Urteil des LAG Hessen vom 15.07.2008

LAG Frankfurt: verfassungskonforme auslegung, vernehmung von zeugen, produktion, kleinunternehmen, geschäftsführer, muttergesellschaft, echtheit, beteiligungsrecht, serie, arbeitsgericht

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Gericht:
Hessisches
Landesarbeitsgericht
4. Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
4 TaBV 128/08
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 76 Abs 2 S 2 BetrVG, § 98
Abs 1 S 2 ArbGG, § 111 S 1
BetrVG, §§ 111ff BetrVG, §
111 S 3 Nr 1 BetrVG
(Einigungsstelle - offensichtliche Unzuständigkeit -
Offensichtlichkeitsmaßstab - Möglichkeit einer
Beweisaufnahme zwecks Tatsachenfeststellungen)
Leitsatz
Tatsachenfeststellungen sind im Verfahren der Bestellung einer Einigungssstelle gemäß
§ 98 ArbGG auf eine Schlüssigskeitsprüfung beschränkt, in die der unstreitige Vortrag
der Beteiligten einschließlich in ihrer Echtheit unstreitige Urkunden und die streitigen
Tatsachenbehauptungen des Antragstellers einzubeziehen sind. Es besteht kein Raum
für die Durchführung einer Beweisaufnahme.
Tenor
Die Beschwerde der Beteiligten zu 2) gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts
Darmstadt vom 30. April 2008 – 10 BV 3/08 – wird zurückgewiesen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten über die Bestellung einer Einigungsstelle.
Die zu 2 beteiligte Arbeitgeberin stellt Laborarmaturen her und vertreibt diese. Sie
ist Teil eines Konzerns mit weltweit etwa 8.000 Mitarbeitern. Muttergesellschaft ist
ein niederländisches Unternehmen. Die deutschen Konzerngesellschaften
beschäftigen mehr als 500 Arbeitnehmer. Die Geschäftsführer der
Konzerngesellschaften üben üblicherweise weitere Geschäftsführerämter in
mehreren Konzerngesellschaften aus. So ist der Geschäftsführer A der
Arbeitgeberin gleichzeitig Geschäftsführer der Muttergesellschaft. Die
Geschäftsführer B und C sind gleichzeitig Geschäftsführer der dänischen
Konzerngesellschaft D, die an der Spitze der auch die Arbeitgeberin umfassenden
E-Unternehmensgruppe steht. Ein Gewinnabführungsvertrag besteht nicht. D stellt
ebenfalls Laborarmaturen her und verfügt über moderne Produktionsanlagen und
eine Entwicklungsabteilung. Die Produktionsanlagen der Arbeitgeberin wurden seit
längerer Zeit nicht erneuert. Aufgabe der Arbeitgeberin ist neben der Produktion
der Vertrieb von Produkten der dänischen Gesellschaft in Deutschland.
D entwickelte in den letzten Jahren eine neue innovative Produktionsreihe, die
„Serie 25“. Kein Wettbewerber verfügt über vergleichbare Produkte. Parallel dazu
drangen die bisherigen Kunden der Arbeitgeberin darauf, mit Produkten von D
beliefert zu werden. Vor diesem Hindergrund wurde die Produktion bei der
Arbeitgeberin sukzessive eingestellt und von D fortgeführt. Anlässlich der
Verlagerung der Herstellung von Mischbatterien und Abzugs- und
Durchgangsarmaturen sprach die Arbeitgeberin im März 2007 vier
betriebsbedingte Kündigungen zum 30. September 2007 aus. Dadurch sowie
durch weitere Arbeitsvertragsbeendigungen reduzierte sich die Belegschaft der
Arbeitgeberin von 28 Arbeitnehmern Anfang 2007 bis Dezember 2007 auf 19
Arbeitnehmer. Bis April 2008 senkte sie sich auf 17 Arbeitnehmer. Ob sie seit Mai
2008 wieder bei 21 Arbeitnehmern liegt, ist zwischen den Beteiligten streitig.
