Urteil des LAG Hessen vom 19.08.2010

LAG Frankfurt: unwirksamkeit der kündigung, betriebsrat, anhörung, beweis des gegenteils, allgemeine lebenserfahrung, ergänzung, arbeitsgericht, feststellungsklage, datum, sozialplan

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Gericht:
Hessisches
Landesarbeitsgericht
9. Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
9 Sa 1820/09
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 1 Abs 5 KSchG, § 17
KSchG, § 102 BetrVG
Betriebsbedingte Kündigung - Massenentlassungsanzeige -
Betriebsratsanhörung
Orientierungssatz
1. Eine fehlerhafte Massenentlassungsanzeige führt zur Unwirksamkeit der Kündigung.
2. Eine Erklärung des Betriebsrats in einem Interessenausgleich, das
Anhörungsverfahren gemäß § 102 BetrVG sei damit abgeschlossen, stellt regelmäßig
keine Vorratserklärung für Wiederholungskündigungen (hier: wegen fehlerhafter
Massenentlassungsanzeige) dar.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Gießen vom 03.
September 2009 - 1 Ca 219/09 - abgeändert.
Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis weder durch die Kündigung der
Beklagten vom 27. März 2009 noch durch die Kündigung der Beklagten vom 31.
März 2009 aufgelöst worden ist. Im Übrigen werden die Feststellungsanträge
zurückgewiesen.
Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger zu den bisherigen Vertragsbedingungen als
Fotosetzer bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsrechtsstreits weiter
zu beschäftigen.
Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Beklagte zu 4/5, der Kläger zu 1/5.
Die Revision wird für die Beklagte zugelassen, für den Kläger nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beklagte betreibt am Standort A eine Druckerei mit 44 Arbeitnehmern. Die
Beklagte wendet in ihrem Betrieb den Manteltarifvertrag für die gewerblichen
Arbeitnehmer der Druckindustrie im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland an.
Wegen der persönlichen Daten des Klägers wird auf den Tatbestand der
angefochtenen Entscheidung verwiesen.
Unter dem Datum des 24. März 2009 schlossen die Beklagte und der in ihrem
Betrieb gebildete Betriebsrat einen Interessenausgleich sowie einen Sozialplan ab.
Der Interessenausgleich sieht im § 1 eine Reduzierung des Personalbestands um
11 Mitarbeiter auf 33 Arbeitnehmer vor. Dies soll durch den Abbau der
Abteilungsleiterebene um zwei technische Angestellte sowie durch den Abbau des
Personalbestands um weitere neun Mitarbeiter erreicht werden. § 2 regelt, dass
den betroffenen Mitarbeitern betriebsbedingte Beendigungskündigungen unter
Beachtung der jeweils geltenden Kündigungsfristen ausgesprochen werden sollen
und dass die Sozialauswahl zwischen den vergleichbaren Mitarbeitern
abteilungsbezogen nach Berufsgruppen erfolgt. Die Sozialauswahl soll im Übrigen
nach einem Punktesystem erfolgen. In § 3 des Interessenausgleichs heißt es, dass
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nach einem Punktesystem erfolgen. In § 3 des Interessenausgleichs heißt es, dass
der Betriebsrat im Rahmen der Interessenausgleichsverhandlungen auch gemäß §
17 Abs. 2 KSchG rechtzeitig schriftlich unterrichtet wurde und dieser
Interessenausgleich zugleich als Stellungnahme des Betriebsrats nach § 17 Abs. 3
S. 2 KSchG gilt. Dem Interessenausgleich angefügt ist als Anlage 1 eine Liste, in
der die 11 betroffenen Arbeitnehmer namentlich benannt sind. Die Anlage 2 zum
Interessenausgleich enthält die Namen sämtlicher 44 Arbeitnehmer. Im zeitgleich
abgeschlossenen Sozialplan ist die Zahlung von Abfindungen geregelt.
Mit Schreiben vom 27. März 2009 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit
dem Kläger ordentlich fristgemäß mit Wirkung zum 31. Oktober 2009. Mit
Schreiben vom 31. März 2009 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem
Kläger erneut ordentlich fristgemäß mit Wirkung zum 31. Oktober 2009. Beide
Kündigungsschreiben enthalten einen übereinstimmenden Text. Mit Schreiben
vom 1. April 2009 bestätigte die Agentur für Arbeit B der Beklagten, dass ihre
Massenentlassungsanzeige gemäß § 17 KSchG am 27. März 2009 unvollständig
und somit unwirksam eingegangen sei. Die fehlende Anlage zur Anzeige von
Entlassungen sei am 31. März 2009 telefonisch nach Rücksprache ergänzt worden,
sodass ab diesem Tag eine vollständige Anzeige vorliege.
Mit seiner am 16. April 2009 bei Gericht eingegangenen Klage hat sich der Kläger
gegen die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses gewandt. Er ist der Auffassung
gewesen, die Beklagte habe nicht ausreichend dargelegt, dass dem
Interessenausgleich eine Betriebsänderung im Sinne des § 111 BetrVG zugrunde
liege. Er ist des Weiteren der Ansicht gewesen, für die Kündigung läge kein
ausreichender betriebsbedingter Kündigungsgrund im Sinne des § 1 Abs. 2 KSchG
vor. Dies ergebe sich aus dem Umstand, dass die Auftragslage bei der Beklagten
ohnehin ständig schwanke, so dass es immer Phasen gebe, in denen es weniger
zu tun gebe und dann auch wieder Auftragsspitzen. Diese schwankende
Auftragslage bestehe seit längerer Zeit unverändert. Eine Reduzierung der
Belegschaft um rund ¼ sei bei gleichbleibender Auftragslage nicht möglich. Dies
gelte insbesondere für den Bereich des Satzes, in dem aufgrund der
vorgenommenen Kündigungen pro Woche ca. 160 Arbeitsstunden entfielen.
