Urteil des LAG Hessen vom 14.12.2010

LAG Frankfurt: lex fori, internationale zuständigkeit, ordre public, betriebsrat, unwirksamkeit der kündigung, eröffnung des verfahrens, fehlerhaftigkeit, rechtliches gehör, lex causae

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Gericht:
Hessisches
Landesarbeitsgericht
13. Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
13 Sa 969/10
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
Art 16 Abs 1 EGV 1346/2000,
Art 4 Abs 1 EGV 1346/2000,
Art 17 EGV 1346/2000, Art
30 Abs 1 BGBEG, § 1 Abs 2 S
1 Alt 3 KSchG
Internationale Zuständigkeit - Insolvenz - betriebsbedingte
Kündigung
Leitsatz
Die internationale Eröffnungszuständigkeit im Sinne des Artikels 16 EuInsVO kann nicht
nachgeprüft werden.
Die prozessualen und materiellrechtlichen Wirkungen des Insolvenzverfahrens gemäß
EuInsVO richten sich grundsätzlich nach der lex fori concursus, also nach dem Recht
des Staates, in dem das Insolvenzverfahren eröffnet wurde. Für Arbeitsverhältnisse gilt
dagegen das Recht des Mitgliedsstaates, das auf dem Arbeitsvertrag anzuwenden ist.
Ist deutsches Arbeitsrecht anwendbar, gelten damit auch die Regeln deutschen
kollektiven Arbeitsrechts und die §§ 113, 120 ff InsO.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main
vom 23. Februar 2010 – 18 Ca 7856/09 – wird auf Kosten des Klägers
zurückgewiesen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung, die
die Beklagte dem Kläger unter dem 28. August 2009 zum 30. November 2009
ausgesprochen hat.
Der am 11. Februar 1968 geborene Kläger ist verheiratet und einem Kind
unterhaltsverpflichtet. Er ist bei der Beklagten seit dem 01. September 1994
beschäftigt, zuletzt als Business-Development-Manager. Er erzielte ein
Bruttomonatsgehalt in Höhe von 11.500,00 €.
Die Beklagte ist Teil der weltweit agierenden A, einer der führenden Anbieter von
Telekommunikationslösungen. Angesichts der wirtschaftlichen Situation des B
wurden weltweit Insolvenzverfahren eingeleitet und der Entschluss getroffen, die
einzelnen Geschäftsfelder der A in einem koordinierten Verfahren in den USA, in
Kanada und in Europa zu verkaufen, um so ein möglichst gutes Ergebnis für die
Insolvenzgläubiger erzielen zu können.
Mit Beschluss vom 14. Januar 2009 eröffnete der High Court of Justice in London
(Az: 00542/2009) ein Administrationsverfahren über das Vermögen der englischen
C und einiger Tochtergesellschaften innerhalb der Europäischen Union, so auch
über das Vermögen der Beklagten, als Hauptinsolvenzverfahren im Sinne der
Europäischen Insolvenzordnung vom 29. Mai 2000. Die Herren D, E, F und G
wurden mit diesem Beschluss zu "Joint Administrators" (Administratoren) bestellt.
Wegen der Einzelheiten dieses Beschlusses vom 14. Januar 2009 wird auf die
Anlage B1 zum erstinstanzlichen Schriftsatz der Beklagten vom 06. Oktober 2009
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Anlage B1 zum erstinstanzlichen Schriftsatz der Beklagten vom 06. Oktober 2009
(Bl. 40 ff. d. A.) verwiesen. Die Eröffnung des Administrationsverfahrens wurde vom
Amtsgericht Frankfurt am Main am 27. Januar 2009 öffentlich bekannt gemacht
und in das Handelsregister eingetragen.
Zur Vorbereitung des Verkaufs der verschiedenen Geschäftsfelder entschied die
Geschäftsleitung unter anderem, dass bei der Beklagten 196 Arbeitsplätze
gestrichen werden sollten, um zum einen wieder aus der Verlustzone zu kommen
und zum anderen, um für potentielle Käufer wirtschaftlich interessanter zu werden.
Zur Umsetzung des beschlossenen Personalabbaus schlossen die Beklagte, deren
Gesamtbetriebsrat und die lokalen Betriebsräte der Standorte H,I, J und K am 17.
Juli 2009 einen Interessenausgleich ab und verständigten sich darauf, den Abbau
primär durch die Errichtung einer Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft
und den Abschluss von Aufhebungsverträgen und nur soweit erforderlich durch
Ausspruch betriebsbedingter Kündigungen durchzuführen. Auf Seiten des
Betriebsrats wurde der Interessenausgleich am 22. Juli 2009 sowohl von dem bei
der Beklagten gebildeten Gesamtbetriebsrat als auch dem bei der Beklagten am
Standort H gebildeten Betriebsrat unterzeichnet. Auf Seiten der Beklagten wurde
der Interessenausgleich am 27. Juli 2009 durch den Administrator, Herrn E,
unterzeichnet. Wegen der Einzelheiten dieses Interessenausgleichs wird Bezug
genommen auf die Anlage B2 des erstinstanzlichen Schriftsatzes der Beklagten
vom 06. Oktober 2009 (Bl. 59 ff d. A.). Diesem Interessenausgleich war, ebenfalls
von den oben bezeichneten Personen unterschrieben, als Anlage eine
Namensliste nach § 1 Abs. 5 KSchG / § 125 InsO beigefügt. Wegen der Einzelheiten
dieser Anlage wird auf die Anlage B2 zum erstinstanzlichen Schriftsatz der
Beklagten vom 06. Oktober 2009 (Bl. 45 ff. d. A.) verwiesen. Auf dieser
Namensliste findet sich auch der Name des Klägers.
