Urteil des LAG Hessen vom 10.12.2007

LAG Frankfurt: sitz im ausland, betriebsabteilung, juristische person, betriebsstätte, betriebliche einrichtung, gemeinsame einrichtung, begriff, betriebsinhaber, baustelle, erstreckung

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Gericht:
Hessisches
Landesarbeitsgericht
16. Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
16 Sa 368/07
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 1 TVG, § 211 Abs 1 S 1
SGB 3, § 1 Abs 1 S 3 AEntG,
§ 1 Abs 3 S 3 AEntG, § 1 Abs
3 S 2 AEntG
(Tarifauslegung - Baugewerbe - Urlaubskassenverfahren -
Begriff der selbständigen Betriebsabteilung)
Leitsatz
1. Es bestehen keine rechtliche Bedenken dagegen, dass der Gesetzgeber in den ab
01. Januar 2004 geltenden Fassungen von § 1 Abs.1 AEntG den Begriff des Betriebes
und der selbständigen Betriebsabteilung durch Verweis auf die tarifliche Definition
dieser Begriffe in den für allgemeinverbindlich erklärten tariflichen Bestimmungen des
Baugewerbes über den fachlichen (betrieblichen) Geltungsbereich normiert hat.
2. Eine danach als selbständige Betriebsbabteilung geltende Gesamtheit von
Arbeitnehmern, die außerhalb der stationären Betriebsstätte eines nicht von den
Abschnitten I bis IV des § 1 Abs.2 VTV/Bau erfassten Betriebes bugewerbliche Arbeiten
durchführt, liegt vor, wenn mehrere baugewerbliche Arbeitnehmer in koordinierter Form
außerhalb der vom Betriebsinhaber zur Erreichung betrieblicher Zwecke unterhaltenen
ortsfesten Einrichtung oder Anlage überwiegend bauliche Arbeiten verrichten. Eine
Baustelle ist keine stationäre Betriebsstätte, wohl aber eine örtlich lokalisierbare
Verwaltungseinheit.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Wiesbaden vom 16.
Januar 2007 – 8 Ca 2026/05 – wird auf Kosten der Klägerin zurückgewiesen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Frage, ob die Klägerin verpflichtet ist, in der Zeit vom
01. Januar 2004 bis zum 31. Dezember 2005 am bautariflichen
Urlaubskassenverfahren teilzunehmen.
Der Beklagte ist eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien des
Baugewerbes. Er hat nach den für allgemeinverbindlich erklärten tarifvertraglichen
Regelungen des Baugewerbes (Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe
[BRTV/Bau]; Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe [VTV])
insbesondere die Aufgabe, die Auszahlung der tarifvertraglich vorgesehenen
Urlaubsvergütung zu sichern. Zu diesem Zweck haben die den Bautarifverträgen
unterfallenden Arbeitgeber monatliche Beiträge in Höhe eines bestimmten
Prozentsatzes der Bruttolohnsumme der beschäftigten gewerblichen
Arbeitnehmer an den Kläger zu zahlen.
Die Klägerin ist eine juristische Person polnischen Rechts mit Sitz in ...x (Polen).
Auf der Grundlage eines Werkvertrages mit einem österreichischen Unternehmen
mit Niederlassung in der Bundesrepublik Deutschland führte sie in den Jahren 2004
und 2005 mit ca 12 aus Polen nach Deutschland entsandte Arbeitnehmern
Arbeiten im Rahmen der Herstellung eines Autobahntunnels im Kreis Göttingen
(Heidkopftunnel) Tunnelbauarbeiten durch. In der gleichen Zeit bestand die
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(Heidkopftunnel) Tunnelbauarbeiten durch. In der gleichen Zeit bestand die
betriebliche Tätigkeit der Klägerin in Polen darin, mit ca 150 Arbeitnehmern unter
Tage Streckenvortriebsarbeiten in Steinkohlebergwerken vorzunehmen.
Nachdem die Klägerin den Beklagten mit Schreiben vom 23. September 2005
erfolglos aufgefordert hatte, sie von der Verpflichtung zur Zahlung von Beiträgen
zum bautariflichen Urlaubskassenverfahren freizustellen, begehrt die Klägerin mit
Ihrer Klage die Feststellung, dass sie für die Jahre 2004 und 2005 nicht zur
Teilnahme am Urlaubskassenverfahren verpflichtet sei.