Insbesondere vor dem Hintergrund, dass in der Vergangenheit sogar hin und
wieder Überstunden angeordnet worden seien, sei eine so drastische Reduzierung
nicht umsetzbar. Der Kläger hat schließlich die getroffene Sozialauswahl für grob
fehlerhaft gehalten. Die grobe Fehlerhaftigkeit ergebe sich zum einen aus dem
Umstand, dass die Sozialauswahl ausdrücklich abteilungsbezogen durchgeführt
worden sei, zum anderen stelle sich das angewandte Punktesystem als
unausgewogen dar. Die Unterhaltspflichten würden deutlich zu hoch bewertet. Im
Übrigen sei die Kündigung vom 31. März 2009 unwirksam, weil der Betriebsrat vor
Ausspruch dieser Kündigung nicht angehört worden sei. Da der Betriebsrat gemäß
§ 102 Abs. 1 S. 1 BetrVG vor jeder Kündigung anzuhören sei, hätte die Beklagte
diesen vor Ausspruch der Kündigung vom 31. März 2009 erneut anhören müssen.
Schließlich seien die Kündigungen wegen unterbliebener bzw. fehlerhafter
Massenentlassungsanzeige nach § 17 KSchG unwirksam. Aus dem Schreiben der
Agentur für Arbeit B vom 1. April 2009 ergebe sich, dass bei Ausspruch der
Kündigung vom 27. März 2009 nur eine unvollständige und damit unwirksame
Massenentlassungsanzeige vorgelegen habe, aber auch, dass bei Ausspruch der
Kündigung vom 31. März 2009 noch immer keine ordnungsgemäße
Massenentlassungsanzeige vorgelegen habe. Dies ergebe sich aus dem Umstand,
dass in dem Schreiben erklärt werde, dass die fehlende Anlage telefonisch nach
Rücksprache ergänzt worden sei. Das Schreiben der Agentur für Arbeit
dokumentiere damit einen Formfehler, da die Massenentlassungsanzeige gemäß §
17 Abs. 3 Satz 2 KSchG schriftlich zu erfolgen habe. Der Kläger ist schließlich noch
der Auffassung gewesen, die Kündigung vom 31. März 2009 sei auch deshalb
unwirksam, weil sie vor Ablauf der in § 18 KSchG geregelten Entlassungssperre
ausgesprochen worden sei.
Der Kläger hat beantragt,
1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die
Kündigung der Beklagten vom 27. März 2009 nicht aufgelöst worden ist und über
den 31. Oktober 2009 hinaus fortbesteht;
2. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die
Kündigung der Beklagten vom 31. März 2009 nicht aufgelöst worden ist und über
den 31. Oktober 2009 hinaus fortbesteht;
3. für den Fall, dass das Gericht den Klageanträgen zu 1 und zu 2 stattgibt, die
Beklagte zu verurteilen, den Kläger zu den bisherigen Vertragsbedingungen bis
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Beklagte zu verurteilen, den Kläger zu den bisherigen Vertragsbedingungen bis
zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreits als Arbeitnehmer weiter zu
beschäftigen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hat behauptet, aufgrund anhaltend schlechter wirtschaftlicher
Situation, die sich in operativen Verlusten in den Jahren 2007 und 2008
dokumentiere, habe sie sich zu einem erheblichen Personalabbau gezwungen
gesehen. Sie habe seit dem Jahre 2005 eine Reihe von Aufträgen verloren.
Wegen des weiteren erstinstanzlichen Vorbringens der Parteien, des vom
Arbeitsgericht festgestellten Sachverhalts und des arbeitsgerichtlichen Verfahrens
wird auf den Tatbestand der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen.
Das Arbeitsgericht Gießen hat die Klage durch Urteil vom 3. Sept. 2009
abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Kündigung vom 31. März
2009 sei wirksam. Der Kläger habe hinsichtlich der gesetzlichen Vermutung der
Betriebsbedingtheit der Kündigung gemäß § 1 Abs. 5 KSchG den Beweis des
Gegenteils nicht geführt, wobei dem Interessenausgleich eine Betriebsänderung
zugrunde liege. Die Sozialauswahl sei nicht grob fehlerhaft.
Die Kündigung vom 31. März 2009 sei auch nicht deshalb rechtsunwirksam, weil
keine ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige nach § 17 KSchG vorgelegen
habe. Die Massenentlassungsanzeige sei ordnungsgemäß erfolgt. Aus dem
Schreiben der Agentur für Arbeit vom 1. April 2009 ergebe sich zwar, dass die
Anzeige aus Sicht der Agentur für Arbeit unvollständig eingegangen sei. Die
Agentur für Arbeit bestätige aber ausdrücklich, dass eine noch fehlende Anlage
am 31. März 2009 ergänzt worden sei. Die Tatsache, dass diese Ergänzung
telefonisch erfolgt sei, sei unschädlich. Wenn die Agentur für Arbeit die mündliche
Ergänzung einer grundsätzlich schriftlich vorliegenden Massenentlassungsanzeige
akzeptiere, so müsse sich der betroffene Arbeitgeber darauf verlassen können.