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Am 27. Februar 2008 beschloss die Muttergesellschaft der Arbeitgeberin, die
gesamte Produktion der Arbeitgeberin zum 30. September 2008 stillzulegen. Die
Arbeitsverträge der neun verbliebenen Produktionsarbeiter sollen zu diesem
Termin gekündigt werden. Der Betriebsrat strebte aus diesem Anlass die Bildung
einer Einigungsstelle zur Verhandlung über den Abschluss eines
Interessenausgleichs und eines Sozialplans an. Nachdem die Arbeitgeberin dies
ablehnte, verfolgt er dieses Anliegen im vorliegenden Verfahren weiter.
Wegen des erstinstanzlichen Sach- und Streitstands und der dort gestellten
Anträge wird auf den tatbestandlichen Teil des angefochtenen Beschlusses und
auf die mit diesem in Bezug genommenen Aktenteile verwiesen. Das
Arbeitsgericht hat den Vizepräsidenten des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main a.
D. F zum Vorsitzenden der beantragten Einigungsstelle bestellt, die Zahl der
Beisitzer auf zwei pro Seite festgelegt und die Anträge des Betriebsrats im Übrigen
zurückgewiesen. Die Einigungsstelle sei nicht offensichtlich unzuständig im Sinne
von § 98 Abs. 1 S. 2 ArbGG. Angesichts des kurzen zeitlichen Abstands zwischen
den geplanten Kündigungen und den Entlassungen aus dem Jahr 2007 bestehe
eine tatsächliche Vermutung, dass beide Maßnahmen auf einer einheitlichen
unternehmerischen Planung beruhen, zumal die Gründe der
Produktionsverlagerungen jeweils gleich gewesen seien. Demzufolge sei die
Betriebsgröße von Anfang 2007 maßgeblich und die Maßnahme gemäß §§ 111 ff
BetrVG mitbestimmungspflichtig. Wegen der vollständigen Begründung wird auf
die Ausführungen unter II. des angefochtenen Beschlusses Bezug genommen.
Die Arbeitgeberin hat gegen den am 08. Mai 2008 zugestellten Beschluss am 23.
Mai 2008 (Freitag nach Fronleichnam) Beschwerde eingelegt und diese gleichzeitig
begründet. Sie rügt, das Arbeitsgericht habe maßgebliche Teile des unstreitigen
Sachverhalts nicht berücksichtigt und sei verpflichtet gewesen, den streitigen
Sachverhalt durch Beweiserhebung aufzuklären. Sie behauptet weiter, die
Maßnahmen aus dem März 2007 und die aus Februar 2008 beruhten nicht auf
einer einheitlichen Entscheidung. Zwar sei aufgrund der Überalterung der
Produktionsanlagen klar gewesen, dass irgendwann die Entscheidung anstehen
würde, ob die Anlagen erneuert oder stillgelegt würden. Sie hätten jedoch aufgrund
ihrer nach wie vor gegebenen Rentabilität über das Jahr 2008 hinaus
weiterbetrieben werden können, wie es im März 2007 auch noch geplant gewesen
sei. Der Beschluss über die alsbaldige Stilllegung sei erst deshalb getroffen
worden, weil sich zum Jahreswechsel 2007/2008 herausgestellt habe, dass die
Serie 25 auf großes Interesse auf dem Markt stieß, was überraschend gewesen
sei, und weil sich zu diesem Zeitpunkt die Zertifizierung der Serie abzeichnete. Die
erst zu diesem Zeitpunkt fundierte Erwartung, mit den neuen Produkten
Weltmarktführer werden zu können, habe dann den Stilllegungsbeschluss
veranlasst. Nach diesem Beschluss habe die Arbeitgeberin nie mehr als 18
Arbeitnehmer beschäftigt.
Wegen des weiteren zweitinstanzlichen Vortrags der Arbeitgeberin wird auf die
Schriftsätze vom 21. Mai, 07. Juli und 14. Juli 2008 Bezug genommen.
Die Arbeitgeberin beantragt,
den Beschluss des Arbeitsgerichts Darmstadt vom 30. April 2008 – 10 BV 3/08
– abzuändern und die Anträge zurückzuweisen.
