Urteil des LAG Hessen vom 17.05.2010

LAG Frankfurt: reaktive depression, ordentliche kündigung, stationäre behandlung, wichtiger grund, arbeitsgericht, unmöglichkeit, therapie, betriebsrat, arbeitsbedingungen, klinik

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Gericht:
Hessisches
Landesarbeitsgericht
16. Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
16 Sa 1430/08
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 626 Abs 1 BGB, § 275 BGB
(Krankheitsbedingte außerordentliche Kündigung mit
sozialer Auslauffrist, ordentliche Unkündbarkeit,
Unmöglichkeit der Weiterbeschäftigung)
Orientierungssatz
1. Bereits an eine ordentliche Kündigung wegen einer Erkrankung ist ein strenger
Maßstab anzulegen, sodass bei einem ordenltich unkündbaren Arbeitnehmer nur in eng
begrenzten Ausnahmefällen dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses
i.S.v. § 626 BGB unzumutbar sein kann.
Der Arbeitnehmer befand sich zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung in
stationärer Behandlung. Erst nach deren Ende konnte eine Prognose hinsichtlich
weiterer Fehlzeiten des Klägers gestellt werden.
2. Die vom Arbeitgeber behauptete Unmöglichkeit steht dem
Weiterbeschäftigungsanspruch des Klägers nicht entgegen. Zwar hat die Arbeitgeberin
die Aufgaben des Klägers einem Drittunternehmen übertragen. Hierdurch trat jedoch
keine Unmöglichkeit ein, denn die arbeitsvertragliche Position des Klägers ist bei der
Beklagten nach wie vor vorhanden.
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Offenbach vom
10. Juli 2009 – 6 Ca 1430/08 – geringfügig im zweiten Absatz des Tenors wie folgt
geändert:
Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss dieses
Kündigungsschutzverfahrens, längstens bis 31. März 2011, zu unveränderten
Arbeitsbedingungen als leitenden Arzt des Instituts für Laboratoriumsdiagnostik
der Beklagten weiter zu beschäftigen.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die Kosten der Berufung zu tragen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten in der Berufungsinstanz noch über die Wirksamkeit einer
außerordentlichen, krankheitsbedingten Kündigung sowie über die Verpflichtung
zur Weiterbeschäftigung bis zum rechtskräftigen Abschluss des
Kündigungsschutzverfahrens.
Die Beklagte betreibt ein Krankenhaus. Bei ihr ist ein Betriebsrat gebildet. Der am
XX.XX.19XX geborene, mit einem GdB von zunächst 40 mit Wirkung seit 26.
Februar 2009 (Bescheid vom 16. April 2009) von 60 schwer behinderte Kläger war
bei ihr bzw. ihrer Rechtsvorgängerin seit 1. September 1992 als leitender Arzt des
Instituts für Laboratoriumsdiagnostik zu einer Bruttomonatsvergütung von
6.000,00 EUR beschäftigt. Nach § 23 Abs. 3 des Anstellungsvertrages kann das
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6.000,00 EUR beschäftigt. Nach § 23 Abs. 3 des Anstellungsvertrages kann das
Beschäftigungsverhältnis nur aus wichtigem Grund gekündigt werden.
Im Kalenderjahr 2006 fehlte der Kläger an 28 Arbeitstagen krankheitsbedingt. Vom
29. Januar 2007 bis 11. Februar 2008 war er durchgehend arbeitsunfähig erkrankt.
Sodann fehlte er jeweils am 28. April 2008, 6. Mai 2008, 11., 12., 17., 18, 19. und
20. Juni 2008, am 16., 17., 20. Juli 2008 sowie am 21. August 2008
krankheitsbedingt. Hieran schloss sich einer Arbeitsunfähigkeit in der Zeit vom 4.
September bis 13. Oktober 2008 an. Auch am 20. Oktober 2008 fehlte der Kläger
krankheitsbedingt. Seit 3. November 2008 ist er durchgängig arbeitsunfähig krank.