Die Klägerin hat vorgetragen, sie erbringe nicht überwiegend bauliche Leistungen.
Bei ihrem Betrieb handele es sich vielmehr um einen solchen des Bergbaus. Im
Klagezeitraum habe sie in Polen mit ca 150 Arbeitnehmern unter Tage
Streckenvortriebsarbeiten in Steinkohlebergwerken vorgenommen. Diese von ihr
in Polen durchgeführten Arbeiten, die in den beiden Jahren arbeitszeitlich weit
überwogen hätten, seien unmittelbar der Rohstoffgewinnung zuzurechnen, so dass
sie keinen Baubetrieb unterhalten habe. In Deutschland habe auch keine
selbständige Betriebsabteilung existiert, weil die gesamte Tätigkeit, auch die in
Deutschland, von ihrem Hauptbetrieb in Polen gesteuert werde.. Ihre
vertretungsberechtigte Mitarbeiterin habe sich nur vorübergehend in Deutschland
aufgehalten..
Die Klägerin hat beantragt,
festzustellen, dass sie nicht verpflichtet ist, am Urlaubskassenverfahren des
Beklagten im Zeitraum vom 01. Januar 2004 bis 31. Dezember 2005
teilzunehmen..
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hat die Ansicht vertreten, die Beklagte sei zur Teilnahme am
Urlaubskassenverfahren verpflichtet. In Deutschland habe sie mit der
Durchführung von Arbeiten zur Herstellung eines Straßentunnels bauliche
Tätigkeiten ausgeführt. Nur auf diese Tätigkeiten komme es an. Zum einen habe
die Beklagte, wie die Gewerbeanmeldung belege, in Deutschland eine selbständige
Betriebsabteilung unterhalten, weil aufgrund der räumliche Entfernung zwischen
den Arbeiten in Polen und Deutschland von einer eigenständigen Leistungsstruktur
hinsichtlich der in Deutschland durchgeführten Arbeiten auszugehen sei. Zum
anderen handelt es sich bei den in Deutschland tätigen Arbeitnehmern ohnehin
um eine Gesamtheit von Arbeitnehmern, die außerhalb der stationären
Betriebsstätte eines nicht vom Geltungsbereich der Bautarifverträge erfassten
Betriebes baugewerbliche Arbeiten ausführten. Eine solche Gesamtheit von
Arbeitnehmern stehe kraft tariflicher und gesetzlicher Fiktion einer selbständigen
Betriebsabteilung gleich. Die bergbaulichen Tätigkeiten der Klägerin in Polen
würden bestritten.
Das Arbeitsgericht hat die Klage mit Urteil vom 16. Januar 2007 abgewiesen..
Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf Tatbestand und Entscheidungsgründe des
angefochtenen Urteils (Bl. 127 bis 135 d.A.) sowie den Berichtigungsbeschluss
vom 20. März 2007 (Bl. 136/136R d.A.) Bezug genommen.
Gegen dieses Urteil hat die Klägerin innerhalb der zur Niederschrift über die
Berufungsverhandlung am 10. Dezember 2007 festgestellten und dort
ersichtlichen Fristen Berufung eingelegt.
Sie verfolgt ihr Feststellungsbegehren in vollem Umfang weiter und meint, das
Arbeitsgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass der in § 211 Abs.1 SGB III
enthaltene Begriff der Betriebsabteilung durch die Neufassung von § 1 Abs.1
AEntG erweitert worden sei. Vielmehr müsse auch unter der Neufassung des
Gesetzes davon ausgegangen werden, dass ein Baubetrieb bzw. eine selbständige
bauliche Betriebsabteilung iSv § 211 Abs.1 SGB III vorhanden sein müsse. So sei
es bereits begrifflich ausgeschlossen, dass ein Betrieb, der kein Baubetrieb sei,
dies für eine einzelne Baustellen sein solle. Zudem würde es dem Zweck der
Tarifautonomie zuwiderlaufen, wenn auch branchefremde Unternehmen mit jeweils
einzelnen Montagestellen in den Anwendungsbereich der Bautarifverträge fallen
würden. Aus der Rechtsprechung des BAG sei, entgegen dem Arbeitsgericht,
nichts anderes zu entnehmen. Zudem sei die Abschöpfung des Naturgesteins bei
der Schaffung eines Autobahntunnels mit der Erstellung eines Streckenvortriebs
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der Schaffung eines Autobahntunnels mit der Erstellung eines Streckenvortriebs
bei der Abschöpfung von Steinkohle ohne weiteres zu vergleichen. Das schließe es
aus, ihre Tätigkeit in Deutschland den baulichen Tätigkeiten zuzuordnen. Letztlich
liege ein Verstoß gegen europarechtliche Vorschriften vor, weil ein ausländisches
branchenfremdes Unternehmen, das in Deutschland nur eine einzelne Bauleistung
verrichte, gegenüber einem inländischen vergleichbaren Unternehmen
benachteiligt werde. Letzteres sei aufgrund anderweitiger Tarifzugehörigkeit im
Inland nicht verpflichtet, für die branchenfremden Leistungen am
Urlaubskassenverfahren teilzunehmen.