Die mit dem Betriebsrat im Interessenausgleich vereinbarte Namensliste wurde
nach Durchführung einer Sozialauswahl aufgestellt, die ihrerseits auf einem
Punkteschema basiert. Dieses Punkteschema gewichtet folgende Kriterien der
Sozialauswahl wie folgt:
Unter Anwendung dieses Schemas wurde eine Sozialpunkteliste aller Mitarbeiter
der Beklagten erstellt. Sodann wurden in den einzelnen Abteilungen die Anzahl der
am wenigsten schutzbedürftigen Mitarbeiter für die Kündigung ausgewählt, die
benötigt wurde, um in den betreffenden Abteilungen den aus der
Unternehmerentscheidung resultierenden Personalabbau zu erreichen. Dabei
wurden zunächst die jeweils am wenigsten schutzbedürftigen Arbeitnehmer
herangezogen. Die so entstandene Liste der zu kündigenden Personen wurde
anschließend korrigiert, dass in wenigen Einzelfällen Personen mit
Sonderkündigungsschutz sowie Leistungsträger, auf die aus dringenden
betrieblichen Erfordernissen nicht verzichtet werden konnte, wieder aus dem Kreis
der zu kündigenden Mitarbeiter herausgenommen wurden. An ihre Stelle traten
jeweils die nächsten, sozial am wenigsten schutzbedürftigen Mitarbeiter. Ferner
wurde geprüft, ob die zu kündigenden Mitarbeiter angesichts ihres
Kenntnisstandes, ihrer Fähigkeiten und Qualifikationen auf anderen, mit sozial
weniger schutzbedürftigen Mitarbeitern besetzten Arbeitsplätzen des Betriebs
eingesetzt werden könnten. Wenn auch diese Prüfung negativ ausfiel und auch
keine andere freie Stelle angeboten werden konnte, wurde der betreffende
Mitarbeiter schließlich auf die Namensliste aufgenommen.
Nachdem sich 176 Mitarbeiter zu einem Wechsel in die Beschäftigungs- und
Qualifizierungsgesellschaft bereiterklärt hatten, sollten dann bezogen auf die
einzelnen Geschäftsbereiche betriebsbedingte Kündigungen ausgesprochen
werden. Unter dem 20. August 2009 hörte deshalb die Beklagte den Betriebsrat
unter anderem zur beabsichtigten Kündigung des Klägers an. Der Betriebsrat
widersprach der Kündigung nicht. Wegen des Inhalts des Anhörungsschreibens der
Beklagten vom 20. August 2009 wird auf Anlage B6 des erstinstanzlichen
Schriftsatzes der Beklagten vom 16.November 2009 (Bl. 146 ff. d. A.) verwiesen.
Dem Kläger wurde sodann unter dem 28. August 2009 die Kündigung zum 30.
November 2009 ausgesprochen. Die Kündigung, unterzeichnet von Herrn L, wurde
dem Kläger am 29. August 2009 in dessen Hausbriefkasten eingeworfen mit einer
Originalvollmacht von Herrn E für Herrn L. Beide Schreiben fand der Kläger ohne
Briefumschläge bei Öffnung seines Briefkastens vor.
Der Kläger ist der Ansicht gewesen, dass die ausgesprochene Kündigung nicht
ordnungsgemäß erklärt und sozialwidrig sei. Die Insolvenzeröffnung in England
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ordnungsgemäß erklärt und sozialwidrig sei. Die Insolvenzeröffnung in England
habe keine Auswirkungen auf die ihm erklärte Kündigung. Da nur ein englischer
Administrator eingesetzt worden sei, sei der Interessenausgleich nebst
Namensliste auch nicht von einem Insolvenzverwalter im Sinne der deutschen
Insolvenzordnung abgeschlossen worden. Sämtliche Kündigungserleichterungen in
der Insolvenz fänden daher keine Anwendung. Schließlich hat der Kläger die
Betriebsratsanhörung für fehlerhaft gehalten. Dem Betriebsrat sei nämlich
mitgeteilt worden, dass sich 176 Mitarbeiter bereiterklärt hätten, in die
Transfergesellschaft zu wechseln. Deswegen seien aber nur 20 Mitarbeiter in den
Interessenausgleich einzubeziehen gewesen. Dazu habe er, der Kläger, nicht
gehört.
Eine Massenentlassungsanzeige sei auch nicht erfolgt.
Der Kläger hat beantragt,
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der
Beklagten vom 28. August 2009 zum 30. November 2009 nicht aufgelöst worden
ist.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hat die Kündigung aus betriebsbedingten Gründen für sozial
gerechtfertigt gehalten. Angesichts des in M eröffneten Insolvenzverfahrens
fänden dieselben Kündigungserleichterungen für das Insolvenzverfahren
Anwendung wie bei einem deutschen Insolvenzverfahren. Die Eröffnung des
Insolvenzverfahrens in England sei auch in Deutschland anzuerkennen, ohne dass
es hierzu irgendwelcher Förmlichkeiten bedürfte. Allein für die Arbeitsverhältnisse
gelte das Recht des Mitgliedsstaates, das auf den Arbeitsvertrag anzuwenden ist.
