Urteil des LAG Hessen vom 18.03.2005

LAG Frankfurt: wichtiger grund, meinungsfreiheit, betriebsrat, kritik, brief, grundrecht, beleidigung, form, abmahnung, beitrag

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Gericht:
Hessisches
Landesarbeitsgericht
12. Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
12/4 TaBV 127/04
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 5 Abs 1 GG, Art 5 Abs 2
GG, § 103 BetrVG, § 626 Abs
1 BGB, § 15 KSchG
Kündigung eines Betriebsratsmitglieds - Recht auf freie
Meinungsäußerung in einer betriebspolitischen
Auseinandersetzung oder grobe Beleidigung von
Arbeitskollegen
Leitsatz
Nichtersetzung der Zustimmung des Betriebsrats zu einer außerordentlichen
Kündigung eines Betriebsratsmitglieds, das anonym in die Betriebskästen von
Kollegen/innen eine Karikatur eingeworfen hat, die eine Gruppe von Personen -
Vertreter gesellschaftlicher Gruppen und Institutionen - zeigte, deren Gesichter als
Hinterteile verfremdet dargestellt waren und die betitelt war: "wir sind, was volkt". Es
handelte sich um eine Reaktion des Betriebsratsmitglieds gegenüber Unterzeichnern
eines offenen Briefes an den Betriebsrat, in dem es um Kritik an seiner wenig
konstruktiven Haltung bei Verhandlungen mit dem Arbeitgeber über die Herabsetzung
von Sondervergütungen ging.
Tenor
Auf die Beschwerde des Betriebsrats und der Beteiligten zu 3) wird der Beschluss
des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 1. Juli 2004 - Aktenzeichen: 11 BV
315/04 - abgeändert:
Der Antrag der Antragstellerin wird zurückgewiesen.
Die Rechtsbeschwerde wird gegen diesen Beschluss nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die antragstellende Arbeitgeberin (Beteiligte 1) begehrt die Ersetzung der
Zustimmung des Betriebsrats (Beteiligter 2) zur außerordentlichen Kündigung
des Betriebsratsmitglieds A (Beteiligte 3).
Die Beteiligte 1) betreibt auf dem B Flughafen zahlreiche Einzelhandelsgeschäfte,
darunter mehrere Duty-Free-Shops (DFS) und beschäftigt dort etwa 700
Mitarbeiter. Der Beteiligte 2) ist der für den B Betrieb gewählte Betriebsrat. Die
Beteiligte 3) steht seit dem 1.7.1989 in einem Arbeitsverhältnis zur Beteiligten 1),
ist im DFS-Bereich als Verkaufsaufsicht tätig und seit 1994 Mitglied des Beteiligten
2).
Die Beteiligte 1) kündigte mit dem Ziel der Kostenreduzierung mehrere mit dem
Beteiligten 2) geschlossene Betriebsvereinbarungen, die die Zahlung von
Zuschlägen und weiteren Sonderzahlungen an die Mitarbeiter zum Gegenstand
hatten. Die Verhandlungen über den erneuten Abschluss dieser Vereinbarungen
mit geringeren Leistungen an die Mitarbeiter scheiterten an den unterschiedlichen
Ansichten beider Seiten über die Notwendigkeit von Kostenreduzierungen im
Betrieb.
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In dieser Situation verfaßten einige – auf derselben Führungsebene wie die
Beteiligte 3) tätige - Führungskräfte der Beteiligten 1) unter dem 11.4.2004 einen
offenen Brief an den Beteiligten 2), in dem sie das Ergreifen von Sparmaßnahmen
zur Erhaltung des Standorts als notwendig bezeichneten und den Beteiligten 2)
aufforderten, „seine wenig konstruktive Verhandlungshaltung aufzugeben und mit
akzeptablen, kreativen Vorschlägen erneut das Gespräch mit der Betriebs- und
Geschäftsleitung zu suchen„. Für den weiteren Inhalt des offenen Briefes wird auf
Bl. 25 d.A. Bezug genommen.
