Urteil des LAG Hessen vom 17.04.2007

LAG Frankfurt: betriebsrat, erfüllung, mandat, klinik, unterrichtung, arbeitsgericht, niedersachsen, absicht, beratung, konzept

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Gericht:
Hessisches
Landesarbeitsgericht
4. Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
4 TaBV 59/07
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 111 BetrVG, § 112 BetrVG,
§ 98 Abs 1 S 2 ArbGG, § 76
BetrVG, § 74 BetrVG
(Bestellung einer Einigungsstelle - Erfüllung
innerbetrieblicher Verhandlungs- und Beratungspflichten)
Leitsatz
Zur Erfüllung der innerbetrieblichen Verhandlungs- und Beratungspflichten genügt es,
wenn der Betriebspartner, der die Bildung einer Einigungsstelle anstrebt, einen
ernsthaften Verhandlungsversuch unternommen hat. Ein Dissens über den Umfang
und die ausreichende Erfüllung der Unterrichtungsansprüche des Betriebsrats steht der
Bestellung einer Einigungsstelle über die Beratung eines Interessenausgleichs dann
nicht entgegen.
Tenor
Die Beschwerde des Beteiligten zu 2) gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts
Darmstadt vom 21. Februar 2007 – 1 BV 4/07 – wird zurückgewiesen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten über die Bestellung einer Einigungsstelle.
Die antragstellende Arbeitgeberin betreibt eine Rehaklinik. Sie gehört zu dem
mehrere Krankenhausgesellschaften umfassenden ...-Konzern und beschäftigt in
ihrer Klinik 61 Arbeitnehmer auf 47,54 Vollzeitstellen. Die Arbeitnehmern werden
von dem zu 2) beteiligten Betriebsrat repräsentiert. Die Bettenkapazität der Klinik
beträgt derzeit 195 Betten, von denen bisher durchschnittlich 100 bis 120 belegt
waren. Vor einigen Jahren wurden die Dienstleistungsfunktionen Reinigung, Küche
und technische Betreuung auf drei von der Arbeitgeberin abgespaltene
Konzerngesellschaften (sog. „Pro-Gesellschaften“) übertragen, die auf der
Grundlage von Dienstleistungsverträgen mit der Arbeitgeberin tätig waren. Deren
gut zwanzig Arbeitnehmer waren an der letzten Betriebsratswahl nicht beteiligt.
Nachdem in den beiden vorangegangenen Geschäftsjahren der Betrieb
hochdefizitär war und in dem vom 01. Juli 2006 bis 30. Juni 2007 laufenden
Geschäftsjahr 2006/2007 bis 30. November 2006 bereits ein Defizit von € 0,5 Mio.
entstanden war, so dass ein Gesamtverlust im Geschäftsjahr von € 1,5 Mio.
prognostiziert wurde, entschloss sich die Arbeitgeberin, den Betrieb zum 31.
Januar 2007 stillzulegen. Der Betriebsrat wurde darüber in einer Sitzung vom 26.
Januar 2007 unterrichtet. Nach der Zustellung einer von der Verpächterin
beantragten einstweiligen Verfügung des Landgerichts Darmstadt vom 25. Januar
2007 - 12 O 32/07 -, durch die die Arbeitgeberin verpflichtet wurde, den
tatsächlichen Betrieb der Klinik über den 31. Januar 2007 hinaus
aufrechtzuerhalten, revidierte die Arbeitgeberin ihre Planungen. Sie unterrichtete
den Betriebsrat in einer Sitzung vom 30. Januar 2007 über ihre Absicht, die Klinik
unter Reduzierung der Durchschnittsbelegung der Betten auf 50 und der
Vollzeitstellen auf 23 weiterzuführen. Der Betriebsrat lehnte das Angebot der
Arbeitgeberin, bereits in dieser Sitzung den Entwurf eines Interessenausgleichs
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Arbeitgeberin, bereits in dieser Sitzung den Entwurf eines Interessenausgleichs
vorzulegen, ab und verlangte eine umfassende schriftliche Unterrichtung über das
Konzept und die diesem zugrundeliegende Prognose. Zum 31. Januar 2007
kündigte die Arbeitgeberin die Dienstleistungsverträge mit den „Pro-
Unternehmen“ fristlos, was von diesen akzeptiert wurde. Der Betriebsrat richtete
mit Schreiben vom 31. Januar 2007 ein umfangreiches Unterrichtungsverlangen an
die Arbeitgeberin. Diese nahm mit einem Schreiben vom 02. Februar 2007 zu den
Fragen Stellung und teilte dem Betriebsrat mit, dass sie nunmehr beabsichtige,
die Anzahl der Vollzeitstellen um 16,69 auf 30,85 zu reduzieren. Die Prognose der
zugrundegelegten Durchschnittsbettenbelegung erläuterte sie nicht. Sie wies
darauf hin, dass durch die Maßnahme die Personalkosten um € 0,6 Mio. und die
Sachkosten um € 1,3 Mio. pro Jahr reduziert würden. Bei einer Auslastung von
durchschnittlich 50 Betten ergebe sich ein negatives Betriebsergebnis von ca. €
1,5 Mio. und ein Jahresfehlbetrag von € 1,7 Mio. Die vom Betriebsrat verlangte
Vorlage des Pachtvertrages lehnte die Arbeitgeberin ab.