Damit fänden zum Beispiel auch die §§ 113, 125 InsO, § 1 Abs. 5 KSchG
Anwendung. Die Voraussetzungen einer Betriebsänderung lägen vor, denn es
sollte zu einem Abbau von 196 Arbeitsplätzen kommen. Der Interessenausgleich
mit der Namensliste sei auch wirksam von Herrn E als Administrator
unterschrieben. Dringende betriebliche Erfordernisse für die Kündigung würden
nach Abschluss des Interessenausgleichs mit Namensliste vermutet. Der
Arbeitsplatz des Klägers sei infolge der Umsetzung der oben dargelegten
Unternehmerentscheidung weggefallen. Ein freier Arbeitsplatz, auf dem der Kläger
angesichts seiner Qualifikationen, Kenntnisse und Fähigkeiten einsetzbar gewesen
wäre, habe zum Zeitpunkt der Kündigung nicht bestanden. Wegen der Einzelheiten
des Vorbringens hierzu wird ergänzend auf den erstinstanzlichen Schriftsatz vom
10. Februar 2010 (Bl. 249 ff. d. A.) Bezug genommen. Die Sozialauswahl, so hat
die Beklagte weiter gemeint, sei auch nicht grob fehlerhaft gewesen. Die mit dem
Betriebsrat im Interessenausgleich vom 17. Juli 2009 vereinbarte Namensliste sei
nach Durchführung einer angemessenen Sozialauswahl aufgestellt worden. Eine
Massenentlassungsanzeige sei am 25. August 2009 erfolgt. Die Agentur für Arbeit
habe am 27. August 2009 bestätigt, dass im vorliegenden Fall keine Anzeigepflicht
bestehe (Bl. 268 ff., 127 d. A.)
Durch Urteil vom 23. Februar 2010 hat das Arbeitsgericht die Klage abgewiesen,
im Wesentlichen mit der Begründung, es gelte nach Maßgabe des englischen
Insolvenzeröffnungsbeschlusses deutsches Arbeitsrecht und damit das Regelwerk
über die Kündigungserleichterungen in der Insolvenz und bei Abschluss eines
Interessenausgleichs mit Namensliste. Nach Maßgabe der entsprechenden
deutschen Vorschriften sei der Betriebsrat ordnungsgemäß beteiligt gewesen; die
Vermutung dringender betrieblicher Gründe für die Kündigung habe der Kläger
nicht erschüttern können. Die Sozialauswahl sei jedenfalls nicht grob fehlerhaft.
Die dem Kläger zukommende Kündigungsfrist von 3 Monaten zum Monatsende sei
gewahrt. Wegen der Einzelheiten wird auf Tatbestand und Entscheidungsgründe
des angefochtenen Urteils verwiesen (Bl. 294 - Bl. 306 d. A.).
Gegen dieses dem Kläger am 31. Mai 2010 zugestellte Urteil hat dieser mit einem
beim erkennenden Gericht am 28. Juni 2010 eingegangenen Schriftsatz Berufung
eingelegt und diese mit einem am 26. Juli 2010 eingegangenen Schriftsatz
begründet.
Der Kläger wiederholt und vertieft sein erstinstanzliches Vorbringen. Er ist weiter
der Auffassung, die Kündigung sei ihm nicht ordnungsgemäß unter Beifügung
einer Originalvollmacht des Administrators E für Herrn L zugegangen. Deshalb
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einer Originalvollmacht des Administrators E für Herrn L zugegangen. Deshalb
greife seine mit Anwaltsschreiben vom 03. September 2009 erhobene
entsprechende Rüge. Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens durch den High Court
of Justice in London am 14. Januar 2009 sei für die Beklagte unbeachtlich. Das
britische Gericht sei unzuständig gewesen. Jedenfalls sei der Beschluss vom 14.
Januar 2009 offenkundig fehlerhaft, weil ihm, dem Kläger, kein rechtliches Gehör
gewährt worden sei. Die vom Arbeitsgericht angewandten §§ 113 und 125 InsO
fänden deshalb keine Anwendung. Für die Kündigung gäbe es auch keine
hinreichenden Gründe. Die Beklagte sei wirtschaftlich gesund. Die Sozialauswahl
sei mangelhaft. Die Arbeitskollegen N, O, P und R übten die gleiche Tätigkeit aus
wie er, seien aber erst seit 2000 bzw. 2001 bei der Beklagten. Er, der Kläger, könne
deren Tätigkeit nach kurzer Einarbeitungszeit übernehmen. Wegen der
Einzelheiten wird auf den Schriftsatz des Klägers vom 26. Juli 2010 (Bl. 362 ff d. A.)
verwiesen. Er hätte auch auf der Stelle von Herrn S weiterbeschäftigt werden
können, der das Unternehmen freiwillig verlässt.
Die Beteiligung des Betriebsrats an seiner Kündigung sei mangelhaft gewesen.
Sein Tätigkeitsbereich sei bei der Anhörung nur unvollständig angegeben worden.