Der Beklagte beantragt Zurückweisung der Berufung, verteidigt das angefochtene
Urteil und meint, wenn die Klägerin in Polen arbeitszeitlich überwiegend
Streckenvortriebsarbeiten und in Deutschland Tunnelbauarbeiten durchführe,
handele es sich um einen nachgerade klassischen Fall, in dem die Tätigkeiten in
Deutschland nach den ab 01. Januar 2004 geltenden gesetzlichen und tariflichen
Regelungen dazu führten, dass Beitragspflicht für die in Deutschland tätigen
Arbeitnehmer zum Urlaubskassenverfahren bestehe. Hinsichtlich des weiteren
Vorbringens der Parteien im Berufungsrechtszug wird auf den vorgetragenen Inhalt
der vorbereitenden Schriftsätze sowie auf die Niederschrift über die
Berufungsverhandlung am 10. Dezember 2007 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die gem. §§ 8 Abs. 2 ArbGG, 511 ZPO an sich statthafte Berufung begegnet
hinsichtlich des Wertes des Beschwerdegegenstandes (§ 64 Abs. 2 b ArbGG)
keinerlei Bedenken. Sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt, sowie rechtzeitig
und ordnungsgemäß begründet worden (§§ 66 Abs. 1 ArbGG, 519, 520 ZPO) und
damit insgesamt zulässig.
In der Sache hat die Berufung keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht hat die Klage zu
Recht abgewiesen..
Die Feststellungsklage ist zulässig. Die Klägerin hat nämlich ein Interesse an
alsbaldiger Feststellung, ob sie für die Zeit ab dem 01. Januar 2004 bis 31.
Dezember 2005 zur Teilnahme am Urlaubskassenverfahren verpflichtet ist, weil
sich der Beklagte derartiger Ansprüche gegenüber der Klägerin für die gesamte
Zeit ihrer Tätigkeit in Deutschland berühmt. Denn insoweit handelt es sich um
einen Streit zwischen den Parteien, ob ein entsprechendes Rechtsverhältnis
zwischen ihnen besteht (vgl. BAG 10. April 2000 und 24. März 2003 AP Nr. 12 und
18 zu § 1 AEntG)
Die Klage ist jedoch nicht begründet.
Die Klägerin schuldet dem Beklagten die Erteilung von Auskünften und die Zahlung
von Beiträgen und ist damit zur Teilnahme am bautariflichen
Urlaubskassenverfahren verpflichtet.
Rechtsgrundlage für die Teilnahmepflicht der Klägerin im Klagezeitraum ist § 1 Abs.
3 Satz 2 AEntG vom 26. Februar 1996 idF 23. Dezember 2003 (BGBl I 2003, 2848)
bzw, ab 01. August 2004 vom 23. Juli 2004 (BGBl. I 2004 S. 1842).
Nach § 1 Abs. 3 Satz 2 AEntG ist ein Arbeitgeber mit Sitz im Ausland verpflichtet,
einer gemeinsamen Einrichtung der Tarifvertragsparteien des Baugewerbes wie
dem Beklagten, dem nach für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen die
Einziehung von Urlaubskassenbeiträgen übertragen ist, diese Beiträge zu leisten.