Im Kalenderjahr 2007 entstanden der Beklagten Entgeltfortzahlungskosten für den
Kläger in Höhe von 29.537,11 EUR und im Jahr 2008 von 18.533,37 EUR.
Mit Schreiben vom 4., 10. und 11. November 2008 lud die Beklagte den Kläger zu
einem betrieblichen Eingliederungsmanagement ein. Unter Bezugnahme auf seine
Erkrankung teilte der Kläger mit Schreiben vom 12. November 2008 (Blatt 44 der
Akten) mit, dass er an dem vorgeschlagenen Termin nicht teilnehmen kann.
Ursache der Fehlzeiten in den Jahren 2007 bis 2008 war eine reaktive Depression.
Nach zunächst erfolgloser ambulanter Behandlung begab sich der Kläger in der
Zeit vom 26. Februar 2009 bis 29. April 2009 in eine Spezialklinik am Chiemsee.
Mit Schreiben vom 26. März 2009 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis
außerordentlich mit sozialer Auslauffrist zum 30. September 2009.
Hiergegen hat der Kläger Kündigungsschutzklage erhoben. Er hat die Auffassung
vertreten, ein wichtiger Grund für die Kündigung liege nicht vor. Der Kläger
behauptet, er sei als arbeitsfähig aus der stationären Therapie entlassen worden
und habe am 4. Mai 2009 der Beklagten seine Arbeitskraft angeboten. Deshalb
liege eine negative Prognose nicht vor. Die reaktive Depression sei auf die
Bedingungen an seinem Arbeitsplatz zurückzuführen. Ferner sei der Betriebsrat
nicht ausreichend über die Kündigungsgründe unterrichtet worden.
Wegen des weiteren unstreitigen Sachverhalts, des Vortrags der Parteien im
ersten Rechtszug und der dort gestellten Anträge wird auf den Tatbestand des
Urteils des Arbeitsgerichts Offenbach am Main vom 10. Juli 2009 (Blatt 81 bis 83
der Akten) gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG Bezug genommen.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Die Wirksamkeit der
außerordentlichen krankheitsbedingten Kündigung scheitere am Vorliegen einer
Negativprognose. Zu diesem Zeitpunkt habe sich der Kläger zur Behandlung in
einer Spezialklinik befunden, was der Beklagten bekannt war. Im Gegensatz zur
zuvor erfolglos durchgeführten ambulanten Therapie habe der Kläger nunmehr
eine stationäre Behandlung gewählt. Zum Zeitpunkt des Ausspruchs der
Kündigung vom 26. März 2009 hätten keine Anhaltspunkte dafür bestanden, dass
die vom Kläger gewählte Behandlungsmethode keinen Erfolg haben könnte. Es sei
der Beklagten zuzumuten gewesen, den Abschluss der stationären Behandlung
abzuwarten. Sei damit die Kündigung unwirksam, stehe dem Kläger auch ein
Anspruch auf Weiterbeschäftigung zu.
Gegen dieses Urteil, das der Beklagten am 27. Juli 2009 zugestellt wurde, hat sie
mit einem am 18. August 2009 eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und
diese nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis 27. Oktober 2009 am
19. Oktober 2009 begründet.
Das Arbeitsgericht habe der Kündigungsschutzklage zu Unrecht stattgegeben. Der
Beklagten sei bis zum Kammertermin im Mai 2009 nicht bekannt gewesen, an
welcher Erkrankung der Kläger litt. Ihr sei lediglich bekannt gewesen, dass sich der
Kläger nach eigenen Angaben in einer Klinik aufhielt. Am 3. März 2009 sei bei ihr
eine Bescheinigung der Klinik eingegangen, nach der sich der Kläger seit 26.