Anderweitige Informationen dazu habe der Betriebsrat nicht gehabt. Zur
Sozialauswahl sei der Betriebsrat nicht informiert worden. Interessenausgleich und
Namensliste seien frühestens am 04. September 2009 abgeschlossen worden,
also erst nach Zugang seiner Kündigung.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 23. Februar 2010 - 18 Ca
7856/09 - abzuändern und festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien
durch die Kündigung der Beklagten vom 28. August 2009 nicht zum 30. November
2009 aufgelöst wurde.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte verteidigt das erstinstanzliche Urteil. Sie hält die Berufung für
unzulässig, weil sie fast nur Wiederholungen des erstinstanzlichen Vorbringens
enthalte. In der Sache vertritt sie die Auffassung, die Eröffnung des
Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Beklagten durch den Beschluss des
High Court of Justice vom 14. Januar 2009 sei von deutschen Gerichten
anzuerkennen und führe zur Anwendbarkeit deutschen Arbeitsrechts, d. h. auch
der §§ 113, 125 InsO, 1 Abs. 5 KSchG. Der Interessenausgleich mit Namensliste
habe daher so abgeschlossen werden dürfen. Er sei am 22. Juli 2009 von der
Betriebsratsseite und am 27. Juli 2009 durch den Administrator E unterzeichnet
worden. Das unterzeichnete Exemplar habe dem Gesamtbetriebsrat und
Betriebsrat spätestens am 19. August 2009 im Geschäftsgebäude der Beklagten
in H anlässlich einer Sitzung des Wirtschaftsausschusses und Gesamtbetriebsrats
wieder zur Einsicht vorgelegen. Herr T, Mitglied des Gesamtbetriebsrats, habe
diese Einsicht auch genommen und die Existenz der Originalunterschriften den
anderen Sitzungsteilnehmern bestätigt. Die Betriebsratsanhörung zur
beabsichtigten Kündigung des Klägers sei nicht pauschal gewesen, sondern auch
auf den Kläger individualisiert. Sozialdaten und Kündigungsgründe seien
ausgeführt worden. Auch die Kriterien der Sozialauswahl seien dem Betriebsrat
durch Bezugnahme auf die ausgehandelte Namensliste mitgeteilt worden. Zur
Übergabe einer vollständigen Liste aller Arbeitnehmer des Betriebs einschließlich
der Sozialdaten sei sie, die Beklagte, nicht verpflichtet gewesen. Die Tätigkeit von
Herrn N könne der Kläger entgegen seiner Behauptung nicht sofort ausüben. Herr
N sei auch zwei Hierarchiestufen unter der des Klägers angesiedelt als reiner
Techniker unterhalb der Managerebene. Im Aufgabenbereich von Herrn R habe der
Kläger nur unzureichende Erfahrungen und brauche eine Einarbeitungszeit von 9
bis 12 Monaten. Herr R sei Leistungsträger in seiner Abteilung und für sie, die
Beklagte, unverzichtbar. Auch er sei zwei Hierarchiestufen unter dem Kläger
angesiedelt. Herr P sei ebenso in einem Bereich tätig, für den der Kläger eine
Einarbeitungszeit von mindestens 6 Monaten benötigte. Herr P verfüge über
unverzichtbare Spezialkenntnisse und habe ohnehin nur eine geringfügig geringere
Punktzahl bei der Sozialauswahl erreicht als der Kläger. Ähnliches gilt für Herrn O.
Die Stelle von Herrn Sl sei zum Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs des Klägers
bereits gestrichen gewesen und nicht nachbesetzt worden. Freie Arbeitsplätze, auf
denen der Kläger nach Ausbildung, Kenntnissen und Fähigkeiten hätte eingesetzt
werden können, seien zur Zeit des Ausspruchs der Kündigung also nicht
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werden können, seien zur Zeit des Ausspruchs der Kündigung also nicht
vorhanden gewesen.
Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien im zweiten Rechtszug wird
ergänzend auf die vorgetragenen Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die
Niederschrift der Berufungsverhandlung vom 14. Dezember 2010 Bezug
genommen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß den §§ 8 Abs. 2 ArbGG; 511 ZPO an sich statthafte Berufung begegnet
hinsichtlich des Wertes des Beschwerdegegenstandes (§ 64 Abs. 2 lit. c ArbGG)
keinen Bedenken. Sie ist nach Maßgabe der im Tatbestand mitgeteilten Daten
form- und fristgerecht eingelegt sowie rechtzeitig und ordnungsgemäß begründet
worden (§§ 66 Abs. 1 ArbGG; 517; 519; 520 ZPO) und damit insgesamt zulässig.
Entgegen der Ansicht der Beklagten enthält die Berufungsbegründung trotz vieler
Wiederholungen des erstinstanzlichen Vortrags auch die Rüge von
Rechtsverletzungen des erstinstanzlichen Urteils, z. B. die fehlende
Auseinandersetzung mit der angeblich mangelhaften Zustellung der
Kündigungserklärung. § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO ist damit genügt.
In der Sache ist die Berufung unbegründet.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Feststellung der Unwirksamkeit
der ihm erklärten Kündigung vom 28. August 2009.
Der Kündigung stehen dringende betriebliche Erfordernisse im Sinne des
zweifelsfrei nach rechtzeitiger Klageerhebung anwendbaren
Kündigungsschutzgesetzes zur Seite (§§ 1 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3, Abs 5; 4; 23 Abs.
1 KSchG; 125 InsO). Auch die Anhörung des Betriebsrats war ordnungsgemäß und
führt nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung (§ 102 BetrVG).
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet auch nach der Eröffnung des
Administrationsverfahrens über das Vermögen der Beklagten durch den High
Court of Justice in London vom 14. Januar 2009 deutsches Arbeitsrecht
Anwendung. Dieser Beschluss beruht auf der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des
Rates über Insolvenzverfahren vom 29. Mai 2000 (ABlEG Nr. L160 vom 30. Juni
2000), in kraft seit 31. Mai 2002 (im Folgenden: EuInsVO).