Der Betriebsrat hält zur Begründung seines Zurückweisungsantrags an seiner
Behauptung fest, dass die Stilllegung Teil einer mehrere Jahre umfassenden
Planung gewesen sei. Sie sei keine Reaktion auf aktuelle Entwicklungen, sondern
die Konsequenz der seit Jahren praktizierten Unternehmenspolitik gewesen, nicht
mehr in die Produktion der Arbeitgeberin zu investieren und sich schrittweise auf
den Vertrieb zu konzentrieren. Seit Mai 2008 beschäftige die Arbeitgeberin wieder
21 Arbeitnehmer. Zudem sei der Schwellenwert von § 111 S. 1 BetrVG
konzernbezogen auszulegen, wenn ein konzernangehöriges Kleinunternehmen von
der Muttergesellschaft gesteuert wird.
Wegen des weiteren zweitinstanzlichen Vortrags des Betriebsrats wird auf die
Schriftsätze vom 12. Juni und 11. Juli 2008 Bezug genommen.
II.
Die Beschwerde ist nicht begründet.
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1. Das Arbeitsgericht hat die Einigungsstelle zu Recht gemäß §§ 76 Abs. 2 S. 2
BetrVG, 98 Abs. 1 ArbGG bestellt. Zurückzuweisen wäre der Bestellungsantrag
nach § 98 Abs. 1 S. 2 ArbGG nur, wenn die Einigungsstelle für den angestrebten
Regelungsgegenstand offensichtlich unzuständig wäre. Dies könnte ausschließlich
mit der Nichtüberschreitung der Mindestzahl von regelmäßig mehr als zwanzig im
Unternehmen beschäftigten Arbeitnehmern gemäß § 111 S. 1 BetrVG begründet
werden. Dass die § 111 ff gleichwohl anwendbar sind, kann jedoch nicht mit
hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden. Die Einigungsstelle ist daher
nicht offensichtlich unzuständig.
Die Zurückweisung eines Bestellungsantrags wegen offensichtlicher Unzuständig
setzt voraus, dass die Zuständigkeit der Einigungsstelle unter keinem denkbaren
rechtlichen Gesichtspunkt als möglich erscheint, dass ihre Zuständigkeit also bei
sachgerechter Beurteilung auf den ersten Blick unter keinem rechtlichen
Gesichtspunkt begründet ist. Das ist nicht der Fall, wenn in Rechtsprechung und
Literatur Kontroversen über die für die Zuständigkeit der Einigungsstelle
maßgeblichen Rechtsfragen bestehen. Das Bestellungsverfahren dient nicht der
Klärung komplizierter Rechtsfragen. Dies obliegt vielmehr der Einigungsstelle und
gegebenenfalls den Arbeitsgerichten in einem Beschlussverfahren über die
Rechtsmäßigkeit eines Spruchs der Einigungsstelle. Diese ist nur dann nicht zu
bestellen, wenn an ihrer Unzuständigkeit keine ernsthaften rechtlichen Zweifel
möglich sind (ständige Rechtsprechung, etwa Hess. LAG 01. August 2006 – 4 TaBV
111/06 – NZA-RR 2007/199, zu II 2 a; 08. Mai 2007 – 4 TaBV 70/07 – NZA-RR
2007/637, zu II 2 a). Hier bestehen unter zwei Gesichtspunkten Zweifel an der
fehlenden Zuständigkeit der Einigungsstelle.
a) Die Ansicht des Betriebsrats, die Kleinunternehmensklausel von § 111 S. 1
BetrVG müsse bei konzernangehörigen Kleinunternehmen verfassungskonform
ausgelegt und auf die Beschäftigten des gesamten Konzerns bezogen werden, ist
ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Sie kann nicht offensichtlich verneint werden.