Am 05. Februar 2007 verhandelten die Beteiligten zwischen 16.45 Uhr und 21.00
Uhr über die Maßnahme. Der Betriebsrat beschloss in einer Sitzung vom selben
Tag, von der Arbeitgeberin die Vorlage des Pachtvertrages und die Zustimmung
zur Hinzuziehung eines betriebswirtschaftlichen Sachverständigen zu fordern. Am
Folgetag setzten die Beteiligten die Verhandlungen in der Zeit zwischen 9.00 Uhr
und 12.00 Uhr fort. Die Arbeitgeberin lehnte die Finanzierung eines
Sachverständigen ab und gewährte dem Betriebsrat für eine Stunde Einsicht in
den Pachtvertrag. Sie verlangte vom Betriebsrat die Zustimmung zur Bildung
einer Einigungsstelle zur Verhandlung über einen Interessenausgleich, was vom
Betriebsrat mit der Begründung abgelehnt wurde, dass er noch nicht ausreichend
unterrichtet worden sei und die innerbetrieblichen Verhandlungen damit noch nicht
gescheitert seien. Im vorliegenden Verfahren verfolgt die Arbeitgeberin ihr
Anliegen weiter.
Wegen des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes und der dort gestellten
Anträge wird auf den tatbestandlichen Teil des angefochtenen Beschlusses Bezug
genommen. Das Arbeitsgericht hat den Richter am Arbeitsgericht Wiesbaden Zink
zum Vorsitzenden einer Einigungsstelle mit dem Ziel des Versuchs einer Einigung
über einen die Betriebsänderung betreffenden Interessenausgleich bestellt und die
Zahl der Beisitzer auf zwei pro Seite festgesetzt. Wegen der Begründung wird auf
die Ausführungen unter II. des angefochtenen Beschlusses Bezug genommen.
Der Betriebsrat hat gegen den am 26. Februar 2007 zugestellten Beschluss am
12. März 2007 Beschwerde eingelegt und diese gleichzeitig begründet. Er hält an
seiner Auffassung fest, dass er nicht ausreichend unterrichtet worden sei und die
Beteiligten nicht ausreichend innerbetrieblich verhandelt hätten. Über die
Vorstellungen der Arbeitgeberin habe bereits deshalb nicht ernsthaft verhandelt
werden können, weil der Betriebsrat das Konzept der Arbeitgeberin wegen des sich
aus diesem ergebenden höheren Jahresverlustes nicht verstanden habe. Es sei
von Anfang an Absicht der Arbeitgeberin gewesen, den Betriebsrat zu überfahren.
Zudem müssten die Arbeitnehmer der „Pro-Gesellschaften“ in die Unterrichtung
und die Beratung einbezogen werden, da diese Gesellschaften mit der
Arbeitgeberin einen Gemeinschaftsbetrieb bildeten.
Wegen des weiteren zweitinstanzlichen Vortrags des Betriebsrats wird auf die
Schriftsätze vom 12. März sowie vom 11. und 16. April 2007 Bezug genommen.
Der Betriebsrat beantragt,
den Beschluss des Arbeitsgerichts Darmstadt vom 21. Februar 2007 - 1 BV
4/07 - zum Teil abzuändern und die Anträge insgesamt zurückzuweisen.
Die Arbeitgeberin verteidigt zur Begründung ihres Zurückweisungsantrags die
Entscheidung des Arbeitsgerichts wie in den Schriftsätzen vom 30. März und 16.
April 2007 ersichtlich.
II.