Die EuInsVO stellt eine umfassende Kodifizierung des internationalen
Insolvenzrechts dar. Innerhalb der EU (außer Dänemark) verdrängt sie das
autonome deutsche Internationale Insolvenzrecht, wo es vom deutschen Recht
abweichende Regelungen trifft. Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens durch den
High Court of Justice nach Maßgabe der EuInsVO ist gemäß deren Artikel 16 Abs. 1
anzuerkennen. Das Bestehen der internationalen Eröffnungszuständigkeit kann
nicht nachgeprüft werden. Zwar sieht Artikel 16 Abs. 1 Satz 1 EuInsVO vor, dass
die Eröffnung eines Verfahrens "durch ein nach Artikel 3 zuständiges Gericht"
anzuerkennen ist. Auch schließt der Text die Nachprüfung der internationalen
Zuständigkeit nicht unmittelbar aus. Doch ergibt sich aus Erwägungsgrund 22,
dass die internationale Zuständigkeit des Eröffnungsstatuts keiner Überprüfung
unterliegt. Selbst eine fehlerhaft Beurteilung der internationalen Zuständigkeit
(Artikel 3 EuInsVO) verletzt den ordre public nach ganz herrschender Meinung
nicht (vgl. zum Beispiel Gottwald/Kolmann, Insolvenzhandbuch, 4. Aufl. 2010, § 130
Rz 51 m. w. N.; Reinhart in MüKO InsO, 2. Aufl. 2008, Artikel 16 EuInsVO, Rz 12 m.
w. N.; Haß/Huber/Gruber/Heiderhoff, EU-Insolvenzordnung, 2005, Artikel 3 Rz 32;
EuGH vom 21. Januar 2010, BB 2010, 529; EuGH vom 02. Mai 2006, EUZW 2006,
337; OLG Wien, NZE 2005, 56; Cour d'appel Versailles, EWiR, Artikel 3 EuInsVO
5/03, 1239). Die darauf gerichteten Angriffe des Klägers gehen deshalb allesamt
fehl. Es liegt auch ansonsten kein Verstoß gegen den ordre public vor,
insbesondere nicht durch Verletzung des rechtlichen Gehörs des Klägers. Dem
Kläger stünde auch nach deutschem Insolvenzrecht eine Beschwerde gegen einen
Insolvenzeröffnungsbeschluss nicht zu.
Die aus dem Eröffnungsbeschluss folgenden Rechtswirkungen regelt Artikel 17
EuInsVO. Danach findet eine automatische Wirkungserstreckung statt, d. h., die
Eröffnung des Verfahrens entfaltet im Anerkennungsstaat die Wirkung eines
Insolvenzverfahrens.
Die prozessualen und materiellrechtlichen Wirkungen des Insolvenzverfahrens
gemäß EuInsVO richten sich gemäß Artikel 4 Abs. 1 EuInsVO grundsätzlich nach
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gemäß EuInsVO richten sich gemäß Artikel 4 Abs. 1 EuInsVO grundsätzlich nach
der lex fori concursus, hier also nach englischem Recht. Dies hat Bedeutung z. B.
für die Vertretungsmacht der Administratoren. Diese ergibt sich auch für in
Deutschland vorzunehmende Rechtsakte aus Abs. 69 des Anhang B1 des
Insolvency Akt 1986. Dieser lautet unstreitig (§ 293 ZPO):
Aufgrund dieser Bestimmung ist der Administrator also Vertreter des
Unternehmens. Es gilt also nicht wie im deutschen Recht die Amtstheorie
(Schlegel in MüKO InsO, 2. Aufl. 2008, Länderberichte, England und Wales, Rz 24).
Der Eröffnungsbeschluss des High Court of Justice vom 14. Januar 2009 ordnet
zudem in Ziffer 9 an,
Damit konnte der Administrator Stephen Harris dem Kläger als Vertreter der
Beklagten eine Kündigung aussprechen. Er hat dies vorliegend nicht selbst getan,
sondern dafür Herrn Rüdiger L eine Untervollmacht erteilt. Mit dieser Original-
(Unter-)Vollmacht hat er dem Kläger am 28. August 2009 die Kündigung in dessen
Hausbriefkasten eingeworfen. Der Kläger fand, wie im Termin vom 14. Dezember
2010 selbst zugestanden, die Originalvollmacht und die Kündigungserklärung bei
Öffnung seines Briefkastens vor. Damit ist die Kündigung ordnungsgemäß
zugegangen (§ 130 BGB). Der im Termin erhobene Einwand des Klägers, er wisse
nicht, ob beide Schreiben gemeinsam zum gleichen Zeitpunkt in seinen
Briefkasten gelangt seien, ist rechtlich unerheblich. Entscheidend ist, dass bei
Zugang, d. h. bei Öffnung des Briefkastens, beide Schreiben vorlagen. Damit geht
auch die seinerzeitige Zurückweisung der Kündigung gemäß § 174 BGB wegen
fehlender Originalvollmacht von Herrn L ins Leere. Die Vollmachtsurkunde für
Herrn L hat bei Zugang der Kündigung vorgelegen.
Die Wirksamkeit der Kündigung selbst ist nicht nach der lex fori concursus zu
prüfen. Artikel 10 EuInsVO enthält eine Sonderanknüpfung an die lex causae „für
die Wirkungen des Insolvenzverfahrens auf einen Arbeitsvertrag und auf das
Arbeitsverhältnis". Es gilt dort ausschließlich das Recht des Mitgliedstaates, das
auf den Arbeitsvertrag anwendbar ist. Verwiesen wird auf die Kollisionsnormen der
Mitgliedsstaaten für Arbeitsverträge. Dies führt im vorliegenden Fall ohne
besondere Probleme über Artikel 6 Abs. 1 des Römischen
Schuldrechtsübereinkommens / Artikel 30 Abs. 1 EGBGB zur Anwendung
deutschen Arbeitsrechts (vgl. dazu im Einzelnen Wenner/Schuster in FK-InsO, 5.