Soweit ersichtlich, wird die Ansicht des Betriebsrats in der Literatur von Däubler (in
Däubler/Kittner/Klebe BetrVG 11. Aufl. § 111 Rn. 24 b) und Fischer (AiB 2001/565,
568) geteilt und im Übrigen abgelehnt (so etwa Löwisch BB 2001/1790, 1796;
Annuß in Richardi BetrVG 11. Aufl. § 111 Rn. 23; GK-BetrVG-Oetker 8. Aufl. § 111
Rn. 10; Hess in Hess/Schlochauer/Worzalla/ Glock/Nicolai BetrVG 7. Aufl. § 111 Rn.
35; Rieble in Dornbusch/Fischermei- er/Löwisch Fachanwaltskommentar
Arbeitsrecht § 111 BetrVG Rn. 3). Einschlägige Rechtsprechung existiert soweit
ersichtlich bisher nicht.
Zweck der Regelung von § 111 S. 1 BetrVG ist nach der Gesetzbegründung allein
der Schutz kleinerer Unternehmen vor wirtschaftlichen Belastungen durch
Sozialpläne. Die Begründung lautet (BT-Dr. 14/5741 S. 51):
„Auf diese Weise wird sichergestellt, dass der Schutzzweck der Norm, kleinere
Unternehmen vor zu starker finanzieller Belastung durch Sozialpläne zu schützen,
auch tatsächlich nur diesen Unternehmen zugute kommt. Allein entscheidend ist
die Gesamtzahl der Arbeitnehmer des Unternehmens, unabhängig davon, ob die
Arbeitnehmer in einer oder mehreren Betriebeinheiten eingesetzt werden.“
Diese Zwecksetzung entspricht der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu
der begrifflich auf den Betrieb abstellenden Vorgängerregelung, die nach dieser
Rechtsprechung ebenfalls unternehmensbezogen auszulegen war (BAG 08. Juni
1999 – 1 AZR 831/98 – BAGE 92/11, zu II 2, 3). Wie die Vorgängerregelung bedarf
auch die mit der aktuellen Fassung der Norm verbundene Differenzierung
(nunmehr zwischen Arbeitnehmer in Kleinunternehmen und in größeren
Unternehmen) eines sachlichen Grundes, andernfalls verstieße sie gegen den
allgemeinen Gleichheitssatz von Art. 3 Abs. 1 GG (zu der entsprechenden
Problematik der Vorgängerregelung BAG 08. Juni 1999 a. a. O., zu II 2 c). An der
vom Gesetzgeber zum Anlass für die Differenzierung genommenen typischerweise
geringeren wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit von Kleinunternehmen fehlt es
regelmäßig dann, wenn diese zwar juristisch, nicht aber wirtschaftlich selbstständig
sind. Dies ist bei Konzernunternehmen jedenfalls dann der Fall, wenn sie einem
herrschenden Unternehmen untergeordnet und durch einen
Gewinnabführungsvertrag gebunden sind. Nicht wesentlich anders ist die
Interessenlage, wenn ein Konzernunternehmen wie die Arbeitgeberin zwar nicht
aufgrund eines Gewinnabführungsvertrages wirtschaftlich gebunden ist, wenn
jedoch die für die Unternehmensstrategie wesentlichen wirtschaftlichen
Entscheidungen nicht im Unternehmen, sondern von übergeordneten
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Entscheidungen nicht im Unternehmen, sondern von übergeordneten
Konzernunternehmen getroffen werden. In solchen Fällen könnte ein hinreichender
Differenzierungsgrund fehlen und daher eine verfassungskonforme Auslegung
dahingehend geboten sein, dass in solchen Fällen die Unterschreitung des
Schwellenwertes im Unternehmen unbeachtlich ist.
Ob eine derartige Auslegung trotz der sich aus der Gesetzesbegründung
ergebenden Absicht des Gesetzgebers, allein auf die Größe des Unternehmens
abzustellen möglich ist, ist ebenfalls eine nicht einfach zu beantwortende
Rechtsfrage. Immerhin lässt die Gesetzesbegründung nicht erkennen, dass sich
der Gesetzgeber bei der Neuregelung der Problematik konzernangehöriger
Kleinunternehmen bewusst war und diese regeln wollte. Daher könnte durchaus
wie bei der Vorgängerregelung (hierzu BAG 08. Juni 1999 a. a. O., zu II 3 b) Raum
für eine verfassungskonforme Auslegung bestehen. Dies sind jedoch Rechtsfragen,
die nicht in einem Verfahren nach § 98 ArbGG zu beantworten sind.