Die Kündigung vom 31. März 2009 sei schließlich nicht wegen fehlender oder
fehlerhafter Anhörung des Betriebsrats gemäß § 102 Abs. 1 S. 3 BetrVG
unwirksam, weil der Betriebsrat zwischen dem 27. und dem 31. März 2009 nicht
noch einmal zu der Kündigung angehört worden sei. Die Beklagte habe dem Kläger
innerhalb weniger Tage zwei vom Text her identische Kündigungsschreiben
zukommen lassen. Die Kündigung vom 27. März 2009 sei mit der unter dem
Datum des 31. März 2009 ausgesprochenen Kündigung lediglich bestätigt bzw.
wiederholt worden. Die Beklagte habe mit dieser wiederholenden Kündigung
lediglich auf den Umstand reagiert, dass ihr seitens der Agentur für Arbeit
mitgeteilt worden sei, dass die Massenentlassungsanzeige nicht vollständig
gewesen sei. Die Beklagte habe keinen echten neuen Kündigungsentschluss
gefasst, sondern vielmehr nur die zuvor mit dem Betriebsrat ausführlich erörterte
Kündigungsabsicht umgesetzt. Aus § 3 des Interessenausgleichs ergebe sich, dass
beide Betriebsparteien davon ausgegangen seien, dass die Kündigung letztlich
erst nach Erstattung einer vollständigen Massenentlassungsanzeige
ausgesprochen werden solle. Der einzige Grund, weshalb die Beklagte hier
innerhalb weniger Tage eine zweite Kündigung ausgesprochen habe, sei in dem
Umstand zu sehen, dass die Beklagte irrtümlich davon ausgegangen sei, bereits
am 27. März 2009 eine ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige erstattet zu
haben. Damit habe die Beklagte mit der wiederholenden Kündigung vom 31. März
2009 aber lediglich das mit dem Betriebsrat ausführlich Erörterte und im Rahmen
des Interessenausgleichs Geregelte nachvollzogen. Hier vor Ausspruch der
weiteren Kündigung eine erneute Anhörung des Betriebsrats zu fordern, käme
einer puren Förmelei gleich.
Die Kündigung vom 27. März 2009 dürfte wegen nicht ordnungsgemäßer
Massenentlassungsanzeige nach § 17 KSchG unwirksam sein. Da es sich bei der
unmittelbar nachfolgenden Kündigung vom 31. März 2009 jedoch lediglich um eine
wiederholende Kündigung handele, die das Arbeitsverhältnis zum selben Zeitpunkt
beende, sei die Klage dennoch vollständig abzuweisen.
Gegen dieses ihm am 8. Okt. 2009 zugestellte Urteil hat der Kläger am 9. Nov.
2009, einem Montag, Berufung eingelegt und diese nach rechtzeitig beantragter
Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 8. Jan. 2010 an diesem Tag
per Telefax begründet.
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Der Kläger rügt u.a., soweit das Arbeitsgericht die Auffassung vertrete, der
betroffene Arbeitgeber müsse sich auf die Mitteilung der Agentur für Arbeit
verlassen können, so sei dies unrichtig. Es gebe insoweit keinen Vertrauensschutz
des Arbeitgebers. Es gebe nur eine rechtswirksame oder rechtsunwirksame
Anzeige. Da eine nach § 17 KSchG anzeigepflichtige Entlassung aufgrund der Zahl
der ausgesprochenen Kündigungen durch den Arbeitgeber vorliege, ohne dass
vorher eine wirksame Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit
erstattet worden sei, sei die Kündigung vom 27. März 2009 unwirksam.
Zu der Kündigung vom 31. März 2009 sei der Betriebsrat überhaupt nicht
angehört worden, weil die Betriebsratsanhörung zur Kündigung vom 27. März 2009
durch deren Ausspruch verbraucht gewesen sei. Nach § 102 BetrVG bedürfe jede
Kündigung der Anhörung des Betriebsrats. Das gelte auch dann, wenn der
Arbeitgeber die Kündigung auf den gleichen Sachverhalt stütze und wiederhole.
Bereits die Wiederholung einer Kündigung wegen eines Formfehlers stelle eine
neue Kündigung dar. Auch in den Fällen, in denen der Arbeitgeber wegen
Bedenken gegen die Wirksamkeit der ordentlichen Kündigung vorsorglich erneut
kündige, bedürfe es einer erneuten Anhörung des Betriebsrates. Eine Ausnahme
von dem Grundsatz der erneuten Anhörung werde nur dann angenommen, wenn
der Arbeitgeber seinen Kündigungsentschluss noch nicht verwirklicht habe, etwa
dann, wenn wegen des fehlenden Zugangs der ersten Kündigung in engem
zeitlichen Zusammenhang und aus den selben Gründen eine neue Kündigung
ausspreche. Die Beklagte habe auch vor dem Hintergrund der
Interessenausgleichsregelungen betriebsverfassungsrechtlich keinen Freischuss
gehabt, also nicht nach Ausspruch der ersten Kündigung weitere Kündigungen
ohne vorherige nochmalige korrekte Beteiligung des Betriebsrates erklären dürfen.
Die Kündigung vom 27. März 2009 sei die „erste“ Kündigung gewesen. Bei einem
Interessenausgleich, der sich auf mehrere Kündigungen erstrecke, könne
grundsätzlich nichts anderes als bei einer Einzelkündigung gelten. Es gebe keine
Kriterien dafür, hier einen anderen Maßstab anzuwenden. Im Interessenausgleich
befassten sich die § 2 Abs. 4 und § 3 Abs. 2 mit dem Anhörungsverfahren nach §
102 BetrVG. Wenn in § 2 Abs. 4 von „Kündigungen“ die Rede sei, so könne dieser
Begriff nur so verstanden werden, dass sich dieser auf die größere Anzahl der
Arbeitnehmer beziehe. Er beziehe sich nicht darauf, dass hinsichtlich jedes
einzelnen Arbeitnehmers ggf. mehrere Kündigungen hätten ausgesprochen
werden sollen und dürfen. Die Frage, ob gegenüber einem betroffenen
Arbeitnehmer mehrere Kündigungen ausgesprochen würden, sei zu keinem
Zeitpunkt im Laufe des Interessenausgleichsverfahrens auch nur andiskutiert
worden. Es sei durchgängig und immer nur davon die Rede gewesen, dass nach
Abschluss des Interessenausgleichs der jeweilige Arbeitnehmer eine Kündigung
erhalte. § 3 Abs. 2 nehme ausdrücklich Bezug auf das „Anhörungsverfahren nach
§ 102 BetrVG“. Wenn man den Versuch unternehme, die Anhörung des
Betriebsrates auf eine zweite Kündigung auszudehnen, so komme man zu der
Frage, welche Kündigung danach und in welchem Zeitraum dann noch durch die
Anhörung zur ersten Kündigung abgedeckt sei. Sei dies noch eine Kündigung
einige Tage später oder einen Monat später, bei der z. B. auch der Sachverhalt
vielleicht grundsätzlich identisch sei? Für § 242 BGB sei kein Raum. Der Vortrag
der Beklagten, der Betriebsrat hätte im Falle der Unwirksamkeit der ersten
Kündigung auch die zweite Kündigung nicht beanstandet, sei eine schlichte
Annahme ins Blaue hinein.
