Urteil des LAG Hessen vom 14.09.2006

LAG Frankfurt: gerichtlicher vergleich, betriebsrat, arbeitsgericht, zwangsvollstreckung, kündigung, vollstreckungstitel, beteiligter, zustellung, missbrauch, anhörung

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Gericht:
Hessisches
Landesarbeitsgericht
9. Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
9 TaBV 80/06
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 77 Abs 1 BetrVG, § 77 Abs
2 BetrVG, § 77 Abs 4 BetrVG,
§ 77 Abs 5 BetrVG, § 77 Abs
6 BetrVG
(Keine Zwangsvollstreckung bei Kündigung einer in einem
gerichtlichen Vergleich festgehaltenen Vereinbarung
zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat -
Betriebsvereinbarung - Regelungsabrede)
Leitsatz
Eine im Rahmen eines gerichtlichen Vergleiches abgeschlossene Betriebs-vereinbarung
(oder Regelungsabrede) ist grundsätzlich gem. § 77 Abs. 5 BetrVG (entspr.) kündbar.
Tenor
Auf die Beschwerde des Beteiligten zu 1) wird der Beschluss des Arbeitsgerichts
Frankfurt am Main vom 14. Februar 2006 - 18 BV 821/05 - abgeändert.
Die Zwangsvollstreckung aus dem vor dem Arbeitsgericht Frankfurt am Main
geschlossenen Vergleich vom 05. Oktober 1988 - 14 BV 23/87 - wird für unzulässig
erklärt.
Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten um die Zulässigkeit der Zwangsvollstreckung aus einem
Vergleich.
Antragsteller und Beteiligter zu 1) ist der Arbeitgeber, Beteiligter zu 2) ist der für
den Betrieb des Beteiligten zu 1) gewählte Betriebsrat. Die Beteiligten schlossen
am 5. Okt. 1988 vor dem Arbeitsgericht Frankfurt am Main zur Erledigung des
Beschlussverfahrens 14 BV 23/87 folgenden Vergleich:„1. Der Antragsgegner wird
den Antragsteller im Vorfeld personeller Maßnahmen, soweit es sich nicht um
Ersatzbeschäftigung handelt, so früh wie möglich, auf jeden Fall vor interner
Ausschreibung, über die geplante personelle Maßnahme unterrichten und sie mit
dem Antragsteller beraten.2. Mit diesem Vergleich ist das Verfahren erledigt.“
Der Betriebsrat ließ den Vergleich am 22. April 2005 förmlich zustellen. Der
Arbeitgeber teilte dem Betriebsrat durch Schreiben vom 19. Mai 2005 mit, er
kündige die Vereinbarung fristgerecht. Der Betriebsrat bestand darauf, dass die
Vereinbarung weiterhin Bestand habe.
Der Arbeitgeber ist der Ansicht gewesen, die im Vergleich getroffene Regelung
stelle eine freiwillige Betriebsvereinbarung dar. Die in § 77 Abs. 2 BetrVG
vorgeschriebene Schriftform werde durch die Protokollierung des gerichtlichen
Vergleiches ersetzt, §§ 126 Abs. 4, 127 a BGB. Es könne indessen dahinstehen, ob
der Vergleich materiellrechtlich eine freiwillige Betriebsvereinbarung oder
Regelungsabrede darstelle, da auch für Regelungsabreden die
Kündigungsmöglichkeit des § 77 Abs. 5 BetrVG gälte.
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Der Arbeitgeber hat beantragt,
1. die Zwangsvollstreckung aus dem vor dem Arbeitsgericht in Frankfurt am
Main geschlossenen Vergleich vom 5. Okt. 1988 – 14 BV 23/87 – für unzulässig zu
erklären;
2. hilfsweise, festzustellen, dass nach Ablauf des 20. August 2005 aus der
Vereinbarung in dem Prozessvergleich vor dem Arbeitsgericht Frankfurt am Main
vom 5. Okt. 1988 - 14 BV 23/87 - Ansprüche des Betriebsrats nicht mehr
hergeleitet werden können und den Arbeitgeber aus der im Vergleich getroffenen
Vereinbarung keine Verpflichtungen mehr treffen.