Aufl. 2009, Anhang 1 nach § 358 InsO, Rz 4; Wimmer, NJW 2002, 2427;
Gottwald/Kolmann, a. a. O., § 132, Rz 60 ff; Hass/Huber/Gruber/Heiderhoff a. a. O.,
Art. 10 Rz 1; Göpfert/Müller, NZA 2009, 1057). Nicht ganz geklärt ist allerdings,
wieweit genau diese Verweisung ins deutsche Arbeitsrecht reicht. Dies ist im Lichte
des Erwägungsgrundes 28 der Verordnung zu prüfen. Dieser lautet:
Deshalb dürfte z. B. auch das Insolvenzgeld oder ähnliche Lohngarantien nicht
unter Artikel 10 EuInsVO fallen (vgl. dazu Hass/Huber/Gruber/Heiderhoff, a. a. O.;
Artikel 10 Rz 4; Kindler in MüKo BGB, 5. Auflage 2010, § 10 EGVO 1346/2000 Rz 7;
Wenner/Schuster in FK-InsO, a. a. O.; Rz 7). Einigkeit besteht aber, soweit
erkennbar, für die Anwendbarkeit der "klassischen" arbeitsrechtlichen Normen des
deutschen Arbeitsrechts. Artikel 10 EuInsVO wie auch § 337 InsO sprechen nicht
nur vom Arbeitsvertrag, sondern vom Arbeitsverhältnis. Daraus ist herzuleiten,
dass z. B. auch das kollektive Arbeitsrecht des Vertragsstatuts gelten soll, also
etwa das Betriebsverfassungsgesetz und das Tarifvertragsgesetz
(Gottwald/Kolmann, a. a. O., § 132 Rz 62; Wenner/Schuster in FK-InsO, a. a. O. Rz
7; Göpfert/Müller, a. a. O.). Auch anwendbar sind damit aber weiter alle sonstigen
Normen materiellen Arbeitsrechts, etwa solche mit Insolvenzbezug. Auf die Frage,
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Normen materiellen Arbeitsrechts, etwa solche mit Insolvenzbezug. Auf die Frage,
in welcher Kodifikation sie sich befinden, kann es dabei nicht ankommen. Das
deutsche Arbeitsrecht ist traditionell in viele Kodifikationen zersplittert, ohne dass
deshalb jemals deren Zuordnung zum Arbeitsrecht infrage gestellt wurde.
Unter Artikel 10 EuInsVO fallen daher auch die arbeitsrechtlichen Regelungen der
§§ 113, 120 ff InsO (Kindler in MüKO BGB, a. a. O., Rz 6; Wenner/Schuster in FK-
InsO, a.a.O., Rz 6; Reinhart in MüKO InsO, 2. Auflage 2008, Art 10 EuInsVO, Rz 8;
Göpfert/Müller, a. a. O.; zur Anwendbarkeit zu § 113 InsO: Hess. LAG vom 05. März
2007 - 17 Sa 122/06 -, zitiert nach Juris).
Im vorliegenden Fall muss die streitbefangene Kündigung vom 28. August 2009
also umfänglich den Anforderungen deutschen Arbeitsrechts genügen.
Gemäß § 102 BetrVG ist eine Kündigung unwirksam, wenn der Betriebsrat zuvor
nicht oder nicht ordnungsgemäß angehört worden ist. Der Kläger hat gerügt, dass
in Bezug auf seine Kündigung die Anhörung nicht ordnungsgemäß erfolgt sei. Dies
ist jedoch unzutreffend. Bereits das Arbeitsgericht hat im Einzelnen ausgeführt,
wie der Betriebsrat informiert wurde und warum dies den Anforderungen des § 102
BetrVG genügt. Die Berufungskammer nimmt zur Vermeidung von
Wiederholungen auf die einschlägigen Passagen des angefochtenen Urteils Bezug
und macht sie sich zu eigen. Das Vorbringen des Klägers im zweiten Rechtszug
rechtfertigt keine andere Beurteilung.
Die Kündigung ist nicht sozial ungerechtfertigt im Sinne von § 1 Abs 1 KSchG. Die
Beklagte kann sich auf dringende betriebliche Erfordernisse berufen, die der
Weiterbeschäftigung des Klägers entgegenstehen (§ 1 Abs. 2 KSchG).
Der Prüfungsmaßstab hierfür wird durch § 125 InsO modifiziert. Dessen
Voraussetzungen sind erfüllt. Es ist mit der Einschränkung des Betriebs der
Beklagten in dem oben beschriebenen Umfang zweifelsfrei eine Betriebsänderung
im Sinne des § 111 BetrVG durchgeführt worden. Zwischen dem
Insolvenzverwalter/Administrator Harris und dem Gesamtbetriebsrat ist ein
Interessenausgleich zustande gekommen, in dem die Arbeitnehmer, denen
gekündigt werden soll, namentlich bezeichnet sind. Interessenausgleich und
Namensliste, die auch den Namen des Klägers enthält, sind sowohl von
Betriebsratsseite wie von Arbeitgeberseite/Administrator von den zuständigen
Personen unterzeichnet. Entgegen der Ansicht des Klägers ist dieser
Interessenausgleich samt Namensliste auch schon vor Ausspruch der
streitbefangenen Kündigung zustande gekommen. Beide Dokumente tragen die
Unterzeichnungsdaten 22. Juli 2009 bzw. 27. Juli 2009. Die Behauptung des
Klägers, frühestens am 04. September 2009, also nach Ausspruch seiner
Kündigung, sei der Interessenausgleich zustande gekommen, ist offenkundig aus
der Luft gegriffen. Die Manipulation der Unterzeichnungsdaten behauptet der
Kläger nicht. Er schließt vielmehr aus einer Email von Herrn L an Herrn T vom 04.
September 2009 auf ein späteres Zustandekommen. In dieser Email (Bl. 366 d.