Der Kläger beantragt zuletzt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Gießen vom 03.09.2009 - Az.: 1 Ca 219/09 -
abzuändern und
1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die
Kündigung der Beklagten vom 27.März 2009 nicht aufgelöst worden ist und über
den 31.Okt. 2009 hinaus fortbesteht;
2. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die
Kündigung der Beklagten vom 31.März 2009 nicht aufgelöst worden ist und über
den 31. Okt. 2009 hinaus fortbesteht;
3. für den Fall, dass das Gericht den Klageanträgen zu 1) und 2) stattgibt, die
Beklagte zu verurteilen, den Kläger zu den bisherigen Vertragsbedingungen als
Fotosetzer bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreites als Arbeitnehmer
weiter zu beschäftigen.
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Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte verteidigt die angefochtene Entscheidung und meint u.a., die
Entlassungen seien ausweislich des Schreibens der Agentur für Arbeit B vom 1.
April 2009 ordnungsgemäß erfolgt. Stelle eine Behörde entgegen der gesetzlichen
Vorgaben für die Wirksamkeit einer Anzeige geringere als die gesetzlichen
Anforderungen, so könne dies nicht dazu führen, dass ein Dritter, hier der
Arbeitnehmer, sich mit Erfolg auf die Unwirksamkeit der Anzeige berufen könne,
wenn die gesetzlichen Anforderungen an die Anzeige in erster Linie dazu dienten,
der Behörde eine ordnungsgemäße Erledigung ihrer Aufgaben zu ermöglichen
oder diese zumindest zu erleichtern. Die Betriebsratsanhörung sei
ordnungsgemäß erfolgt. In zahlreichen Gesprächen zwischen Geschäftsführung
und Betriebsrat im Rahmen der Interessenausgleichsverhandlungen, z.B. am 19.
Febr. 2009 sowie am 11., 13. und 23. März 2009 sowie einer Betriebsversammlung
am 13. Febr. 2009 habe der Geschäftsführer C dargelegt, wie sich die
wirtschaftliche Lage des Unternehmens zeige und dass er deshalb die
unternehmerische Entscheidung treffen müsse, Stellen abzubauen. Die Beklagte
habe den Betriebsrat darüber hinaus in diesen Gesprächen sowohl über die
Personalien des Klägers als auch über den Kündigungsgrund, die Kündigungsart,
die Kündigungsfrist und den beabsichtigten Kündigungstermin, die betrieblichen
Gründe und deren Folgen für die Beschäftigung sowie die unternehmerische
Organisationsentscheidung informiert, wie dies im Interessenausgleich in § 2 Abs.
2 und § 2 Abs. 4 auch dokumentiert sei. Die ordnungsgemäße Anhörung des
Betriebsrats ergebe sich auch aus § 3 Abs. 2 des Interessenausgleichs. Die
Kündigung vom 31. März 2009 sei - wie das Arbeitsgericht deutlich
herausgearbeitet habe - nicht deshalb unwirksam, weil die Betriebsratsanhörung
verbraucht gewesen sei und deshalb keine Anhörung vorliege. Sie habe mit der
wiederholenden Kündigung vom 31. März 2009 lediglich auf den Umstand reagiert,
dass ihr seitens der Agentur für Arbeit mitgeteilt worden sei, dass die
Massenentlassungsanzeige nicht vollständig gewesen sei. Sie hätte keinen echten
neuen Kündigungsentschluss gefasst, sondern nur die zuvor mit dem Betriebsrat
ausführlich erörterte Kündigungsabsicht umgesetzt. Folglich handele es sich bei
dem Schreiben vom 31. März 2009 nicht um eine neue Erklärung, sondern
ausschließlich um eine Bestätigung des bereits am 30. März 2009 zugegangenen
Schreibens vom 27. März 2009. Es sei nicht auf die Identität der Willenserklärung,
sondern auf die Identität des Willensbildungsprozesses des Arbeitgebers
abzustellen. Sinn und Zweck des § 102 BetrVG sei es, dem Betriebsrat die
Möglichkeit zu geben, auf den Kündigungsentschluss des Arbeitgebers
einzuwirken. Dagegen liege der Vollzug des Kündigungsentschlusses außerhalb
der Einflusssphäre des Betriebsrats. Aus diesem Grunde sei es gerechtfertigt,
auch bei mehreren selbständigen Kündigungserklärungen von einer einheitlichen
Kündigung im Sinne des § 102 Abs. 1 BetrVG auszugehen, wenn diese auf
demselben Kündigungsentschluss beruhten. Schließlich habe sich die während der
Interessenausgleichsverhandlungen erfolgte Anhörung des Betriebsrats einzig und
allein auf die betriebsbedingten Kündigungen bezogen, welche unter Einhaltung
der Formalien und damit nach ordnungsgemäßer Massenentlassungsanzeige
hätten ausgesprochen werden sollten. Das Anhörungsverfahren sei für die
ordentliche, betriebsbedingte Kündigung nach ordnungsgemäßer Anzeige der
Massenentlassung eingeleitet worden. Es spreche die allgemeine Lebenserfahrung
dafür, dass der Betriebsrat auch der erneuten, auf demselben Sachverhalt
gestützten Kündigung zugestimmt hätte.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Berufungsvorbringens wird auf den
vorgetragenen Inhalt der Berufungsschriftsätze und den Inhalt der
Sitzungsniederschriften vom 15. April und 19. Aug. 2010 verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist statthaft, §§ 8 Abs.2 ArbGG, 511 Abs. 1 ZPO, 64 Abs. 2 b) und c)
ArbGG, und auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, §§ 66
Abs.1 ArbGG, 519, 520 ZPO, und damit insgesamt zulässig. Die Berufung ist auch
überwiegend begründet.