Februar 2009 dort bis auf weiteres in stationärer Behandlung befinde (Blatt 194
der Akten). Der Vortrag des Klägers, die reaktive Depression sei auf die
Arbeitsbedingungen zurückzuführen werde bestritten. Der Kläger genieße nicht
den besonderen Kündigungsschutz eines Schwerbehinderten, da die Beklagte
erstmals im Kammertermin vom 2. Juni 2009 hiervon Kenntnis erlangt habe. Der
Betriebsrat sei zur Kündigung ordnungsgemäß angehört worden (Blatt 287 bis 289
der Akten). Der Weiterbeschäftigungsanspruch sei auch deshalb unbegründet, weil
sich die Beklagte am 9. Juni 2009 entschlossen habe, die Stelle des Klägers zu
streichen und deshalb mit Schreiben vom 25. November 2009 nach Anhörung des
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streichen und deshalb mit Schreiben vom 25. November 2009 nach Anhörung des
Betriebsrats und Zustimmung des Integrationsamts außerordentlich mit sozialer
Auslauffrist zum 31. März 2011 kündigte (Blatt 230 der Akten). Die
Laborleistungen würden durch eine Kooperation mit der A GmbH gewährleistet.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Offenbach am Main -6 Ca 1430/08- abzuändern und
die Klage abzuweisen soweit das Arbeitsgericht festgestellt hat, dass das
Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die Kündigung vom 26. März 2009
nicht aufgelöst worden ist und die Beklagte verurteilt wurde, den Kläger ab 1. Juli
2009 zu unveränderten Arbeitsbedingungen als leitenden Arzt des Instituts für
Laboratoriumsdiagnostik weiterzubeschäftigen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger verteidigt die Entscheidung des Arbeitsgerichts als zutreffend. Das
Arbeitsgericht habe richtig erkannt, dass zum Zeitpunkt des Zugangs der
Kündigung keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich waren, dass die vom Kläger
gewählte Behandlungsmethode keinen Erfolg haben könnte.
Wegen der weiteren Einzelheiten des beiderseitigen Parteivorbringens wird auf die
gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Sitzungsprotokolle Bezug
genommen.
Entscheidungsgründe
I.
Die Berufung ist statthaft, § 8 Abs. 2 ArbGG, §§ 511 Abs. 1 ZPO, 64 Abs. 2b
Arbeitsgerichtsgesetz. Sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet
worden, § 66 Abs. 1 ArbGG, § 519, § 520 ZPO und damit insgesamt zulässig.
II.
Die Berufung ist nicht begründet.
1. Das Arbeitsgericht hat zutreffend erkannt, dass die außerordentliche Kündigung
vom 26. März 2009 das Arbeitsverhältnis nicht zum 30. September 2009 aufgelöst
hat. Eine außerordentliche Kündigung gemäß § 626 BGB wegen
krankheitsbedingter Fehlzeiten kommt in der Regel nur dann in Betracht, wenn
eine ordentliche Kündigung tariflich oder vertraglich ausgeschlossen ist, wobei
grundsätzlich eine der ordentlichen Kündigungsfrist entsprechende Auslauffrist
einzuhalten ist (Bundesarbeitsgericht 18. Oktober 2000 - 2 AZR 627/99 - BAGE
96,65). An eine Kündigung wegen Erkrankung eines Arbeitnehmers ist allerdings
schon bei einer ordentlichen Kündigung ein strenger Maßstab anzulegen, so dass
nur in eng begrenzten Ausnahmefällen die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses
mit dem kranken Arbeitnehmer für den Arbeitgeber im Sinne des § 626 Abs. 1
BGB unzumutbar sein kann (Bundesarbeitsgericht 12. Januar 2006 -2 AZR 242/05 -
AP Nr. 13 zu § 626 BGB-Krankheit, Rn. 25). Erforderlich ist das Vorliegen einer
negativen Gesundheitsprognose. Zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung
müssen objektive Tatsachen vorliegen, die die ernste Besorgnis weiterer
Erkrankungen im bisherigen Umfang rechtfertigen. Krankheitsbedingte Fehlzeiten
in der Vergangenheit können die Gefahr künftiger Erkrankungen indizieren, wenn
dem nicht die objektiven Verhältnisse bei Zugang der Kündigung entgegenstehen
(Bundesarbeitsgericht 10. November 2005 - 2 AZR 44/05 - NZA 2006,655,
Randnummer 23).