Am vorliegenden Verfahren sind auf Arbeitgeberseite nicht auch die „Pro-
Gesellschaften“ neben der Arbeitgeberin zu beteiligen. Insoweit kann dahinstehen,
ob zwischen den Arbeitgeberin und den „Pro-Gesellschaften“ ein
Gemeinschaftsbetrieb besteht oder bis zur fristlosen Kündigung der
Dienstleistungsaufträge bestanden hat. Die Belegschaften der „Pro-
Gesellschaften“ unterliegen jedenfalls deshalb nicht dem Mandat des Betriebsrats,
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Gesellschaften“ unterliegen jedenfalls deshalb nicht dem Mandat des Betriebsrats,
weil sie den Betriebsrat nicht mitgewählt haben. Wurde ein Betriebsrat nur für
einen Teil eines Gemeinschaftsbetriebes gewählt, bleibt dieser bis zum
rechtskräftigen Abschluss eines Wahlanfechtungsverfahrens im Amt. Seine
Zuständigkeit beschränkt sich auf den Betriebsteil, der an der Wahl beteiligt wurde.
Er hat kein Mandat für die Teile des Gemeinschaftsbetriebes, die an der Wahl nicht
teilgenommen haben (BAG 07. Dezember 1988 - 7 ABR 10/88 - BAGE 60/276, B 5;
31. Mai 2000 - 7 ABR 78/98 - AP BetrVG 1972 § 1 Gemeinschaftsbetrieb Nr. 12, zu
B II 1 a). Da sich das Mandat des Betriebsrats daher allein auf die Arbeitnehmer
der Arbeitgeberin bezieht, wären die „Pro-Gesellschaften“ selbst im Fall des
Vorliegens eines Gemeinschaftsbetriebs nichts durch das vorliegende Verfahren in
ihrer betriebsverfassungsrechtlichen Stellung betroffen. Sie sind dementsprechend
nicht an diesen zu beteiligen.
III.
Die Beschwerde des Betriebsrats ist nicht begründet. Das Arbeitsgericht hat die
Einigungsstelle zu Recht bestellt.
Gemäß § 98 Abs. 1 Satz 2 ArbGG kann ein Antrag auf Bestellung einer
Einigungsstelle nach § 76 Abs. 2 Satz 2, 3 BetrVG wegen fehlender Zuständigkeit
der Einigungsstelle nur zurückgewiesen werden, wenn die Einigungsstelle
offensichtlich unzuständig ist. Dies ist der Fall, wenn die Zuständigkeit der
Einigungsstelle unter keinem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt als möglich
erscheint, wenn ihre Zuständigkeit also bei sachgerechter Beurteilung auf den
ersten Blick unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt begründet ist. Das
Bestellungsverfahren soll weder durch die Klärung komplizierter Rechtsfragen noch
durch die Aufklärung streitiger Tatsachen belastet werden; diese Aufgaben sind
ggf. der Einigungsstelle vorbehalten. Für deren Bestellung ist entscheidend, ob an
ihrer Unzuständigkeit ernsthafte rechtliche Zweifel möglich sind oder nicht. Nur in
letzterem Fall ist der Bestellungsantrag zurückzuweisen. Bei Kontroversen in
Rechtsprechung und Literatur über die für die Zuständigkeit maßgeblichen
Rechtsfragen besteht der Zurückweisungsgrund der offensichtlichen
Unzuständigkeit nicht (ständige Rechtsprechung, vgl. nur Hess. LAG 01. August
2006 - 4 TaBV 111/06 - NZA-RR 2007/199, zu II 2 a, m.w.N.).
Dieser Maßstab gilt auch für die Prüfung, ob die Betriebspartner vor der Anrufung
einer Einigungsstelle in hinreichendem Maß ernsthafte innerbetriebliche
Verhandlungen geführt haben. Auch diese Frage ist eine Frage der Zuständigkeit
der Einigungsstelle (Hess. LAG 13. September 2005 - 4 TaBV 86/05 - AuR
2006/173 L, zu II 1, mit näherer Begründung). Nach der ständigen Rechtsprechung
der erkennenden Kammer genügt zur Erfüllung der Verhandlungs- und
Beratungspflichten gemäß §§ 74 Abs. 1 Satz 2, 111 Satz 1 BetrVG, dass die Seite,
die die Bildung der Einigungsstelle anstrebt, zumindest einen ernsthaften
Verhandlungsversuch unternommen hat. Ist dies geschehen, kann zur
Verhinderung von Verzögerungstaktiken und der damit verbundenen Entwertung
des Einigungsstellenverfahrens jede Seite frei entscheiden, ob sie die
Verhandlungen außerhalb der Einigungsstelle für nicht mehr aussichtsreich
erachtet und daher die Bestellung einer Einigungsstelle betreibt (LAG Frankfurt am
Main 12. November 1991 - 4 TaBV 148/91 - LAGE BetrVG 1972 § 76 Nr. 39, zu II 1;
Hess. LAG 22. November 1994 - 4 TaBV 112/94 - LAGE BetrVG 1972 § 76 Nr. 43,
zu II 1; 13. Juni 2003 - 4 TaBV 187/03 - LAGE ArbGG 1979 § 98 Nr. 41, zu II 1 a; 13.