A.) heißt es: "..., erhalten Sie vorab die eingescannten von allen Seiten
unterschriebenen Versionen". Daraus lässt sich aber nichts zugunsten des Klägers
herleiten. Insbesondere sagt die Email nichts über ein früheres Unterzeichnungs-
und Zugangsdatum in Textform auch an andere zuständige Personen. Außerdem
ist von "Versionen" die Rede. Es gibt aber nur einen vereinbarten
Interessenausgleich. Die entsprechenden Behauptungen des Klägers sind deshalb
unsubstantiiert und stehen im Widerspruch zu den wieder unbestrittenen
gebliebenen Einlassungen der Beklagte, nach denen der Interessenausgleich mit
Namensliste in unterschriebener Form spätestens am 19. August 2009 im
Geschäftsgebäude der Beklagten im Main Airport Center in H vorgelegen hat
anlässlich einer Sitzung des Wirtschaftsausschusses und Gesamtbetriebsrats. Die
entsprechende Anwesenheitsliste ist vorgelegt (Bl. 263 d. A.). Herr T habe als
Mitglied des Gesamtbetriebsrats das unterschriebene Exemplar eingesehen. Es
mag dabei dahinstehen, ob angesichts des Ablaufs der Ereignisse überhaupt noch
eine Kenntnisnahme der zuletzt noch fehlenden Unterschrift des Administrators E
nötig war. Nach den mehrwöchigen Verhandlungen und der Schlussverhandlung in
der Nacht des 16./17. Juli 2009 dürfte die Unterzeichnung durch den in England
geschäftsansässigen Administrator auch aus der Sicht des Gesamtbetriebsrats
nur noch eine Formsache gewesen sein. Auf die Kenntnisnahme der
Annahmeerklärung von Herrn E hat der Gesamtbetriebsrat dann wohl verzichtet (§
151 Abs. 1 Alternative 1 BGB).
Die Rechtsfolge der Anwendbarkeit des § 125 InsO ist eine Veränderung in der
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Die Rechtsfolge der Anwendbarkeit des § 125 InsO ist eine Veränderung in der
Darlegungslast der sonst vom Arbeitgeber darzulegenden betrieblichen
Erfordernisse für die Kündigung gemäß § 1 Abs. 2 KSchG. Die Regelung des § 125
Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO modifiziert diesen Grundsatz für die im
Interessenausgleich namentlich bezeichneten Arbeitnehmer dahingehend, dass
für diesen Personenkreis vom Vorliegen betrieblicher Erfordernisse, die einer
Weiterbeschäftigung bzw. einer Weiterbeschäftigung zu unveränderten
Arbeitsbedingungen entgegenstehen, auszugehen ist. Hierbei handelt es sich um
eine gesetzliche Vermutung, die gemäß § 292 ZPO widerlegbar ist (BAG vom 29.
September 2005, EzA Nr. 140 zu § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung). Durch
die ausdrückliche Bezugnahme auf die dringenden betrieblichen Erfordernisse im
Sinne des § 1 Abs. 2 KSchG erstreckt sich die Vermutung auch darauf, dass der
Arbeitnehmer an keinem anderen Arbeitsplatz in demselben Betrieb weiter
beschäftigt werden kann (BAG vom 07. Mai 1998, EzA Nr. 5 zu § 1 KSchG
Interessenausgleich; KR-Weigand, 9. Aufl. 2009, § 125 InsO Rz 15 f). Die
Vermutung der dringenden betrieblichen Erfordernisse führt im Kündigungsstreit
zur Beweislastumkehr. Die Darlegungs- und Beweislast (keine dringenden
betrieblichen Erfordernisse) trägt damit der Arbeitnehmer. Ihm obliegt der
substantiierte Tatsachenvortrag, der den gesetzlich vermuteten Umstand nach §
125 Abs. 1 Satz 1 InsO nicht nur in Zweifel zieht, sondern ausschließt (BAG vom
26. April 2007, EzA Nr. 6 zu § 125 InsO; BAG vom 22. Januar 2004, EzA Nr. 11 zu §
1 KSchG Interessenausgleich; KR-Weigand, a.a.O., § 125 InsO Rz 20).
Diesen Anforderungen wird der Vortrag des Klägers nicht gerecht. Er bewegt sich
im Bereich der Vermutungen und ist nicht geeignet, den Vortrag der Beklagten zu
den dringenden betrieblichen Erfordernissen für die Kündigung auch nur zu
erschüttern. Zur Schaffung neuer Arbeitsplätze für den Kläger ist die Beklagte
unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt verpflichtet. Die Weiterbeschäftigung auf
dem Arbeitsplatz von Herrn S kommt nicht in Betracht, weil auch dieser
Arbeitsplatz schon gestrichen war.
Auch die Einwendungen des Klägers zur Sozialauswahl tragen nicht. § 125 InsO
stellt auch insoweit höhere Hürden für den Arbeitnehmer auf als die allgemeine
Regelung des § 1 Abs. 3 KSchG. Im Unterschied zu jener Regelung beschränken
sich die Merkmale der insolvenzspezifischen Regelung allein auf die Dauer der
Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter und die Unterhaltspflichten. Eine Rangfolge
zugunsten eines dieser Kriterien besteht nicht (BAG vom 20. Dezember 2006, EzA
Nr. 62 zu § 613 a BGB m. w. N.). Der Arbeitgeber hat einen Bewertungsspielraum.