Wie das Arbeitsgericht zutreffend erkannt hat, liegt eine negative
Gesundheitsprognose nicht vor. Zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung
befand sich der Kläger in einer stationären Behandlung. Dies war der Beklagten
auch bekannt. Erst nach dem Ende der stationären Behandlung konnte eine
Prognose hinsichtlich weiterer Fehlzeiten des Klägers gestellt werden. Zum
Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung lagen daher keine objektiven Tatsachen
vor, die die ernste Besorgnis weiterer Erkrankungen im bisherigen Umfang
rechtfertigten.
Auch wenn sich aus der Bescheinigung der Klinik nicht ergab, wie lange der
Klinikaufenthalt andauern würde, war es der Beklagten insbesondere im Hinblick
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Klinikaufenthalt andauern würde, war es der Beklagten insbesondere im Hinblick
auf den langjährigen Bestand des Arbeitsverhältnisses zuzumuten, sich zu
erkundigen, wie lange die stationäre Therapie noch fortdauern wird und
abzuwarten, ob die Behandlung Erfolg zeigt. Daraus, dass es in der Bescheinigung
heißt „Voraussichtliche Behandlungsdauer: Bis auf weiteres“ folgt entgegen der
Ansicht der Beklagten nicht, dass die Therapie des Klägers auf unabsehbare Zeit
mit ungewissem Ausgang fortdauern würde. Vielmehr wird lediglich das
Entlassungsdatum, weil noch nicht feststehend, nicht angegeben.
2. Der Weiterbeschäftigungsantrag des Klägers ist - allerdings nur bis zum
rechtskräftigen Abschluss dieses Kündigungsschutzverfahrens, längstens bis zum
31. März 2011 - begründet. Aus § 611, § 613 BGB in Verbindung mit § 242 BGB,
der durch die Wertentscheidungen der Artikel 1 und 2 Grundgesetz ausgefüllt wird,
folgt dass der Arbeitgeber grundsätzlich verpflichtet ist, seinen Arbeitnehmer
vertragsgemäß zu beschäftigen, wenn dieser es verlangt (Bundesarbeitsgericht
20. Februar 1985-GS 1/84, NZA 1985, 702) . Aufgrund des Obsiegens des Klägers
in dem Kündigungsschutzverfahren überwiegt sein Beschäftigungsinteresse das
der Beklagten an einer Nichtbeschäftigung des Klägers. Dem steht die von der
Beklagten behauptete Unmöglichkeit nicht entgegen. Es liegt weder ein Fall der
objektiven, der subjektiven noch der wirtschaftlichen Unmöglichkeit vor (§ 275 Abs.
1 und 2 BGB). Die Beschäftigung ist nicht objektiv unmöglich geworden, denn die
arbeitsvertragliche Position des Klägers ist bei der Beklagten nach wie vor
vorhanden. Die Beklagte hat die Ausführung der Aufgaben lediglich einem
Drittunternehmen übertragen. Im Hinblick auf die mit Schreiben vom 25.
November 2009 ausgesprochene außerordentliche Kündigung mit sozialer
Auslauffrist zum 31. März 2011 (Blatt 230 der Akten) überwiegt ab diesem
Zeitpunkt (Ende der Auslauffrist) wiederum das Interesse der Beklagten an der
Nichtbeschäftigung.
III.
Gemäß § 97 Abs. 1 ZPO hat die Beklagte die Kosten ihres erfolglosen
Rechtsmittels zu tragen. Soweit die Entscheidung des Arbeitsgerichts hinsichtlich
des Weiterbeschäftigungsantrags geändert wurde („bis zum rechtskräftigen
Abschluss dieses Kündigungsschutzverfahrens, längstens bis 31. März 2011“),
handelt es sich um eine verhältnismäßig geringfügige Zuvielforderung, die keine
Kosten veranlasst hat, § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.