1. Nicht begründet ist die Berufung bezüglich der Abweisung des allgemeinen
Feststellungsantrages. Die Klage ist nicht zulässig, soweit der Kläger die
Feststellung begehrt, dass das Arbeitsverhältnis über den 31. Okt. 2009
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Feststellung begehrt, dass das Arbeitsverhältnis über den 31. Okt. 2009
fortbestehe. Es ist anerkannt, dass ein Arbeitnehmer neben einer gegen eine
Kündigung nach § 4 KSchG gerichteten Klage eine allgemeine Feststellungsklage
nach § 256 ZPO auf Fortbestand des Arbeitsverhältnisses zu unveränderten
Bedingungen über den Kündigungsendtermin hinaus erheben kann (BAG Urteil
vom 13. März 1997 - 2 AZR 512/96 - EzA § 4 nF KSchG Nr. 57). Die jeweils mit den
Kündigungsschutzanträgen verbundenen Anträge „und über den 31.10.2009
hinaus fortbesteht“ sind als ein zusammengefasster allgemeiner
Feststellungsantrag nach § 256 ZPO zu sehen. Das ergibt sich aus dem Wortlaut
der Anträge und der Klagebegründung (Seite 4 und 5 der Klageschrift, jeweils zu
Ziff. 5). Bei der Auslegung des Klageantrages ist neben dessen Wortlaut auch die
Klagebegründung mitzuberücksichtigen (BAG in st. Rspr., etwa Urteil vom 13. März
1997 - 2 AZR 512/96 - EzA § 4 nF KSchG Nr. 57). Die Klagebegründung lässt
erkennen, dass der Kläger seinen Fortbestandsantrag nicht nur floskelhaft als
unselbständiges Anhängsel verstanden wissen wollte, sondern dass es ihm um
den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses überhaupt geht. Streitgegenstand bei
einer Feststellungsklage nach § 256 ZPO ist im Allgemeinen die Frage, ob ein
Arbeitsverhältnis über diesen Termin hinaus im Zeitpunkt der letzten mündlichen
Verhandlung in der Tatsacheninstanz fortbesteht. Die Feststellungsklage nach §
256 ZPO setzt indessen auch im Kündigungsschutzprozess ein besonderes
Feststellungsinteresse voraus (BAG in st. Rspr., etwa Urteil vom 13. März 1997 - 2
AZR 512/96 - EzA § 4 nF KSchG Nr. 57). Es ist erforderlich, dass der klagende
Arbeitnehmer durch Tatsachenvortrag weitere streitige Beendigungstatbestände
in den Prozess einführt oder wenigstens deren Möglichkeit darstellt und damit
belegt, warum dieser die Klage nach § 4 KSchG erweiternde Antrag zulässig sein,
d. h. warum an der - noch dazu alsbaldigen - Feststellung ein rechtliches Interesse
bestehen soll (BAG in st. Rspr. Urteil vom 13. März 1997 - 2 AZR 512/96 - EzA § 4
nF KSchG Nr. 57). Daran fehlt es hier, denn streitgegenständlich sind die mit
Schreiben vom 27. und 31. März 2009 ausgesprochenen Kündigungen, die
Gegenstand der Kündigungsschutzanträge sind. Weitere Beendigungstatbestände
sind nicht vorgetragen worden und sind auch bis zum Zeitpunkt der mündlichen
Verhandlung nicht ersichtlich gewesen.
2. Hinsichtlich der Kündigungsschutzanträge und der auf Weiterbeschäftigung
gerichteten Klage ist die Berufung begründet. Die Kündigungsschutzklagen sind
begründet. Die Kündigung vom 27. März 2009 ist wegen Verstoßes gegen § 17
KSchG unwirksam. Eine anzeigenpflichtige Entlassung ist bei 44 Arbeitnehmern
und 11 Kündigungen gegeben.
a) Die Anzeige der Beklagten vom 24. März 2009 ist – wie die Bundesagentur für
Arbeit dieser mit Schreiben vom 1. April 2009 mitgeteilt hat - am 27. März 2009
unvollständig und damit unwirksam bei der Bundesagentur eingegangen. Wie die
Bundesagentur weiterhin mitgeteilt hat, hat die Beklagte „die fehlende Anlage zur
Anzeige von Entlassungen…am 31.03.2009 tel. nach Rücksprache mit mir ergänzt;
ab diesem Tag liegt eine vollständige Anzeige vor….“
Nach den Angaben der Beklagten in der Berufungsverhandlung vom 15. April 2010
bezog sich die Beanstandung der Bundesagentur darauf, dass die in der Anlage
zur Anzeige von Entlassungen, speziell der Berufsgruppen der zu entlassenden
und in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer, in der Spalte der in der Regel
beschäftigten Arbeitnehmer zwei Mitarbeiter nicht aufgeführt gewesen seien. Dies
hätte der Mitarbeiter der Bundesagentur nach telefonischer Besprechung in der
Anlage nachgetragen. Damit waren Muss-Angaben gemäß § 17 Abs. 3 Satz 4
KSchG unvollständig, nämlich die in § 17 Abs. 3 Satz 4 KSchG verlangten Angaben
über die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden und in der Regel
beschäftigten Arbeitnehmer.
b) Eine Anzeige, bei der auch nur eine einzige Angabe fehlt, hat keine
Rechtswirkungen (APS-Moll, § 17 KSchG Rz. 100). Eine fehlende Angabe kann zwar
nachgeholt werden. Es ist aber erst ab Eingang der Ergänzung bei der Agentur für
Arbeit vom Vorliegen einer vollständigen Anzeige auszugehen (APS-Moll a.a.O.).