Der Betriebsrat hat beantragt,
die Anträge zurückzuweisen.
Der Betriebsrat ist der Auffassung gewesen, so wenig eine gerichtliche
Entscheidung kündbar sei, sei es ein gerichtlicher Vergleich.
Wegen der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlichen Vorbringens, des vom
Arbeitsgericht festgestellten Sachverhalts und des arbeitsgerichtlichen Verfahrens
wird auf die Sachdarstellung des angefochtenen Beschlusses verwiesen.
Das Arbeitsgericht Frankfurt am Main hat die Anträge durch Beschluss vom 14.
Febr. 2006 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Vergleich
beinhalte keine eigenständige Betriebsvereinbarung über die Ausgestaltung der
Mitbestimmungsrechte nach §§ 92 ff. BetrVG, weil kein normativer, auf die
Arbeitsverhältnisse wirkender Teil einer solchen Vereinbarung auszumachen sei.
Es könne zudem nicht unterstellt werden, dass der Betriebsratsvorsitzende bei der
Anhörung zum Abschluss einer Betriebsvereinbarung ermächtigt gewesen sei.
Auch eine betriebsverfassungsrechtliche Regelungsabrede sei mangels eines
Betriebsratsbeschlusses nicht zustande gekommen. Auf jeden Fall hätte die
Kündigung die Wirkung des Vergleichs nicht beseitigt, da sonst Rechtsunsicherheit
und Missbrauch bei der Erledigung von Beschlussverfahren Tür und Tor geöffnet
wäre. Die Effektivität der Erledigung wäre im Hinblick auf das Ziel der
Rechtssicherheit und Rechtsbefriedigung schwer beeinträchtigt. Wegen der
weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf die arbeitsgerichtlichen
Beschlussgründe verwiesen.
Gegen diesen ihm am 6. April 2006 zugestellten Beschluss hat der Arbeitgeber am
4. Mai 2006 Beschwerde eingelegt und diese am 19. Mai 2006 begründet.
Der Arbeitgeber ist der Auffassung, Gegenstand einer Betriebsvereinbarung
könnten auch betriebsverfassungsrechtliche Fragen sein. Auf eine fehlende
vorherige Beschlussfassung des Betriebsrats käme es wegen der
Prozessvollmacht seines Bevollmächtigten nicht an. Sie wäre spätestens durch die
im Beschluss des Betriebsrats zur förmlichen Zustellung liegende Genehmigung
geheilt worden. Der Vergleich regele keine zwingenden Mitbestimmungsrechte,
sondern stelle eine freiwillige Vereinbarung über die Unterrichtungs- und
Beratungspflicht des Arbeitgebers bei personellen Maßnahmen dar.
Der Arbeitgeber begehrt die Abänderung des angefochtenen Beschlusses und
wiederholt insoweit seine erstinstanzlichen Anträge. Der Betriebsrat beantragt die
Zurückweisung der Beschwerde und verteidigt den angefochtenen Beschluss. Er
meint, von dem Sachverhalt der Entscheidung des BAG vom 23. Juni 1992
unterscheide sich der vorliegende Fall insoweit, als der dortige Vergleich nicht als
Vollstreckungstitel geeignet gewesen sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Beschwerdevorbringens wird auf die
Beschwerdeschriftsätze und den Inhalt der Sitzungsniederschrift vom 14. Sept.
2006 verwiesen.
II.
Die statthafte und zulässige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Der
Zwangsvollstreckungsgegenantrag des Arbeitgebers gemäß § 767 Abs. 1 ZPO ist
nach § 85 Abs. 2 ArbGG auch im betriebsverfassungsrechtlichen
Beschlussverfahren statthaft. Der Antrag ist zulässig. Er richtet sich gegen einen
Vollstreckungstitel gemäß § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO. Der Antrag ist auch begründet,
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Vollstreckungstitel gemäß § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO. Der Antrag ist auch begründet,
da in Gestalt der nachträglichen Kündigung des Arbeitgebers vom 19. Mai 2005
eine Einwendung gegen den titulierten Anspruch besteht.