Bei Dienstantritt am 25.4.2004 fanden elf der Unterzeichner des offenen Briefes in
ihren Hausbriefkästen im Betrieb die anonym eingeworfene Kopie einer Zeichnung
vor, die eine Ansammlung von unterschiedlich gekleideten Personen zeigte, deren
Gesichter sämtlich zu einheitlich geformten Hinterteilen verfremdet waren. Ihre
Kleidung und Kopfbedeckung machte sie im Wesentlichen als Vertreter staatlicher
Institutionen und gesellschaftlicher Gruppen wie Militär, Polizei, Justiz, Politik,
Kirchen und Universitäten, weiter auch als Burschenschaftler, US-amerikanische
Kapitalisten, Neonazis und Revolutionsarmisten erkennbar. In einer Sprechblase in
der Mitte war zu lesen: „Wir sind, was volkt „.
Durch die Aufnahme einer Videokamera, die in diesem Betriebsbereich installiert
ist, bestand seit dem 27.4.2004 der Verdacht, dass es sich bei der anonymen
Verteilerin der Zeichnung um die Beteiligte 3) handelte. Da sie zu der Zeit
arbeitsunfähig und zur Führung eines persönlichen Gesprächs während der
Arbeitsunfähigkeit nicht bereit war, forderte die Beteiligte 1) sie am 5.5.2004
schriftlich auf, zu dem Vorgang Stellung zu nehmen. In ihrer Antwort vom 7.5.2004
räumte sie ein, die Zeichnung während ihrer Nachtschicht verteilt zu haben. Für
den weiteren Inhalt des Schreibens wird auf Bl. 30 d.A.) Bezug genommen. Die
Zeichnung war die Titelzeichnung auf dem Schutzumschlag des Buches „Wir sind,
was volkt (Vom Ur-Sprung in der deutschen Schüssel, ein satirisches
Schizogramm)„ von Martin Buchholz. Die Beteiligte 3) hatte sie von dort kopiert.
Die Beteiligte 1) entschied, wegen dieses Vorgangs das Arbeitsverhältnis mit der
Beteiligten 3) außerordentlich zu kündigen und forderte den Beteiligten 2) mit
Schreiben vom 10.5.2004 (Bl. 32 – 34 d.A.) auf, der beabsichtigten Kündigung
zuzustimmen. Mit Schreiben vom 13.5.2004 (Bl. 35 – 36 d.A.) verweigerte der
Beteiligte 2) die Zustimmung. Am 14.5.2004 reichte die Beteiligte 1) den
Zustimmungsersetzungsantrag beim Arbeitsgericht Frankfurt ein.
Die Beteiligte 1) hat die Ansicht vertreten, die eingeworfene Zeichnung habe
beleidigenden und herabwürdigenden Charakter. Die Entfremdung der Gesichter
als „Arschgesichter„ solle den Eindruck vermitteln, dass die abgebildeten
Personen vollkommen kritiklos und blind einer bestimmten Meinung folgten. Die
Form der Darstellung spreche ihnen jede vernünftige und achtenswerte
Geisteshaltung ab. Die Verwendung auch nationalsozialistischer Symbole
verstärke diese Aussage dahin gehend, dass ihre Geisteshaltung nicht nur dumpf
und kritiklos, sondern sogar menschenverachtend und verbrecherisch sei. Mit der
Übergabe der Zeichnung an die Mitarbeiter habe die Beteiligte 3) ausgedrückt,
dass sie ihnen ebenfalls die in der Zeichnung angeprangerte Geisteshaltung
unterstelle und ihre Unterzeichnung des offenen Briefes Ausdruck derselben sei.
Dieses grob beleidigende Verhalten der Beteiligten 3) habe den Betriebsfrieden
zutiefst gestört und mache jede weitere Zusammenarbeit mit ihr unzumutbar.
Die Beteiligte 1) hat beantragt,
die Zustimmung des Beteiligten 2) zur außerordentlichen Kündigung
der Beteiligten 3) zu ersetzen.
Die Beteiligten 2) und 3) haben beantragt,
den Antrag zurückzuweisen.
Der Beteiligte 2) hat in der Übergabe der Zeichnung keinen ausreichenden Grund
für eine außerordentliche Kündigung gesehen. Die Beteiligte 3) hat behauptet, mit
der Zeichnung habe sie die Mitarbeiter wachrütteln und persönliche Gespräche mit
ihnen vorbereiten wollen.