Diese gesetzliche Erstreckung von tarifvertraglichen Normen, die aufgrund AVE für
inländische Arbeitgeber und Arbeitnehmer gelten, auf Arbeitgeber mit Sitz im
Ausland und ihre im räumlichen Geltungsbereich des Tarifvertrages beschäftigten
Arbeitnehmer erfasst „Arbeitgeber mit Sitz im Ausland, wenn deren Betrieb oder
die selbständige Betriebsabteilung im Sinne des fachlichen Geltungsbereichs des
Tarifvertrages überwiegend Bauleistungen gemäß § 211 Abs.1 SGB III erbringt und
auch inländische Arbeitgeber ihren im räumlichen Geltungsbereich des
Tarifvertrages beschäftigten Arbeitnehmern mindestens die am Arbeitsort
geltenden tariflichen Arbeitsbedingungen gewähren müssen“.
Danach erstreckten sich die bautariflichen Normen im Klagezeitraum auf die
Klägerin.
Dabei kann ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass die Klägerin im
Klagezeitraum in Polen und, bezogen auf ihre gesamte betriebliche Tätigkeit in
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Klagezeitraum in Polen und, bezogen auf ihre gesamte betriebliche Tätigkeit in
Polen und Deutschland, arbeitszeitlich überwiegend, in Bergwerken Tätigkeiten
ausführte, die zur Gewinnung von Bodenschätzen bestimmt waren. Zwar handelt
es sich bei derartigen Tätigkeiten nicht um baugewerbliche im bautariflichen Sinne,
weil Arbeiten, die mit dem Lösen und Fördern von Bodenschätzen
zusammenhängen, indem sie die Gewinnung der Bodenschätze vorbereiten,
begleiten und der Gewinnung nachfolgen, der Urproduktion zuzurechnen sind, und
es daher an gewerblicher und mithin auch an baugewerblicher Tätigkeit fehlt (vgl.
vgl. BAG 03. August 2005 EzA $ 4 TVG Bauindustrie Nr. 121; BAG 26. September
2007 – 10 AZR 301/06; Kammerurteile v. 23. August 2004 – 16/10 Sa 510/03 und
12. März 2007 – 16 Sa 1478/06). Das ändert jedoch nichts an der Verpflichtung der
Klägerin zur Teilnahme am Urlaubskassenverfahren im Klagezeitraum hinsichtlich
ihrer in Deutschland beschäftigten gewerblichen Arbeitnehmer.
Die Klägerin unterhielt im Klagezeitraum in Deutschland nämlich eine selbständige
Betriebsabteilung iSd tariflichen Bestimmungen des BRTV/Bau und VTV, von der
bauliche Tätigkeiten durchgeführt wurden. Das begründet ihre Teilnahmepflicht am
Urlaubskassenverfahren. Denn nach § 1 Abs.2 Abschn.VI Unterabs.1 S.2 VTV und
BRTV/Bau ist Betrieb im Sinne dieses Tarifvertrages auch eine selbständige
Betriebsabteilung. Nach S.3 dieses Unterabsatzes gilt als selbständige
Betriebsabteilung auch eine Gesamtheit von Arbeitnehmern, die außerhalb der
stationären Betriebsstätte eines nicht von den Abschnitten I bis IV erfassten
Betriebes baugewerbliche Arbeiten ausführt. Die letztgenannten gesetzlichen
Merkmale werden durch die Beschäftigung von Arbeitnehmern durch die Klägerin
in Deutschland im Klagezeitraum erfüllt.
Im einzelnen gilt:
Entgegen der Ansicht der Klägerin ist durch die Neufassung von § 1 Abs.1 AEntG
ab 01. Januar 2004 der in dieser Norm verwendete Begriff des Betriebes erweitert
worden.
Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 AEntG in den bis 31. Dezember 2003 maßgeblichen
Fassungen (AEntG aF) fanden ua. die Rechtsnormen eines für allgemeinverbindlich
erklärten Tarifvertrages des Bauhauptgewerbes oder des Baunebengewerbes iSd.