Die behauptete telefonische Ergänzung erfolgte erst am 31. März 2009, wobei es
auf die Frage, ob die in § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG vorgeschriebene Schriftform
durch die telefonische Ergänzung überhaupt gewahrt ist, hier nicht ankommt.
c) Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu den Rechtsfolgen einer
fehlerhaften Massenentlassungsanzeige ist uneinheitlich. Während bei einer
fehlenden Anzeige angenommen wird, die entsprechenden Kündigungen führten
nicht zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses (BAG 16. Juni 2005 - 6 AZR 451/04 -
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nicht zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses (BAG 16. Juni 2005 - 6 AZR 451/04 -
AP InsO § 113 Nr. 20) – ohne den Begriff der Unwirksamkeit zu verwenden – ist die
Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu den Rechtsfolgen einer fehlerhaften
Anzeige wechselhaft (vgl. Bader/Bram/Dörner § 17 KSchG Rz. 75). Der Zweite
Senat entschied zunächst in ständiger Rechtsprechung, dass Kündigungen im
Rahmen anzeigepflichtiger Entlassungen unwirksam seien, wenn der Arbeitgeber
die Anzeigepflicht verletzt hatte (BAG Urteil 4. März 1993 - 2 AZR 451/92 - EzA §
21 KSchG Nr. 1; BAG Urteil vom 8. Juni 1989 - 2 AZR 624/88 - EzA § 17 KSchG
Nr.4; BAG Urteil vom 31. Juli 1986 - 2 AZR 594/85 - EzA § 17 KSchG Nr. 3; BAG
Urteil vom 6. Dez. 1973 - 2 AZR 10/73 - EzA § 17 KSchG Nr.1). Mit Urteilen vom
24. Okt. 1996 und vom 11. März 1999 (- 2 AZR 895/95 - EzA § 17 KSchG Nr. 6; - 2
AZR 461/98 - EzA § 17 KSchG Nr.8; Bader/Bram/Dörner § 17 KSchG Rz. 75)
äußerte der Zweite Senat an seiner Rechtsprechung dann Zweifel, ließ die damit
aufgeworfene Rechtsfrage aber offen.
In den Jahren ab 2000 erfolgte eine Wende in der Rechtsprechung des
Bundesarbeitsgerichts weg von seiner EG-rechtsfreundlichen Auffassung. Im Urteil
vom 13. April 2000 (- 2 AZR 215/99 - EzA § 17 KSchG Nr. 9) ist von einer
privatrechtlich wirksamen Kündigung die Rede, die nicht den Erfolg habe, dass der
Arbeitnehmer zu dem in Aussicht genommenen Termin habe entlassen werden
können. Der Verstoß des Arbeitgebers gegen seine Pflichten aus § 17 Abs. 1 und
Abs. 2 sollte nicht mehr zur Unwirksamkeit der Kündigung führen (BAG Urteil vom
18. Sept. 2003 - 2 AZR 79/ 02 - EzA § 17 KSchG Nr. 11). In den Urteilen vom 23.
März 2006 (– 2 AZR 343/05 - EzA § 17 KSchG Nr. 16), vom 6. Juli 2006 (- 2 AZR
520/05 – EzA § 1 KSchG Soziale Auswahl Nr. 68), vom 13. Juli 2006 (– 6 AZR 25/06
– Juris), vom 21. Sept. 2006 (- 2 AZR 284/06 – Juris), vom 1. Febr. 2007 (- 2 AZR
15/06 – Juris) und vom 8. Nov. 2007 (- 2 AZR 554/05 – EzA § 1 Betriebsbedingte
Kündigung Nr. 156) ließen die Senate die Rechtsfolge weiterhin offen.
Eine Rückwende in der Rechtsprechung des Achten Senates, der die Frage
zunächst offengelassen hatte (Urteil vom 14. Aug. 2007 - 8 AZR 1043/06 - EzA §
613 a BGB 2002 Nr.74), leitete dieser ausdrücklich mit Urteil vom 28. Mai 2009 –
(8 AZR 273/08 - EzA § 17 KSchG Nr. 20) ein, nachdem er dies mehreren
Entscheidungen zunächst mittelbar zugrunde legte (etwa Urteil vom 31. Jan. 2008
- 8 AZR 2/07 - AP BGB § 613 a Nr. 339), in dem er einen Rechtsstreit über die
Unwirksamkeit einer Kündigung zur Aufklärung über den Ablauf des
Anzeigeverfahrens an das Berufungsgericht zurückverwies. Dagegen ließ der
Sechste Senat die Rechtsfolge wieder offen (Urteil vom 22. April 2010 - 6 AZR
948/08 - NZA 2010, 1057).