Das Arbeitsgericht Frankfurt hat mit Beschluss vom 1.7.2004 die Zustimmung zur
außerordentlichen Kündigung der Beteiligten 3) ersetzt. Es hat in der Übergabe
der Zeichnung an die Unterzeichner des offenen Briefes eine grobe Beleidigung
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der Zeichnung an die Unterzeichner des offenen Briefes eine grobe Beleidigung
und nicht mehr hinnehmbare Mißachtung der Persönlichkeit gesehen und zur
Begründung im Wesentlichen ausgeführt, dass die Beteiligte 3) die Zeichnung
dazu genutzt habe, um den betreffenden Kollegen mitzuteilen, dass sie sie
aufgrund der Unterzeichnung des offenen Briefes als „Arschgesichter„ und Teil
einer kritiklosen Masse einschätze, die unreflektiert die Position der
Geschäftsführung übernommen haben. Durch die massive Verletzung der
Persönlichkeit der Kollegen habe sie den Betriebsfrieden in nicht mehr
hinzunehmender Weise gestört. Für die weitere Begründung wird auf Ziff. II der
Gründe des arbeitsgerichtlichen Beschlusses Bezug genommen (Bl. 62 – 66 d.A.)
Der Beschluss des ersten Rechtszuges ist den Beteiligten 2) und 3) jeweils am
19.8.2004 zugestellt worden. Der Beteiligte 2) hat gegen den Beschluss am
31.8.2004 Beschwerde eingelegt und sie gleichzeitig auch begründet. Die
Beteiligte 3) hat am 13.9.2004 ebenfalls Beschwerde eingelegt und diese am
30.9.2004 begründet.
Der Beteiligte 2) vertritt die Auffassung, dass das Verhalten der Beteiligten 3)
schon deshalb nicht zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses führen könne, weil es
sich im betriebsverfassungsrechtlichen Bereich bewegt habe. Es sei die Antwort
auf die Angriffe der Kollegen gegen den Beteiligten 2) im offenen Brief vom
11.4.2004 gewesen. Daneben sei es aber auch als wichtiger Grund nicht
ausreichend, sondern vielmehr noch durch das Recht zur freien Meinungsäußerung
aus Art. 5 GG gedeckt. Er sieht die Beteiligte 3) dazu berechtigt, eine öffentlich
verbreitete Karikatur zu kopieren und sie im betriebsverfassungsrechtlichen
Meinungskampf zu verwenden. Sowohl die verfremdende zeichnerische als auch
die spielerische sprachliche Darstellung seien offenkundig satirisch und ironisch
gemeint. Sie machten deutlich, dass die Karikatur nicht echte Identitäten und
Persönlichkeiten zeigen will, sondern bestimmte Meinungen und Haltungen einer
amorphen Masse gekennzeichnet werden sollen. Da die Karikatur so keinen
individuellen Bezug zu einzelnen Arbeitnehmern aufweise, könne sie nicht
ansatzweise als Beleidigung oder Verleumdung einzelner Arbeitnehmer bezeichnet
werden. Angesichts des Umstands, dass die verschiedensten Symbole gezeigt
werden, könne auch die Abbildung von SS-Runen oder eines Hakenkreuzes auf
einem tätowierten Oberarm nicht in den Vordergrund gestellt und zu einer
Verschärfung des Vorwurfs herangezogen werden.
Auch die Beteiligte 3) vertritt die Auffassung, sie habe allein als
Betriebsratsmitglied gehandelt und mit dem Einwurf der Karikatur auf die im
offenen Brief vom 11.4.2004 geäußerten Vorwürfe reagiert. Die Kündigung könne
zudem durch die Vornahme einer Versetzung vom DFS-Bereich in den
Inlandsbereich vermieden werden. Alle Mitarbeiter, denen die Karikatur übergeben
wurde, seien wie die Klägerin Führungskräfte im DFS-Bereich. Da ein mögliches
Fehlverhalten der Beteiligten 3) auf keinen Fall als besonders schwerwiegend zu
beurteilen sei, hätte der einmalige Vorfall zunächst nur zu einer Abmahnung
führen dürfen. Bei der Bewertung des Verhaltens komme das Arbeitsgericht zu
einer Überinterpretation, wenn es die Darstellung der Gesichter als Hinterteile
damit gleichsetze, die Beteiligte 3) tituliere ihre Kollegen als „Arschgesichter„. Ihr
sei es allein auf den Text angekommen. Sie habe anprangern wollen, dass die
Kollegen nach einseitiger Information durch die Geschäftsführung deren Meinung
zur eigenen erhoben haben, ihr also folgten. Mit der Verwendung einer satirischen
Zeichnung habe sie die Mitarbeiter wachrütteln wollen.