Baubetriebe-Verordnung vom 28. Oktober 1980 (BGBl. I S. 2033), die die Dauer
des Erholungsurlaubs, das Urlaubsentgelt oder ein zusätzliches Urlaubsgeld zum
Gegenstand haben, auch auf ein Arbeitsverhältnis zwischen einem Arbeitgeber mit
Sitz im Ausland und seinem im räumlichen Geltungsbereich des Tarifvertrages
beschäftigten Arbeitnehmer zwingend Anwendung, wenn der Betrieb überwiegend
Bauleistungen iSd. § 211 Abs. 1 SGB III erbringt und auch inländische Arbeitgeber
ihren im räumlichen Geltungsbereich des Tarifvertrages beschäftigten
Arbeitnehmern mindestens die am Arbeitsort geltenden tarifvertraglichen
Arbeitsbedingungen gewähren müssen. Voraussetzung für die Erstreckung war
damit, dass entweder ein Betrieb des Baugewerbes vorlag, also ein Betrieb, der
gewerblich überwiegend Bauleistungen auf dem Baumarkt erbrachte (§ 211 Abs. 1
Satz 1 SGB III), oder dass eine Betriebsabteilung baugewerbliche Arbeiten in
diesem Umfang ausführte (st. Rspr., vgl. BAG 25. Januar 2005 AP Nr.21 und 22 zu
§ 1 AEntG; BAG 25. Juni 2002 AP Nr.12 zu § 1 AEntG; BAG 26. September 2005
NZA 2006,379; Kammerurteil v. 29. November 2004 – 16 Sa 427/04 – EzAÜG § 1
AEntG Nr.26). § 1 Abs. 1 Satz 1 AEntG aF nahm nämlich den gesamten Absatz 1
des § 211 SGB III in Bezug. § 211 Abs. 1 Satz 4 SGB III bestimmt, dass Betrieb im
Sinne der Vorschriften über die Förderung der ganzjährigen Beschäftigung in der
Bauwirtschaft auch eine Betriebsabteilung ist.
Seit der Neufassung von 1 Abs.1 AEntG gilt anderes.
Das Gesetz stellt nunmehr für die Erstreckung von Tarifverträgen nicht mehr
darauf ab, ob der Betrieb Bauleistungen nach § 211 Abs.1 SGB III durchführt.
Vielmehr kommt es allein darauf an, ob ein Betrieb oder eine selbständige
Betriebsabteilung im Sinne des fachlichen Geltungsbereiches der erstreckten
Tarifverträge überwiegend Bauleistungen erbringt. Damit hebt der Gesetzgeber,
wie bereits der Wortlauf der Norm erweist, nunmehr allein auf die von den
Tarifvertragsparteien autonom zu vereinbarende Bezugsgröße - Betrieb oder
selbständige Betriebsabteilung – ab (vgl. BAG 25. Januar 2005 AP Nr.22 zu § 1
AEntG). Die historisch genetische Auslegung bestätigt diesen Befund. Denn die
amtliche Begründung zur Neufassung des § 1 AEntG ab 01. Januar 2004 stellt
ausdrücklich klar, dass „die für die Anwendung der Tarifverträge maßgebliche
Definition des Betriebes künftig ohne gesetzliche Vorgaben ausschließlich in den
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Definition des Betriebes künftig ohne gesetzliche Vorgaben ausschließlich in den
nach dem AEntG maßgeblichen Tarifverträgen selbst“ erfolgt (BT-Drucks. 15/1515
S. 131).
Das bedeutet nichts anderes, als dass die gesetzlichen Voraussetzungen der
Erstreckung vorliegen, soweit unter Berücksichtigung von § 1 Abs. 2 Abschn. VI
Unterabschn. 1 Satz 2 oder 3 BRTV und VTV - beide Tarifverträge sind für
allgemeinverbindlich erklärt – eine dem Betrieb gleichstehende selbständige
Betriebsabteilung überwiegend bauliche Tätigkeiten ausführt..
Dass § 1 Abs.2 VTV von „betrieblichem“ und nicht von „fachlichem“
Geltungsbereich spricht, steht dem nicht entgegen. Beide Begriffe haben einen
identischen Bedeutungsinhalt. Durch den „betrieblichen“ Geltungsbereich eines
Tarifvertrages wird, nicht anders als durch den „fachlichen“ Geltungsbereich,
bestimmt, für welche Arbeitgeber die tariflichen Regelungen gelten sollen (vgl.
Löwisch/Rieble TVG 2. Aufl. 2004 § 4 Rz 76; Wiedemann/Wank TVG 7. Aufl. 2007 § 4
Rz 97,98).
Rechtliche Bedenken gegen die seit 01. Januar 2004 geltende Fassung des § 1
AEntG bestehen nicht.
Dass der Gesetzgeber den Arbeitgeber mit Sitz im Ausland, für den die tarifliche
Erstreckung gelten soll, nunmehr nicht mehr vollständig selbst sondern durch
Verweis auf tarifliche Bestimmungen bestimmt, ist rechtlich nicht zu beanstanden.