b) Nicht offensichtlich ist zudem, ob für die Beurteilung der Unternehmensgröße
tatsächlich der Zeitpunkt des Gesellschafterbeschlusses vom 27.02.2008 und
nicht ein früherer Zeitpunkt maßgeblich ist, zu dem die Arbeitgeberin in der Regel
noch mehr als zwanzig Arbeitnehmer beschäftigte. Für die Beurteilung maßgeblich
ist der Zeitpunkt, zu dem das Beteiligungsrecht entstehen würde. Dies ist im Fall
einer Betriebs(teil)stilllegung der Stilllegungsbeschluss (BAG 09. Mai 1995 – 1 ABR
51/94 – AP BetrVG 1972 § 111 Nr. 33, B II 1; 10. Dezember 1996 – 1 ABR 43/96 –
AP BetrVG 1972 § 111 Nr. 37, zu B II 1). Ein mitbestimmungspflichtiger
Personalabbau im Sinne von § 111 S. 3 Nr. 1 BetrVG kann auch stufenweise über
einen längeren Zeitraum durchgeführt werden. Voraussetzung dafür ist, dass die
einzelnen Teilschritte auf einer einheitlichen unternehmerischen Planung des
Arbeitgebers beruhen. Anknüpfungspunkt ist die unternehmerische Entscheidung,
aus der sich ergibt, wie viele Arbeitnehmer voraussichtlich von der Maßnahme
nachteilig betroffen werden (BAG 28. März 2006 – 1 ABR 5/05 – AP BetrVG 1972, §
112 Nr. 12, zu B II 1 a aa, bb, m. w. N.).
Hier ist nicht offensichtlich auszuschließen, dass die Behauptung des Betriebsrats
zutrifft, dass den betriebsbedingten Kündigungen aus dem März 2007 und den
geplanten Kündigungen ein einheitliches unternehmerisches Konzept zugrunde
liegt. Die konträren Sachdarstellungen beider Beteiligter sind jeweils plausibel.
Angesichts des Umstands, dass in die Produktion der Arbeitgeberin bereits seit
Jahren nicht mehr investiert wurde, ist es durchaus möglich, dass eine sukzessive
Einstellung der Produktion bereits längerfristig und damit zu einem Zeitpunkt
geplant wurde, zu dem die Arbeitgeberin noch regelmäßig mehr als zwanzig
Arbeitnehmer beschäftigte. Andererseits ist gleichermaßen denkbar, dass die
Entscheidung über die Einstellung der gesamten Produktion bewusst
zurückgestellt wurde und dass der Gesellschafterbeschluss vom 27. Februar 2008
eine Reaktion auf kurzfristige Entwicklungen war.
Die Prüfung, welche dieser Darstellungen richtig ist, bedarf eingehender
Tatsachenfeststellungen. Da diese Frage daher nicht offensichtlich ist, ist sie
ebenfalls im Bestellungsverfahren nach § 98 BetrVG nicht aufzuklären. Mit ihrer
gegenteiligen Ansicht verweist die Arbeitgeberin allerdings zutreffend darauf, dass
in Rechtsprechung und Literatur zum Teil die Ansicht vertreten wird, der
Offensichtlichkeitsmaßstab von § 98 Abs. 1 S. 2 ArbGG beziehe sich nur auf die
Prüfung von Rechtsfragen. Der maßgebliche Sachverhalt sei dagegen
erforderlichenfalls auch durch Beweisaufnahme nach dem allgemeinen für
Beschlussverfahren geltenden Maßstab von § 83 Abs. 1 ArbGG aufzuklären (LAG
München 31. Januar 1985 – 9 TaBV 27/84 – LAGE ArbGG 1979 § 98 Nr. 5, zu 1; LAG
Düsseldorf 10. Dezember 1997 – 12 TaBV 61/97 – LAGE ArbGG 1979 § 98 Nr. 31,
zu II 2 a; LAG Niedersachsen 08. Juni 2007 – 1 TaBV 27/07 – LAGE ArbGG 1979 §
98 Nr. 49, zu II 2 b; Germelmann in Germelmann/Matthes/Prütting/Müller-Glöge
ArbGG 6. Aufl. § 98 Rn. 19; Walker in Schwab/Weth ArbGG 2. Aufl. § 98 Rn. 24;
Friedrich in Bader/Creutzfeldt/Fried- rich ArbGG 4. Aufl. § 98 Rn. 4; GK-BetrVG-
Kreutz a. a. O. § 78 Rn. 68; ErfK-Eisemann 8. Aufl. § 98 ArbGG Rn. 4). Gemäß einer
vermittelnden Ansicht soll eine Beweisaufnahme nur geboten sein, wenn ein
eindeutiges, jeden Zweifel ausschließendes Ergebnis zu erwarten ist. Dies sei bei
der Erhebung von Zeugenbeweis in der Regel nicht der Fall (LAG München 14.