Die Merkmale sind auch nur auf grobe Fehlerhaftigkeit hin nachzuprüfen. Es reicht
nicht aus, dass die genannten Merkmale sowie ihre Gewichtung vom
Insolvenzverwalter und dem Betriebsrat im Interessenausgleich fehlerhaft
angewendet und beurteilt werden, sondern die Fehlerhaftigkeit muss offensichtlich
und eindeutig sein, der Beurteilungsspielraum muss weit überschritten sein. Grob
fehlerhaft ist die Gewichtung der genannten Sozialdaten, wenn sie jede
Ausgewogenheit vermissen lässt, d. h. wenn einzelne der drei Sozialdaten
überhaupt nicht, eindeutig unzureichend oder mit eindeutig überhöhter Bedeutung
berücksichtigt wurden (BAG vom 17. November 2005, EzA Nr. 4 zu § 125 InsO;
BAG vom 28. August 2003, EzA Nr. 1 zu § 125 InsO; KR-Weigand a. a. O., § 125
InsO, Rz 22). Die durch den Maßstab der groben Fehlerhaftigkeit eingeschränkte
Prüfungsmöglichkeit bezieht sich nicht nur auf die Bildung der auswahlrelevanten
Gruppe (BAG vom 21. Juli 2005, EzA Nr. 2 zu § 125 InsO) und die Sozialindikatoren
sowie deren Gewichtung (BAG vom 17. November 2005, a. a. O.; BAG vom 28.
August 2003, a. a. O.), sondern auf die Sozialauswahl insgesamt. Auch die
Nichteinbeziehung anderer Arbeitnehmer wegen fehlender Vergleichbarkeit oder
wegen berechtigter betrieblicher Interessen, z. B. zum Erhalt oder zur Schaffung
einer ausgewogenen Personalstruktur, kann nur auf grobe Fehlerhaftigkeit
überprüft werden (BAG vom 17. November 2005, a. a. O., BAG vom 28. August
2003, a. a. O., KR-Weigand, a. a. O.). Das Merkmal der groben Fehlerhaftigkeit
kann sich auch auf das Ausmaß der Abweichung hinsichtlich vergebener
Sozialpunkte für einzelne Arbeitnehmer beziehen. Von der groben Fehlerhaftigkeit
bei der Gruppenbildung kann z. B. nicht ausgegangen werden, wenn danach
unterschieden wird, ob bei einer Umsetzung eine Neuschulung oder Einarbeitung
vermieden wird. Damit sind Mitarbeiter, die bisher eine Maschine nicht bedient
haben, nicht mit Mitarbeitern vergleichbar, die an dieser Maschine bereits
gearbeitet haben (LAG Köln vom 25. Mai 2005, LAGE Nr. 7 zu § 125 InsO). Die
Herausnahme der sogenannten Leistungsträger aus der sozialen Auswahl ist auch
nur auf grobe Fehlerhaftigkeit zu überprüfen (BAG vom 10. Juni 2010, DB 2010,
2566; LAG Köln vom 10. Mai 2005, LAGE Nr. 49 zu § 1 KSchG soziale Auswahl). Die
gesetzlichen Auswahlkriterien sind vom Arbeitgeber lediglich ausreichend zu
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gesetzlichen Auswahlkriterien sind vom Arbeitgeber lediglich ausreichend zu
berücksichtigen, nur deutlich schutzwürdigere Arbeitnehmer können die
Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl mit Erfolg rügen (BAG vom 02. Juni 2005, EzA
Nr. 63 zu § 1 KSchG soziale Auswahl).
Dafür muss der Arbeitgeber allerdings zunächst die Gründe angeben, die zu der
getroffenen Sozialauswahl geführt haben. Dazu gehören auch die Gründe für die
berechtigten betrieblichen Interessen, die den Insolvenzverwalter zur
Ausklammerung von solchen im Übrigen vergleichbaren Arbeitnehmern aus der
sozialen Auswahl gemäß § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG veranlasst haben (LAG Köln vom
10. Mai 2005, a. a. O.; KR-Weigand, a. a. O. Rz 23 m. w. N.).
Dies hat die Beklagte hier getan, wie im Tatbestand im einzelnen ausgeführt. Die
daraufhin erhobenen Rügen des Klägers lassen nicht auf eine grobe
Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl nach Maßgabe der oben angeführten Kriterien
schließen. Konkret hat sich der Kläger im zweiten Rechtszug auf die Arbeitnehmer
N, O, P und R bezogen, die aus seiner Sicht vor ihm zu kündigen gewesen wären.
Die Beklagte hat einerseits auf deren fehlende Vergleichbarkeit, deren
anderweitige Qualifikation und/oder deren Unverzichtbarkeit für das Unternehmen
hingewiesen. Dass diese Beurteilung grob fehlerhaft war und jegliche
Ausgewogenheit vermissen lässt, ist nicht zu erkennen. Insbesondere durfte die
Beklagte solche Arbeitnehmer vorziehen, die in einem Bereich bereits
eingearbeitet waren und musste dem Kläger keine wie lange auch immer
dauernde Einarbeitungszeit zubilligen. Der Kläger hat auch nicht darlegen können,
warum die Bewertung Einzelner als unverzichtbare Leistungsträger grob fehlerhaft
war jenseits jeder sachlichen Erwägung.
Die vom Kläger im ersten Rechtszug noch gerügte unterbliebene
Massenentlassungsanzeige gemäß den §§ 17 ff KSchG ist erledigt durch die im
Tatbestand zitierte Mitteilung der Bundesagentur für Arbeit vom 27. August 2009
(Bl. 127 d. A.) wonach es im vorliegenden Fall keiner Massenentlassungsanzeige
bedurfte.
Die dem Kläger gemäß § 113 InsO zukommende Sonderkündigungsfrist von drei
Monaten zum Monatsende ist gewahrt.
Der Kläger hat die Kosten seines erfolglosen Rechtsmittels zu tragen (§ 97 Abs. 1
ZPO).
Die Zulassung der Revision beruht auf § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG. Die Sache hat
insbesondere wegen der Anwendung der EuInsVO grundsätzliche Bedeutung.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.