Der Verweis ist hinreichend klar, die in Bezug genommenen Vorschriften sind
eindeutig festzustellen. Dadurch, dass die erstreckten Normen nur gelten, soweit
die tarifvertraglichen Regelungen für allgemeinverbindlich erklärt worden sind, ist
zudem eine ausreichende demokratische Legitimation auch bezüglich des Inhalts
der maßgeblichen tariflichen Geltungsbereichsbestimmungen gegeben (vgl. zur
demokratischen Legitimation der AVE BVerfG 24. Mai 1977 AP Nr.15 zu § 5 TVG).
Entgegen der Ansicht der Klägerin werden Arbeitgeber mit Sitz im Ausland und
solche mit Sitz im Inland durch die nunmehr geltende Fassung des § 1 AEntG auch
nicht ungleich behandelt, so dass auch insoweit weder europarechtliche noch
nationale verfassungsrechtliche Bedenken bestehen..
Die in den bautariflichen Bestimmungen enthaltenen, auf Arbeitgeber mit Sitz im
Ausland erstreckten Rechtsnormen gelten auch für Arbeitgeber mit Sitz im Inland
kraft Gesetzes (§ 1 Abs.1 S.3, § 1 Abs.3 S.3 AEntG) und damit in gleicher Weise.
Entsprechend ist es Arbeitgebern mit Sitz im Inland, bei denen die Merkmale einer
selbständigen baulichen Betriebsabteilung nach § 1 Abs.2 Abschn. VI S.2 und/oder
S. 3 VTV erfüllt sind, nicht möglich, durch Mitgliedschaft in einem Verband, der
einen auch eine selbständige bauliche Betriebsabteilung iSv § 1 Abs.2 Abschn. VI
Unterabs. 1 S.2 oder 3 VTV erfassenden Tarifvertrag abgeschlossen hat - oder
durch Abschluss eines solchen Firmentarifvertrages -, den durch § 1 AEntG
gesetzlich geltenden bautariflichen Verpflichtungen zu entgehen (vgl. BAG 20. Juli
2004 AP Nr. 18 zu § 1 AEntG; BAG 15. November 2006 AP Nr.34 zu § 4 TVG
Tarifkonkurrenz; Kammerurteil v. 14. Juli 2003- 16 Sa 530/02 - DB 2004,1786).
Solche Tarifverträge können die durch das AEntG gesetzlich erstreckten
bautariflichen Normen nämlich nicht verdrängen.
Die von der Klägerin im Klagezeitraum in Deutschland mit Tunnelbauarbeiten
beschäftigten Arbeitnehmern erfüllen die Merkmale des § 1 Abs.2 Abschn. VI
Unterabs.1 S.3 VTV.
Es handelte sich um eine Gesamtheit von Arbeitnehmern, die baugewerbliche
Arbeiten ausführte.
Diese Voraussetzung ist gegeben, wenn mehrere baugewerblich tätige
Arbeitnehmer in koordinierter Form baugewerbliche Arbeiten durchführen (vgl.
BAG 25. Januar 2005 AP Nr.21 zu § 1 AEntG; Kammerurteil v. 26. März 2007 – 16
Sa 1602/07). Das folgt bereits aus dem Wortlaut der tariflichen Norm. Denn eine
„Gesamtheit“ ist nach allgemeinem Sprachgebrauch, den die
Tarifvertragsparteien mangels eigener Begriffsbestimmung zugrunde legen, eine
Einheit (vgl. Brockhaus/Wahrig, Deutsches Wörterbuch Band 3 1981 S.168). Eine
Einheit von Arbeitnehmern, die baugewerbliche Arbeiten durchführt, ist mithin
nichts anderes als eine Zusammenfassung von abhängig Beschäftigten zur
Herbeiführung inhaltlich zusammengehörender, nämlich baugewerblicher,
arbeitstechnischer Zwecke.
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So war es im Klagezeitraum bezüglich der von der Beklagten in Deutschland
eingesetzten entsandten Arbeitnehmer. Diese führten arbeitszeitlich
ausschließlich in einer durch die Beklagte aufeinander abgestimmter Weise
(koordiniert) im Rahmen eines bestimmten Projektes, nämlich der Erstellung eines
Autobahntunnels, Tunnelbauarbeiten durch. Tunnelbauarbeiten sind bauliche
Tätigkeiten. Das haben die Tarifvertragsparteien in § 1 Abs.2 Abschn. V Nr.26 VTV
ausdrücklich bestimmt. Zu den Tunnelbauarbeiten gehören dabei, wie der Wortlaut
der Norm zeigt, alle Arbeiten, die dazu bestimmt sind einen Tunnel herzustellen.