März 1989 – 2 TaBV 53/88 – LAGE ArbGG 1979 § 98 Nr. 18; Berg in
Däubler/Kittner/Klebe a. a. O. § 76 Rn. 52).
Nach der ständigen Rechtsprechung der erkennenden Kammer bezieht sich der
Offensichtlichkeitsmaßstab dagegen auch auf die für die Bestellungsentscheidung
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Offensichtlichkeitsmaßstab dagegen auch auf die für die Bestellungsentscheidung
maßgeblichen Tatsachen (etwa Hess. LAG 01. August 2006 a. a. O., zu II 2 a; 08.
Mai 2007 a. a. O., zu II 2 a; im Ergebnis ebenso LAG Hamburg 02. November 1988
– 4 TaBV 6/88 – LAGE ArbGG 1979 § 98 Nr. 16, zu 3, 4 b; LAG Baden-Württemberg
07. August 1995 – 11 TaBV 1/95 – NZA-RR 1996/53, zu 1 b; LAG Berlin 22. Juni
1998 – 9 TaBV 3/98 – LAGE ArbGG 1979 § 98 Nr. 32, zu 3 a; LAG Köln 05.
Dezember 2001 – 7 TaBV 71/01 – LAGE ArbGG 1979 § 98 Nr. 38, zu II 3 b, c; LAG
Nürnberg 05. April 2005 – 7 TaBV 7/05 – LAGE ArbGG 1979 § 98 Nr. 44, zu II A 2 b
aa; HK-ArbR-Henssen § 98 ArbGG Rn. 7; GK-ArbGG-Dörner Stand März 2008 § 98
Rn. 21; Woitaschek in Gross/Thon/Ahmad/Woitaschek BetrVG § 76 Rn. 21).
Jedenfalls nach der Ausgestaltung des Verfahrens nach § 98 ArbGG durch das Job-
AQTIV-Gesetz vom 10. Dezember 2001 (BGBl. I/3443) ist kein Raum für die
Durchführung einer Beweisaufnahme. Zwar verweist § 98 Abs. 1 S. 3 ArbGG auf die
§§ 80 bis 84 ArbGG und damit auch auf § 83 Abs. 1 ArbGG. Nach § 98 Abs. 1 S. 4
ArbGG betragen die Einlassungs- und Ladungsfristen jedoch nur 48 Stunden.
Gemäß § 98 Abs. 1 S. 6 ArbGG soll der die erste Instanz abschließende Beschluss
den Beteiligten innerhalb von zwei Wochen nach der Einreichung des Antrags
zugestellt werden; nach dieser Norm muss dies sogar zwingend binnen vier
Wochen geschehen. Diese im deutschen Zivilprozessrecht singulären, äußerst
rigiden Fristen erlauben kaum eine sachgerechte Vorbereitung einer
Beweisaufnahme und jedenfalls nicht deren ordnungsgemäße Durchführung. Eine
Beweisaufnahme setzt eingehenden Tatsachenvortrag der Beteiligten, eine
Schlüssigkeits- und Erheblichkeitsprüfung durch den Vorsitzenden, den Erlass
eines Beweisbeschlusses, die Durchführung der Beweisaufnahme (also etwa die
Ladung und Vernehmung von Zeugen oder die Einholung eines
Sachverständigengutachtens) und die Erörterung des Ergebnisses der
Beweisaufnahme mit den Beteiligten voraus. Dies ist innerhalb der vorgegebenen
Fristen regelmäßig nicht durchzuführen. Es käme allenfalls eine Glaubhaftmachung
wie im einstweiligen Verfügungsverfahren in Betracht. Dies ist jedoch in § 98
ArbGG nicht vorgesehen.
