnen aus den dargelegten
Grundsätzen vielmehr nicht gehindert.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.