Dass die insoweit anfallenden Einzelarbeiten denen gleichen, die im Rahmen von
bergbaulichen Tätigkeiten (z.B. Streckenvortriebsarbeiten) anfallen, spielt keine
Rolle. Dadurch wird die Tätigkeit der Klägerin in Deutschland nicht eine solche der
Urproduktion. Denn der Zweck der in Deutschland von der Klägerin durchgeführten
Arbeiten besteht nicht darin, die Gewinnung von Bodenschätzen vorzubereiten, sie
begleiten oder ihr nachzufolgen. Vielmehr dienen die Arbeiten der Erstellung eines
Verkehrsweges, nämlich eines Autobahntunnels.
Ob zur Erfüllung der Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Abschnitt VI Abs. 1 Satz 3
VTV die Durchführung baugewerblicher Arbeitnehmer durch eine Gesamtheit von
Arbeitnehmern für einen bestimmten Zeitraum erforderlich ist oder ob eine, von
der Zeitdauer unabhängige projektbezogene Betrachtungsweise ausreicht, ist
fraglich. Dafür, dass die zeitliche Dauer der Arbeiten nicht völlig belanglos sein
kann spricht, dass die tariflichen Regelungen über den Urlaub bestimmen, dass
der Arbeitnehmer (erst) nach jeweils 12 Beschäftigungstagen (= Kalendertagen, §
8.2.3 BRTV/Bau) Anspruch auf einen Tag Urlaub hat (§ 8.2.,2 BRTV/Bau) und daher
kürzere Beschäftigungszeiten keine urlaubsrechtlichen Ansprüche für den
Arbeitnehmer begründen können. Zudem errechnet sich der
Urlaubskassenbeitrag aus der Bruttolohnsumme eines Monats (§§ 21,22 VTV).
Das könnte dafür sprechen, dass bauliche Tätigkeiten einer Gesamtheit von
Arbeitnehmern, deren Gesamtzeitdauer einen Monat unterschreitet, außer
Betracht bleiben. Letztlich kann das hier jedoch offen bleiben. Denn die Tätigkeiten
der Klägerin in Deutschland erstreckten sich unstreitig auf den Zeitraum von
nahezu zwei Kalenderjahren. Dieser Zeitraum reicht allemal aus, weil sogar bei
echten Mischbetrieben, also solchen, von denen sowohl bauliche wie nichtbauliche
Leistungen durchgeführt werden, die arbeitszeitlich überwiegende Durchführung
baulicher Leistungen innerhalb eines Kalenderjahres ausreicht, um diese als
Baubetrieb im tariflichen Sinne anzusehen (st. Rspr. vgl. BAG 22. April 1987 AP
Nr.82 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau).
Die baugewerblichen Arbeiten wurden von den Arbeitnehmern der Klägerin im
Klagezeitraum auch außerhalb der stationären Betriebsstätte eines nicht von den
Abschnitten I bis IV erfassten Betriebes ausführt.
Nach dem Vortrag der Klägerin handelt es sich bei ihrem Betrieb im Klagezeitraum
um einen solchen des Bergbaus, weil arbeitszeitlich überwiegend vom
Gesamtbetrieb Arbeiten in Bergwerken durchgeführt werden, die der Gewinnung
von Bodenschätzen dienen. Damit wird ihr Betrieb von § 1 Abs.1 Abschn I bis IV
VTV nicht erfasst, weil es, wie bereits ausgeführt, an einer baugewerblichen
Tätigkeit fehlt. .
Die baugewerblichen Arbeiten der Klägerin in Deutschland erfolgten im
Klagezeitraum auch außerhalb der stationären Betriebsstätte der Klägerin. Denn
sie wurden außerhalb der ortsfesten Einrichtung, die der Tätigkeit der Klägerin
dient, durchgeführt.
Den Begriff der „stationären Betriebsstätte“ haben die Tarifvertragsparteien nicht
näher definiert. Damit ist davon auszugehen, dass sie diesen Begriff im
allgemeinen bzw. im spezifischen Sinne der Fachsprache des Arbeits- und
Wirtschaftslebens verstanden wissen wollen.