Mit der Ausgestaltung von § 98 ArbGG hat der Gesetzgeber der besonderen
Beschleunigung des Bestellungsverfahrens eindeutig Priorität vor der materiellen
Richtigkeit der Entscheidung eingeräumt. Diesem Zweck ist dadurch Rechnung zu
tragen, dass der Verweis von § 98 Abs. 1 S. 3 ArbGG eingeschränkt auszulegen
und die Tatsachenfeststellung im Ergebnis auf eine Schlüssigkeitsprüfung des
unstreitigen Vortrags der Beteiligten und der streitigen Tatsachenbehauptungen
des Antragstellers beschränkt ist. Weitere Tatsachenfeststellungen sind der
Einigungsstelle beziehungsweise späteren Beschlussverfahren vorbehalten.
Gestützt werden kann diese einschränkende Auslegung auf die Überlegung, dass
Tatsachen, die erst durch Beweiserhebung ermittelt werden müssten, nicht
offensichtlich im Sinne von § 98 Abs. 1 S. 2 ArbGG sind und deshalb nicht zum
Prüfungsgegenstand in diesem Verfahren gehören.
Etwas anderes gilt lediglich für Urkunden, deren Echtheit unstreitig ist. Dies folgt
allerdings nicht daraus, dass insoweit eine Beweisaufnahme nach den
Grundsätzen der §§ 415 ff ZPO durchzuführen wäre, sondern aus dem Umstand,
dass in ihrer Echtheit unstreitige Urkunden Teil des unstreitigen Vortrags der
Beteiligten sind und damit ebenfalls der Schlüssigkeitsprüfung zugrunde gelegt
werden müssen.
Diese Grundsätze gelten auch für das Beschwerdeverfahren. Hier bestehen zwar
keine § 98 Abs. 1 S. 6 ArbGG entsprechende Fristen. Bereits die Reduzierung der
Fristen für die Einlegung und die Begründung der Beschwerde auf zwei Wochen
nach Zustellung des erstinstanzlichen Beschlusses belegt jedoch, dass der
Gesetzgeber das Beschwerdeverfahren ähnlich beschleunigt gestalten wollte wie
das erstinstanzliche Verfahren. Es wäre auch unsinnig, wenn ein in der ersten
Instanz eingetretener Zeitgewinn in zweiter Instanz durch die Notwendigkeit der
Durchführung einer Beweisaufnahme wieder aufs Spiel gesetzt werden würde.
c) Da daher weder offensichtlich verneint werden kann, dass die Entscheidung vom
27. Februar 2008 aufgrund einer verfassungskonformen Auslegung von § 111 S. 1
BetrVG ein Beteiligungsrecht auslösen kann, noch dass der tatsächlich
maßgebliche Zeitpunkt der März 2007 ist, ist die Einigungsstelle zu bestellen. Dass
unter beiden Prämissen ein Beteiligungsrecht gemäß § 111 S. 3 Nr. 1 BetrVG in
Verbindung mit § 17 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 KSchG besteht, ist zwischen den Beteiligten
zu Recht unstreitig. Zudem dürfte dann auch § 111 S. 3 Nr. 4 BetrVG einschlägig
sein.
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2. Fehler bei der Auswahl des Vorsitzenden und bei der Bestimmung der Zahl der
Beisitzer sind weder gerügt noch ersichtlich.
Rechtsmittelbelehrung: Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 98 Abs. 2 S. 4 ArbGG.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.