Der Entscheidung des Achten Senates ist zu folgen. Die Auffassung der anderen
Senate zu den Rechtswirkungen einer fehlerhaften Entlassungsanzeige entspricht
nicht mehr einer richtlinienkonformen Auslegung des § 17 Abs. 1 KSchG, nachdem
auch der Entlassungsbegriff in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts
(etwa Urteil vom 12. Juli 2007 - 2 AZR 448/05 – NZA 2008, 425) als Kündigung
interpretiert wird. Unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung geht das
Bundesarbeitsgericht seit der Entscheidung des Zweiten Senats vom 23. März
2006 (- 2 AZR 343/05 - EzA KSchG § 17 Nr. 16) davon aus, dass „Entlassung“ im
Sinn des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG aufgrund der richtlinienkonformen (RL 98/59/EG
vom 20. Juli 1998) Auslegung der Norm als „Ausspruch der Kündigung“ zu
verstehen ist. Die Kündigung ist unwirksam, da ihre Beendigungswirkung
unabhängig von der Entlassungssperre des § 18 Abs. 1 nicht herbeigeführt werden
kann. Anderenfalls wäre eine fehlerhafte oder fehlende Massenentlassungsanzeige
auch nicht als Unwirksamkeitsgrund innerhalb der dreiwöchigen Klagefrist des § 4
Satz 1 KSchG geltend zu machen (LAG Niedersachsen Urteil vom 6. April 2009 – 9
Sa 1297/08 – BB 2209, 1981). Dies entspricht der überwiegenden Auffassung in
der Literatur (etwa APS-Moll § 18 KSchG Rz. 46; Bader/Bram-Dörner KSchG § 17
Rz. 76; ErfK-Kiel § 17 KSchG Rz. 35; KR-Weigand § 17 KSchG Rz. 101).
3. Die Kündigung vom 31. März 2009 ist wegen Verstoßes gegen § 102 Abs. 1
BetrVG unwirksam. Nach dieser Vorschrift ist der Betriebsrat vor jeder Kündigung
zu hören. Die Beklagte hat den Betriebsrat indessen vor Ausspruch der Kündigung
vom 31. März 2009 nicht angehört. Nach Sinn und Zweck der Vorschrift, dem
Betriebsrat Gelegenheit zu geben, auf den Kündigungsentschluss des
Arbeitgebers Einfluss zu nehmen, kann ein Anhörungsverfahren grundsätzlich nur
für die Kündigung Wirksamkeit entfalten, für die es eingeleitet worden ist (BAG in
st. Rspr., etwa Urteil vom 3. April 2008 - 2 AZR 965/06 – EzA § 102 BetrVG 2001
Nr. 21; BAG Urteil vom 5. Sept. 2002 - 2 AZR 523/01 - AP Nr. 130 zu § 102 BetrVG
1972). Dies gilt insbesondere dann, wenn der Arbeitgeber wegen Bedenken gegen
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1972). Dies gilt insbesondere dann, wenn der Arbeitgeber wegen Bedenken gegen
die Wirksamkeit der ersten Kündigung vorsorglich erneut kündigt. Das durch die
ordnungsgemäße Anhörung erworbene Recht zum Ausspruch der Kündigung ist
durch den Zugang der Kündigung verbraucht. Ein Anhörungsverfahren entfaltet
grundsätzlich nur für die Kündigung Wirksamkeit, für die es eingeleitet worden ist.
Hat der Arbeitgeber nach Durchführung des Anhörungsverfahrens gekündigt und
ist dem Arbeitnehmer die Kündigung zugegangen, so bedarf es zur Wirksamkeit
einer wiederholten Kündigung einer erneuten Anhörung des Betriebsrats. Tauchen
bei dem Arbeitgeber nachträglich Zweifel auf, ob die Kündigung wirksam ist und
wiederholt er daraufhin die Kündigung, so leitet er damit einen neuen
Kündigungsvorgang ein und hat deshalb den Betriebsrat erneut anzuhören. Eine
Ausnahme vom Gebot der erneuten Anhörung gilt dann, wenn die erste Kündigung
nicht zugegangen ist. Sonst greift die ausdrückliche Pflicht des § 102 Abs. 1 Satz 1
BetrVG ein, den BR vor Ausspruch der erneuten, auch einer vorsorglich erneuten
Kündigung auch erneut anzuhören (BAG vom 10. Nov. 2005 – 2 AZR 623/04 – EzA
§ 626 BGB 2002 Nr. 11; BAG Urteil vom 31. Jan. 1996 – 2 AZR 273/95 - EzA § 102
BetrVG 1972 Nr. 90; LAG Frankfurt Urteil vom 27. Juli 2007 - 12 Sa 1677/06 – Juris;
LAG Köln Urteil vom 30. März 2004 - 5 (13) Sa 1380/03) – ArbuR 2004, 396). Das
Urteil des BAG vom 10. Nov. 2005 – 2 AZR 623/04 – lautet im Leitsatz:
„Einer - erneuten - Anhörung des Betriebsrats bedarf es schon immer, wenn der
Arbeitgeber bereits nach Anhörung des Betriebsrats eine Kündigung erklärt hat,
d.h., wenn die erste Kündigung dem Arbeitnehmer zugegangen ist und der
Arbeitgeber damit seinen Kündigungswillen bereits verwirklicht hat und nunmehr
eine neue (weitere) Kündigung aussprechen will. Das gilt auch dann, wenn der
Arbeitgeber die Kündigung auf den gleichen Sachverhalt stützt. Dieses
Gestaltungsrecht und die damit im Zusammenhang stehende
Betriebsratsanhörung ist mit dem Zugang der Kündigungserklärung verbraucht.