„Stationär“ bedeutet nach allgemeinem Sprachgebrauch „ortsfest“ (vgl. Wahrig,
Deutsches Wörterbuch Jubiläumsausgabe 1990 S. 1220). Betriebsstätte ist die
Lokalität, an der oder von der aus arbeitstechnische Zwecke, also betriebliche
Tätigkeiten verfolgt werden (vgl. §§ 19 Abs.1 Nr.1, 106 Abs.3 SGB VII). Denn
„Stätte“ ist nach allgemeinem Sprachgebrauch eine Stelle, ein Platz (vgl. Wahrig
aaO S. 1220). Betrieb ist die organisatorische Zusammenfassung sächlicher und
personeller Mittel zur Verfolgung bestimmter arbeitstechnischer Zwecke durch
eine natürliche oder juristische Person, den Betriebsinhaber (vgl BAG 28.
September 2005 NZA 2006,379). Mit „stationärer Betriebsstätte“ meinen die
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September 2005 NZA 2006,379). Mit „stationärer Betriebsstätte“ meinen die
Tarifvertragsparteien daher eine vom Betriebsinhaber genutzte ortsfeste
Einrichtung oder Anlage, die der Durchführung betrieblicher Zwecke zu dienen
bestimmt ist.
Eine stationäre Betriebsstätte der Klägerin existierte im Klagezeitraum hinsichtlich
der in Deutschland tätigen Arbeitnehmer nicht. Die in Deutschland im
Klagezeitraum zur Durchführung baulicher Tätigkeiten eingesetzten Arbeitnehmer
arbeiteten auf der Baustelle am Autobahntunnel. Damit ist dieser Ort zwar die
räumlich abgegrenzte Stelle, an der im Klagezeitraum betriebliche Tätigkeiten von
der Klägerin durchgeführt wurden, jedoch keine stationäre Betriebsstätte. Denn es
fehlte an der erforderlichen, vom Betriebsinhaber genutzten ortsfesten
betrieblichen Einrichtung. Eine Baustelle erfüllt diese Voraussetzung
typischerweise nicht. Ein Baustelle ist nach allgemeinem Sprachgebrauch der Ort,
an dem bauliche Tätigkeiten durchgeführt, nicht aber eine vom Arbeitgeber der auf
der Baustelle eingesetzten Arbeitnehmer genutzte ortsfeste betriebliche
Einrichtung.
Sind danach die von der Klägerin durch ihre entsandten Arbeitnehmer in
Deutschland durchgeführten Arbeiten nicht einer stationären Betriebsstätte der
Klägerin zuzuordnen, so handelte es sich zwar nicht allein deshalb
notwendigerweise um Tätigkeiten außerhalb der stationären Betriebsstätte der
Klägerin. Bereits begrifflich können „außerhalb der stationären Betriebsstätte“
Arbeiten nämlich nur dann durchgeführt werden, wenn eine solche stationäre
Betriebsstätte existiert. Eine solche war bei der Klägerin im Klagezeitraum
vorhanden. Nach dem eigenen Vorbringen der Klägerin wurde ihre gesamte
Tätigkeit nämlich „von ihrem Hauptbetrieb in Polen aus gesteuert“. Das kann,
auch wenn man unterstellt, dass die in Polen eingesetzten Arbeitnehmer
ausschließlich in Bergwerken anderer Unternehmen arbeiteten, nur so verstanden
werden, dass zumindest eine örtlich lokalisierbare Verwaltungseinrichtung
vorhanden war. Eine solche Verwaltungseinheit erfüllt die Merkmale einer
stationären Betriebsstätte, weil auch die erforderlichen Verwaltungarbeiten der
Erfüllung der vom Betriebsinhaber gesetzten arbeitstechnischen Zwecke dienen
Damit ist die Klägerin für den Klagezeitraum verpflichtet, am
Urlaubskassenverfahren des Baugewerbes teilzunehmen, so dass die
Feststellungsklage unbegründet ist.
Die Klägerin hat die Kosten ihres erfolglosen Rechtsmittels zu tragen (§ 97 Abs.1
ZPO).
Eine gesetzlich begründete Veranlassung zur Zulassung der Revision war nicht
ersichtlich.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.