Die Beteiligten 2) und 3) beantragen,
den Beschluss des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 1.7.2004 –
11 BV 315/04 – abzuändern und den Antrag zurückzuweisen.
Die Beteiligte 1) beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Die Beteiligte 1) wiederholt und vertieft ihr erstinstanzliches Vorbringen. Sie bleibt
dabei, dass durch die gewählte Darstellung der Gesichtszüge ausnahmslos aller
abgebildeten Personen deutlich gemacht werde, dass jede dieser Personen ein
„Arsch„ ist, dem eine vernünftige und achtenswerte Geisteshaltung abgesprochen
wird. Den Bezug zu den einzelnen Mitarbeitern habe die Beteiligte 3) durch den
Einwurf in deren jeweils persönlichen Hausbriefkasten selbst hergestellt. Die
Zeichnung habe von den Empfängern nicht anders verstanden werden können, als
dass sie selbst als „Arsch„ tituliert werden. Die Beteiligte 3) habe mit der
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dass sie selbst als „Arsch„ tituliert werden. Die Beteiligte 3) habe mit der
Übergabe der Zeichnung allein den Zweck verfolgt, den Mitarbeitern zu
verdeutlichen, dass ihre Geisteshaltung dumpf, kritiklos und in jeder Hinsicht
ablehnenswert sei, sowie die Mitarbeiter durch den Gebrauch des Wortes „Arsch„
herabzuwürdigen. Aufgrund der Schwere der Pflichtverletzung komme weder eine
Versetzung anstelle der Kündigung, noch zunächst nur eine Abmahnung in
Betracht.
II.
Die Beschwerden der Beteiligten 2) und 3) sind gem. § 87 Abs. 1 ArbGG statthaft
und auch im Übrigen zulässig. Die Beteiligten 2) und 3) sind beschwert, weil sie im
ersten Rechtszug unterlegen sind. Des weiteren sind sie form- und fristgerecht
eingelegt und begründet worden (§§ 87 Abs. 2, 89, 86 Abs. 1 ArbGG, 518, 519
ZPO).
Die Beschwerde ist auch in der Sache erfolgreich. Die gem. §§ 103 BetrVG, 15 Abs.
1 KSchG zu ersetzende Zustimmung des Betriebsrats zur beabsichtigten
außerordentlichen Kündigung des Betriebsratsmitglieds A konnte mangels
Vorliegens eines wichtigen Grundes i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB nicht ersetzt werden.
Die Kündigung eines Betriebsratsmitglieds ist nach § 15 KSchG unzulässig, es sei
denn, dass Tatsachen vorliegen, die den Arbeitgeber zur fristlosen Kündigung aus
wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist berechtigen, und dass die
nach § 103 BetrVG erforderliche Zustimmung des Betriebsrats vorliegt oder durch
gerichtliche Entscheidung ersetzt ist. Die Zustimmung ist zu ersetzten, wenn das
Gericht einen wichtigen Grund als gegeben ansieht. Für die Annahme eines
wichtigen Grundes müssen Tatsachen vorliegen, aufgrund derer der Arbeitgeberin
die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung aller Umstände
des Einzelfalles und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung
des Arbeitsverhältnisses nicht zugemutet werden kann (BAG Beschl. v. 10.2.1999,
Az. 2 ABR 31/98, AP Nr. 42 zu § 15 KSchG 1969 m.w.Nachw.).