Dies gilt insbesondere auch in den Fällen, in denen der Arbeitgeber wegen
Bedenken gegen die Wirksamkeit der ordentlichen Kündigung vorsorglich erneut
kündigt.“
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Interessenausgleich vom 24. März
2009. Die Tatsachen bezüglich der Kündigungsgründe und der Sozialauswahl, die
dem Betriebsrat bereits aus den Verhandlungen zum Abschluss eines
Interessenausgleichs bekannt sind, muss der Arbeitgeber im Anhörungsverfahren
zwar nicht erneut vortragen ( BAG Urteil vom 21. Februar 2002 - 2 AZR 581/00 -
EzA KSchG § 1 Interessenausgleich Nr. 10). Dies gilt zumindest dann, wenn
zwischen den Interessenausgleichsverhandlungen und dem Anhörungsverfahren
ein überschaubarer Zeitraum liegt. Hat der Betriebsrat den erforderlichen
Kenntnisstand, um sich über die Stichhaltigkeit der Kündigungsgründe ein Bild
machen und eine Stellungnahme hierzu abgeben zu können, würde es dem
Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit gem. § 2 Abs. 1 BetrVG
widersprechen und eine kaum verständliche reine Förmelei darstellen, wenn man
vom Arbeitgeber dann gleichwohl noch eine detaillierte Begründung verlangte
(BAG Urteil vom 5. Nov. 2009 - 2 AZR 676/08 – EzA § 1 KSchG Interessenausgleich
Nr. 20; BAG Urteil vom 22. Jan. 2004 - 2 AZR 111/02 – EzA § 1 KSchG
Interessenausgleich Nr. 11). Hier erfolgte die Information des Betriebsrats in den
Gesprächen vom 19. Febr., 11., 13. und 23. März 2009 sowie in einer
Betriebsversammlung am 13. Febr. 2009.
Die Beklagte war jedoch nach Ausspruch der Kündigungen vom 27. März 2009
auch nach der Regelung in § 2 Abs. 4 des Interessenausgleiches vom 24. März
2009 nicht von der Pflicht zu einer erneuten Anhörung vor Ausspruch der
Kündigungen vom 31. März 2010 befreit und hatte insoweit keinen „Freischuss“.
Die Kündigung vom 27. März 2009 war die „erste Kündigung“ im Sinne der
zitierten BAG-Rechtsprechung. Der Betriebsrat hat durch die Regelungen des
Interessenausgleichs nicht auf eine weitere Anhörung verzichtet.
§ 2 Abs. 3 des Interessenausgleichsausgleichs vom 24. März 2009 lautet:
"(3) Eine Liste der betroffenen Mitarbeiter wurde dem Betriebsrat ausgehändigt….“
§ 2 Abs. 4 lautet:
„(4) Die Kündigungen sollen unter Einhaltung der Formalien so rasch wie möglich,
möglichst noch im März 2009, ausgesprochen werden. Der Beendigungszeitpunkt
der einzelnen Arbeitsverhältnisse ergibt sich aus den jeweils geltenden
Kündigungsfristen.“
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§ 3 Abs. 2 lautet:
(2) Der Betriebsrat erklärt, dass das Anhörungsverfahren nach § 102 BetrVG im
Rahmen der Interessenausgleichsverhandlungen ordnungsgemäß durchgeführt ist.
Dem Betriebsrat wurden die Personallisten als Anlage 1 und 2 am 5. März 2009
übergeben. Der Betriebsrat hat in seiner Sitzung am 23. März 2009 beschlossen,
dass keine weitere Stellungnahme erfolgt und das Anhörungsverfahren nach § 102
BetrVG damit abgeschlossen ist."
Diese Erklärungen des Betriebsrats gelten für die nächstauszusprechenden
Kündigungen. Diese sollen möglichst noch im März 2009 ausgesprochen werden.
Damit ist zwar kein bestimmtes Datum für die Kündigungen festgelegt, es ergeben
sich aber auch keine Anhaltspunkte dafür, dass mit Abschluss des
Interessenausgleichs die Anhörung für alle bis Ende März 2009 oder darüber
hinaus auszusprechenden Kündigungen erledigt sein sollen. Die Erklärung des
Betriebsrats in § 3 Abs. 2 des Interessenausgleichs stellt keine Vorratserklärung
für Wiederholungskündigungen dar. Die Kündigungen sollen ja nur möglichst noch
im März 2009 ausgesprochen werden. Anderenfalls dürfte konsequenterweise
auch keine erneute Anhörung mehr erforderlich sein, wenn die wiederholten
Kündigungen auf Grund von Verzögerungen, z.B. wegen der Unvollständigkeit der
Massenentlassungsanzeige, erst im April oder Mai 2009 ausgesprochen worden
wären. Den Kündigungen vom 31. März 2009 liegt selbstverständlich ein erneuter
Kündigungsentschluss zugrunde, denn der Geschäftsführer hat ja entschieden,
diese erneuten Kündigungen auszusprechen, weil es wegen der unvollständigen
Massenentlassungsanzeige Bedenken gegen die Wirksamkeit der Kündigung vom
27. März 2009 gab.
4. Mit Obsiegen im Kündigungsschutzprozess besteht auch ein Anspruch des
Klägers auf vorläufige Weiterbeschäftigung nach §§ 611, 242 BGB in Verb. mit Art.
1 und 2 GG für die Dauer bis zur rechtskräftigen Entscheidung im
Kündigungsschutzprozess als Fotosetzer. Nach Obsiegen des Klägers im
Kündigungsschutzprozess in der Berufungsinstanz überwiegen seine
Beschäftigungsinteressen gegenüber den Interessen der Beklagten an der
Nichtbeschäftigung des Klägers. Wenn ein Gericht eine die Instanz abschließende
Entscheidung trifft und die Unwirksamkeit der Kündigung(en) feststellt, so ist damit
zumindest eine erste Klärung der Rechtslage im Sinne des klagenden
Arbeitnehmers eingetreten (BAG Großer Senat Urteil vom 27. Februar 1985 – GS
1/84 – EzA § 611 BGB Beschäftigungspflicht Nr. 9).
5. Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Parteien gemäß §§ 97 Abs. 1, 92 Abs. 1
ZPO im Verhältnis des gegenseitigen Obsiegens und Unterliegens.
Die Revision ist wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (Rechtsfolge
einer fehlerhaften Massenentlassungsanzeige, Möglichkeit einer Vorratserklärung
des Betriebsrats in einem Interessenausgleich) zuzulassen, § 72 Abs. 2 ArbGG.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.