Der Vergleich vom 5. Okt. 1988 stellt materiellrechtlich eine Betriebsvereinbarung
dar. Der Vergleich ist durch die Prozessvollmacht gedeckt, § 81 ZPO (BAG
Beschluss vom 23. Juni 1992 – 1 ABR 53/91 – EzA § 87 BetrVG 1972 Arbeitszeit Nr.
50) und außerdem durch die Entscheidung über die Zustellung des Titels als
genehmigt anzusehen. Das Schriftformerfordernis ist durch den protokollierten
gerichtlichen Vergleich gewahrt, §§ §§ 126 Abs. 4, 127 a BGB. Die Kündigung
bedarf weder eines Grundes noch einer sachlichen Begründung (BAG Urteil vom
26. April 1900 – 6 AZR 278/88 – EzA § 77 BetrVG 1972 Nr. 35). Die
Betriebsvereinbarung wirkt nicht gemäß § 77 Abs. 6 BetrVG nach, da es sich nicht
um eine mitbestimmungspflichtige Angelegenheit handelt, sondern um die
Ausgestaltung und Konkretisierung der Unterrichtung des Betriebsrats nach § 99
Abs. 1 BetrVG und die Erweiterung des Beteiligungsrechts des Betriebsrats. Das
kann Gegenstand einer freiwilligen Betriebsvereinbarung sein, führt jedoch nicht
zur Annahme einer mitbestimmungspflichtigen Angelegenheit nach § 87 Abs. 2
BetrVG. Die Betriebsvereinbarung kann als Normenvertrag auch normative
Regelung über betriebsverfassungsrechtliche Fragen treffen (LAG Hamburg
Beschluss vom 6. Mai 1994 – 3 TaBV 8/93 – LAGE § 77 BetrVG 1972 Nr. 20; Fitting,
BetrVG, 23. Aufl., § 77 Rz. 45; DKK-Berg, 10. Aufl., § 77 Rz. 37, 40 a; GK-
BetrVG/Kreutz, 8. Aufl., § 77 Rz. 210). Den Befürchtungen des Arbeitsgerichts, die
Kündbarkeit der Vereinbarung gefährde die Befriedungsfunktion des gerichtlichen
Vergleiches oder berge gar die Gefahr des Rechtsmissbrauchs, kann dadurch
wirksam begegnet werden, dass Mindestlaufzeiten, längere Kündigungsfristen oder
eine Nachwirkung vereinbart werden (vgl. BAG Beschluss vom 28. April 1998 - 1
ABR 43/97 - EzA § 77 BetrVG 1972 Nachwirkung Nr. 1).
Auch dann, wenn man die vergleichsweise Regelung als Regelungsabrede ansieht,
ändert sich nichts. Das Kündigungsrecht des § 77 Abs. 5 BetrVG gilt für beide
Gestaltungen (BAG Beschluss vom 23. Juni 1992 – 1 ABR 53/91 – EzA § 87 BetrVG
1972 Arbeitszeit Nr. 50; LAG Hamburg Beschluss vom 6. Mai 1994 – 3 TaBV 8/93 –
LAGE § 77 BetrVG 1972 Nr. 2; Richardi, BetrVG, § 77 Rz. 232). Eine Vereinbarung
im Sinne des § 77 Abs. 1 BetrVG kann auch eine Regelungsabrede als formlose
Vereinbarung sein (vgl. Richardi, BetrVG, § 77 Rz. 225). Auch diese entfaltete
mangels einer mitbestimmungspflichtigen Angelegenheit keine Nachwirkung
gemäß § 77 Abs. 6 BetrVG (BAG Urteil vom 26. April 1900 – 6 AZR 278/88 – EzA §
77 BetrVG 1972 Nr. 35; Richardi, BetrVG, § 77 Rz. 234).
Eine Kostenentscheidung ergeht nach § 2 Abs. 2 GKG nicht.
Die Rechtsbeschwerde ist wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache
zuzulassen, §§ 92 Abs. 1, 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.