Ein solcher wichtiger Grund, der es der Arbeitgeberin unzumutbar macht, das
Arbeitsverhältnis bis zum Ablauf der fiktiven ordentlichen Kündigungsfrist
fortzusetzen, war im anonymen Einwerfen der Karikatur von R. H., die eine Gruppe
von Personen – Vertreter gesellschaftlicher Gruppen und staatlicher Institutionen -
zeigt, deren Gesichter sämtlich als Hinterteile verfremdet dargestellt sind und die
mit dem Satz beschriftet ist: „wir sind, was volkt „, in die Hausbriefkästen
mehrerer Kollegen, die einen offenen Brief mit Kritik am Verhalten des Betriebsrat
unterzeichnet hatten, nicht zu sehen.
Das Verhalten der Beteiligten 3) scheidet allerdings nicht schon deshalb als
wichtiger Grund aus, weil die Beteiligte 3) etwa allein in Ausübung ihrer
Amtspflichten gehandelt oder ihr Handeln zumindest im Zusammenhang mit ihrer
Amtstätigkeit gestanden hätte (vgl. dazu FKHE BetrVG 22. Aufl. § 103 Rn.30). Hier
wäre ein Zusammenhang zur Amtstätigkeit zwar denkbar, da die Beteiligte 3) die
Karikaturen als ihre Reaktion auf die im offenen Brief der Kollegen gegen den
Betriebsrat vorgebrachte Kritik in die Briefkästen eingeworfen hat. Er ist jedoch
aufgrund des anonymen Handelns der Beteiligten 3) zu verneinen. Sie hat damit
jede mögliche Verbindung und Verknüpfung ihres Handelns mit dem
Betriebsratsamt selbst abgeschnitten. Zur Amtsausübung gehört denknotwendig,
dass nach außen erkennbar in Ausübung eines Amtes oder Mandats gehandelt
wird.
Ein wichtiger Grund war vielmehr deshalb nicht gegeben, weil das Handeln der
Beteiligten 3) durch das Grundrecht zur freien Meinungsäußerung aus Art. 5 GG
gedeckt ist und deshalb keine grobe Beleidigung der betroffenen Kollegen
darstellt.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und des
Bundesverfassungsgerichts (BVerfG Beschl. v. 16.10.1998, Az 1 BvR 1685/92 EzA
zu § 611 BGB Abmahnung Nr. 40; Beschl. v. 10.10.1995, Az 1 BvR 1476/91 NJW
1995, 3303-3310; BAG Urt. v. 17.7.2000, Az. 2 AZR 927/98; Urt. v. 10.10.2002, Az
2 AZR 418/01 ezA zu § 626 BGB 2002 Unkündbarkeit Nr. 1), der sich die Kammer
anschließt, können grobe Beleidigungen des Arbeitgebers und seiner
Repräsentanten, aber auch von Arbeitskollegen, die nach Form und Inhalt eine
erhebliche Ehrverletzung für den bzw. die Betroffenen bedeuten, einen erheblichen
Verstoß des Arbeitnehmers gegen seine Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis
darstellen und eine außerordentliche Kündigung an sich rechtfertigen. Der
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darstellen und eine außerordentliche Kündigung an sich rechtfertigen. Der
Arbeitnehmer kann sich dann nicht erfolgreich auf sein Recht auf freie
Meinungsäußerung (Art. 5 Abs. 1 GG) berufen. Das beruht darauf, dass das
Grundrecht der Meinungsfreiheit weder Formalbeleidigungen und bloße
Schmähungen noch bewußt unwahre Tatsachenbehauptungen schützt, und dass
dieses Grundrecht im Übrigen nicht schrankenlos gewährt, sondern insbesondere
durch das Recht der persönlichen Ehre gem. Art. 5 Abs. 2 GG beschränkt ist und in
ein ausgeglichenes Verhältnis mit diesem gebracht werden muss.
Das Grundrecht der Meinungsfreiheit aus Art 5 Abs. 1 GG gibt jedem das Recht,
seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern. Der Grundrechtsschutz
besteht unabhängig davon, ob eine Äußerung rational oder emotional, begründet
oder grundlos ist, und ob sie von anderen für nützlich oder schädlich, wertvoll oder
wertlos gehalten wird. Der Grundrechtsschutz bezieht sich nicht nur auf den Inhalt,
sondern auch auf die Form einer Äußerung. Allein, dass eine Aussage polemisch
oder verletzend formuliert ist, entzieht sie noch nicht dem Schutz der
Meinungsfreiheit. Die Meinungsfreiheit ist allerdings nicht vorbehaltlos geschützt.