September 2005 a.a.O., zu II 2 a). Dies gilt insbesondere für die häufig
eilbedürftigen Verhandlungen über den Abschluss eines Interessenausgleichs.
Weitere Verhandlungswünsche oder Informationsansprüche des Betriebsrats
stehen der Bildung der Einigungsstelle dann nicht entgegen. Diese können im oder
parallel zum Einigungsstellenverfahren weiterverfolgt werden. Der Seite, die auf die
Durchführung eines Einigungsstellenverfahrens angewiesen ist, kann regelmäßig
nicht zugemutet werden, dass vor der Bildung der Einigungsstelle zunächst häufig
unsichere Fragen über den genauen Umfang von Informationsansprüchen geklärt
werden müssen (LAG Frankfurt am Main 12. November 1991 a.a.O., zu II 1; 13. Juni
2003 a.a.O., zu II 1 a; LAG Niedersachsen 07. Dezember 1998 - 1 TaBV 74/98 -
LAGE ArbGG 1979 § 98 Nr. 35, zu II 1 c aa). Das Beteiligungsrecht gemäß §§ 111,
112 BetrVG ist daher entgegen der Ansicht des Betriebsrats nicht streng in die
drei Phasen Information, innerbetriebliche Verhandlungen und
Einigungsstellenverfahren unterteilt. Das Einigungsstellenverfahren dient im
Gegenteil auch dazu, eine aufgrund von Streitigkeiten über formelle Fragen wie
den Umfang von Informationsansprüchen festgefahrene Zusammenarbeit der
Betriebspartner mit Hilfe eines unparteiischen Vorsitzenden zügig wieder in Gang
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Betriebspartner mit Hilfe eines unparteiischen Vorsitzenden zügig wieder in Gang
zu setzen (LAG Niedersachsen 07. Dezember 1998 a.a.O., zu II 1 c aa; LAG
Rheinland-Pfalz 05. Januar 2006 - 6 TaBV 60/05 - AuR 2006/333 L).
Die Beteiligten haben nach der umfangreichen und die gesetzlichen
Unterrichtungspflichten jedenfalls nicht offensichtlich auf den ersten Blick
verletzenden Unterrichtung des Betriebsrats durch die Arbeitgeberin vom 02.
Februar 2007 jedenfalls am 05. und 06. Februar 2007 über mehrere Stunden
innerbetriebliche Verhandlungen geführt. Diese scheiterten an den kontroversen
Vorstellungen der Beteiligten über den Umfang der Unterrichtungsansprüche des
Betriebsrats und an dessen Forderung nach einem betriebswirtschaftlichen
Sachverständigen. Die Beurteilung, ob diese Ansprüche tatsächlich bestehen, ist
nicht Aufgabe des Verfahrens nach § 98 ArbGG, da diese Fragen nicht
offensichtlich zu beantworten sind, sondern jeweils einer genauen
einzelfallbezogenen Prüfung bedürfen. Sie können auch in den Verhandlungen
innerhalb der Einigungsstelle erörtert werden. Diese kann zudem geeignet sein,
durch die Moderation des Vorsitzenden Rechtsstreitigkeiten über den Umfang
derartiger Ansprüche des Betriebsrats zu vermeiden und die offenbar
aufgetretenen Kommunikations- und Verständnisschwierigkeiten zwischen den
Beteiligten zu beseitigen. Die Verhandlungen der Beteiligten befinden sich
inzwischen in einem Stadium, in dem die Einigungsstelle nicht offensichtlich
unzuständig, sondern regelmäßig zu bestellen ist. Dadurch wird der Betriebsrat
nicht „überfahren“. Vielmehr bietet die Einigungsstelle die Chance zu
aussichtsreicheren Verhandlungen als denen, die die Beteiligten bisher ohne
unparteiischen Vorsitzenden geführt haben.
Schließlich müssen die Arbeitnehmer der „Pro-Gesellschaften“ nicht in die
Unterrichtung des Betriebsrats und in die Verhandlungen einbezogen werden. Wie
dargelegt, fehlt dem Betriebsrat für diese das Mandat.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.