Sie findet u.a. in den allgemeinen Gesetzen sowie im Recht der persönlichen Ehre
eine Schranke Art 5 Abs. 2 GG). Berührt eine arbeitsgerichtliche Entscheidung die
Meinungsfreiheit, so verlangt Art. 5 Abs. 1 GG, dass die Gerichte die
grundrechtsbeschränkende Norm ihrerseits wieder im Lichte der Meinungsfreiheit
auslegen und anwenden, damit die wertsetzende Bedeutung des Grundrechts
auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt. Ist eine Äußerung weder als
Schmähung noch als Formalbeleidigung einzustufen, hat das Gericht unter
Berücksichtigung aller Umstände eine Abwägung zwischen den Belangen der
Meinungsfreiheit einerseits und des Rechtsguts, in dessen Interesse die
Meinungsfreiheit eingeschränkt ist, andererseits, vorzunehmen (BVerfG v.
16.10.1988).
Ausgehend von diesen Grundsätzen der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist
zunächst festzustellen, dass die in der Karikatur enthaltene Aussage weder als
Formalbeleidigung, noch als Schmähkritik einzustufen ist. Ein Verständnis der
Zeichnung dahingehend, sie belege ihre Empfänger mit dem Schimpfwort
„Arschgesicht„ und rücke sie in die Nähe verbrecherischer und
menschenverachtender Nazis, stellt zwei Elemente isoliert in den Vordergrund und
wird der Komplexität und offensichtlichen satirischen Überspitzung der
zeichnerischen Darstellung in Verbindung mit der hinzugefügten, wortspielerisch
verfremdeten Textzeile nicht gerecht.
Die Zeichnung bildet nicht konkrete Personen ab, sondern - erkennbar an den
verschiedenen Kopfbedeckungen - ein breites Spektrum von Repräsentanten
gesellschaftlicher Gruppen und staatlicher Institutionen. Dazu gehören politische
Extreme (Neonazis wie revolutionäre Maoisten), etablierte (konservative) Gruppen
(Kirchen, Burschenschaften, Unternehmer, US-amerikanische Kapitalisten)
und Institutionen staatlicher Macht (das politische und das Bildungssystem,
Polizei, Justiz und Bundeswehr). Die Verfremdung der Gesichter zu Hinterteilen im
Zusammenhang mit der Textzeile kann zweifach gedeutet werden; einmal im
Sinne einer Beschreibung des Istzustands des durch seine gesellschaftlichen wie
staatlichen Repräsentanten dargestellten Volkes, zum anderen, aufgrund des
Textes, aber auch im Sinne einer Warnung an dieses Volk vor dem, worauf es sich
zubewegt.
Zeichnerisch dargestellt wird ein Volk, das nicht selbst denkt und für sich spricht,
sondern einer Macht und den von ihr verbreiteten Ideen und Zielen angepaßt und
unkritisch folgt und sich damit – grob ausgedrückt - als arschkriecherisch erweist.
Eine solche Aussage ist gegenüber dem Adressaten sicherlich verletzend und
persönlich herabsetzend; denn er muss sich als Teil dieses so beschriebenen
Volkes sehen. Aufgrund der durch ein Wortspiel verfremdeten Textzeile „wir sind,
was volkt „ ist die Deutung der Karikatur als Beschreibung eines Zustands, als
dessen Teil sich auch der Empfänger sehen muss, jedoch nicht zwingend, sondern
ermöglicht auch, hier nur eine Warnung an den Empfänger zu sehen; denn als Teil
des Wortspiels wird das Wort „ volkt „ gleichzeitig auch in der Bedeutung von
„folgt„ verwendet. Die Aussage könnte dann auch so umschrieben werden, dass
man auf dem Weg zu dem ist und in der Zukunft folgen werde, was die Karikatur
abbildet, wenn man kritiklos alles „von oben„ hinnimmt, nicht kritischer hinschaut
und selbst nachdenkt. Diese Möglichkeit der Deutung der Karikatur muss in die
Bewertung des der Beteiligten 3) zu machenden Vorwurfs einbezogen werden;
denn bei mehrdeutigen Äußerungen gebietet der Schutz der Meinungsfreiheit
nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG Beschl. v.
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nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG Beschl. v.
10.10.1995 a.a.O.), nicht auf die schwerwiegendste Deutung abzustellen. Das
BVerfG fordert, dass sich die Gerichte insbesondere nicht durch eine isolierte
Betrachtung des inkriminierten Teils der Äußerung anderen Alternativen
verschließen dürfen. Vielmehr müssen bei der Bewertung der sprachliche
Zusammenhang und die außertextlichen Begleitumstände des konkreten
Einzelfalls, soweit sie für die Adressaten der Äußerung wahrnehmbar waren,
berücksichtigt werden. Bei der Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und dem
Ehrenschutz ist dem Ehrenschutz dann der Vorrang zu geben, wenn in der
umstrittenen Äußerung kein Beitrag zur Sache liegt, sondern die Diffamierung im
Vordergrund steht. Ergibt sich dagegen aus dem situativen Kontext, dass die
Behandlung einer die (betriebliche) Öffentlichkeit berührenden Frage im
Vordergrund steht, soll eine Vermutung zugunsten der Meinungsfreiheit
bestehen.
Unstreitig hat sich der betriebliche Kontext der Äußerung – obwohl anonym
eingeworfen - für die Empfänger der Karikatur sehr schnell ergeben, als feststand,
dass die Empfänger sämtlich Unterzeichner des offenen Briefes an den Betriebsrat
vom 11.4.2004, in dem diese sich mit heftiger Kritik am Betriebsrat (Verharren in
alten Denkschablonen, wenig konstruktive Haltung, Abwesenheit akzeptabler und
kreativer Vorschläge) im Rahmen einer innerbetrieblichen
betriebsverfassungsrechtlichen Auseinandersetzung zu Wort gemeldet hatten. Es
war damit klar erkennbar, dass der Einwurf der Karikatur die Antwort eines(r) –
noch anonymen – Mitarbeiters(in) war, der (die) sich dagegen mit der Botschaft,
die Unterzeichner übernähmen ungeprüft die Position des Arbeitgebers und
wollten sich zudem mit ihrer Aktion der Arbeitgeberin anbiedern, zur Wehr setzte.
Durch diesen erkennbaren Kontext wird sichtbar, dass es dem (der) anonymen
Einwerfer(in) nicht um eine schlichte Diffamierung der Empfänger ging, sondern
(er) sie damit einen – wenn auch geschmacklosen - Beitrag zur betrieblichen
Diskussion liefern wollte. Es ist der Beteiligten 3) zu glauben, dass sie als Mitglied
des Betriebsrats von der Kritik an der Haltung des Betriebsrats bei den
Verhandlungen neuer Betriebsvereinbarungen mit dem Ziel der Senkung von
Sonderzahlungen sehr betroffen war und den Unterzeichnern als Antwort nicht
eine schlichte Diffamierung als „Arschgesichter„ zukommen lassen wollte, sondern
es ihr vorrangig um einen – deutlich satirisch überzeichneten - Beitrag in der
Sache ging, mit dem sie die von ihr empfundene Haltung der Unterzeichner des
offenen Briefes in dieser betrieblichen Auseinandersetzung brandmarken wollte.
So gesehen erscheint das Handeln der Beteiligten 3) noch vom Recht auf freie
Meinungsäußerung gedeckt und die Ehre der Empfänger durch diesen einmaligen
Akt nicht in einem solchen Maße herabgesetzt, dass das Verhalten der Beteiligten
3) – ohne vorherige Abmahnung - als wichtiger Grund für eine außerordentliche
Kündigung als an sich geeignet erscheint.
Einer Kostenentscheidung bedurfte es nicht, weil gemäß § 12 Abs. 5 ArbGG
gerichtliche Gebühren und Auslagen nicht erhoben werden.
Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulassung der Rechtsbeschwerde
gemäß §§ 92 Abs. 1, 72 Abs. 2 ArbGG liegen nicht vor.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.