Urteil des LAG Hessen vom 30.11.2010

LAG Frankfurt: unwirksamkeit der kündigung, ordentliche kündigung, verfügung, arbeitsgericht, betriebsrat, unternehmen, gutachter, hausarzt, anpassung, gespräch

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Gericht:
Hessisches
Landesarbeitsgericht
12. Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
12 Sa 318/09
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Norm:
§ 1 Abs 2 KSchG
Einzelfall
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Kassel vom 03.
September 2008 – 5/10/2 Ca 132/06 – wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung wegen
krankheitsbedingter Fehlzeiten.
Die Beklagte ist ein Autoreifenhersteller. Der am xxx xxx geborene, verheiratete
und zwei Kindern zum Unterhalt verpflichtete Kläger ist seit dem 1.12. 1997 im
Werk B der Beklagten in der Abteilung Radialreifen-Vorbereitung als Apexbediener
beschäftigt. Er verdiente zuletzt € 2.847,-- brutto monatlich. Dem Arbeitsverhältnis
liegt der Arbeitsvertrag vom 7.12.1998 zugrunde (Bl. 63 d.A.). Auf das
Arbeitsverhältnis findet kraft beiderseitiger Tarifbindung der Manteltarifvertrag für
die Arbeitnehmer der westdeutschen Chemischen Industrie in der Fassung vom
16.06.2005 (MTV) Anwendung.
Der Kläger erkrankte in der Vergangenheit wiederholt wegen eines Rückenleidens.
Ab dem 24.02.2005 bis zum 27.06.2006 war er dann fast durchgehend
arbeitsunfähig erkrankt. Zwischendurch war er lediglich in der Zeit vom 19.03 –
10.04., 13. – 19.05 und am 6.09.2005 arbeitsfähig. Der Kläger war zunächst mit
einem Grad von 20 behindert. Mit Bescheid vom 10.01.2007 stellte das
Landesamt für Versorgung rückwirkend zum 27.11.2006 einen Grad der
Behinderung von 30 fest.
Am 6.09.2005 fand eine werksärztliche Untersuchung des Klägers statt. Der
Werksarzt Dr. C kam zu dem Ergebnis, dass der Kläger aufgrund seines
Rückenleidens dauerhaft nicht mehr für seine bisherige Tätigkeit als Apexbediener
geeignet sei, sondern nur noch Arbeit unter erleichterten Bedingungen verrichten
könne. (Bl. 70 d.A.). Am 9.06.2006 fand auf Einladung der Beklagten (Bl. 71 d.A.)
ein Gespräch über seine weitere gesundheitliche Entwicklung und die Möglichkeiten
zur Wiederaufnahme der Arbeit statt. Daran nahmen neben dem Kläger die
Schwerbehindertenvertrauensfrau und gleichzeitiges Betriebsratsmitglied, Frau D,
ferner die Leiterin der Personalbetreuung und –entwicklung sowie der
Abteilungsleiter des Klägers teil. Der Kläger äußerte sich dahingehend, dass sich
an seinem Gesundheitszustand nichts geändert habe, er weiterhin arbeitsunfähig
erkrankt sei und seine bisherige Tätigkeit in Zukunft nicht mehr verrichten könne.
Eine Operation komme wegen der Schwere seines Leidens nicht in Betracht.
Diesem Gespräch waren Gesundheitsgespräche in jedem Jahr seit 2001
vorangegangen.
Nach dem Ergebnis des Gesprächs hörte die Beklagte mit Schreiben vom
14.06.2006 (Bl. 74, 75 d.A.) den Betriebsrat zu einer beabsichtigten ordentlichen
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14.06.2006 (Bl. 74, 75 d.A.) den Betriebsrat zu einer beabsichtigten ordentlichen
Kündigung aus krankheitsbedingten Gründen an. Der Betriebsrat erhielt die
Anhörung am 23.06.2006 und teilte nach einer Betriebsratssitzung am 23.06.2006
am 26.06.2006 der Personalverwaltung mit, dass er die beabsichtigte Kündigung
zur Kenntnis genommen habe und keine weitere Stellungnahme abgeben werde
(Bl. 73 d.A.). Die Beklagte kündigte darauf mit Schreiben vom 26.06.2006, das
dem Kläger am 27.06.2006 zuging, das Arbeitsverhältnis der Parteien aus
krankheitsbedingten Gründen ordentlich zum 30.09.2006. Der Kläger hat am
5.07.2006 beim Arbeitsgericht Kassel Kündigungsschutzklage gegen diese
Kündigung eingereicht.
Wegen des weiteren erstinstanzlichen Parteivorbringens und der Anträge der
Parteien wird gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG auf den Tatbestand des Urteils des
Arbeitsgerichts Kassel vom 3.09.2008, Az. 5/10/2 Ca 132/06, Bezug genommen
(Bl. 304 - 310 d.A.). Das Arbeitsgericht ist nach Einholung eines medizinischen
Sachverständigengutachtens (E, Facharzt für Arbeitsmedizin und für
Allgemeinmedizin, Bl. 258 – 272 d. A.) zum Ergebnis gelangt, dass die Kündigung
wirksam sei und hat die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt,
dass von einer negativen Prognose auszugehen sei, da der Kläger auch künftig
dauerhaft nicht mehr auf seinem bisherigen Arbeitsplatz einsetzbar sein wird.
Nach den gutachterlichen Feststellungen sei zudem die Möglichkeit einer
anderweitigen leidensgerechten Beschäftigung im Betrieb nicht gegeben. Der
Kläger sei aufgrund eines chronischen Wirbelerkrankungssyndroms weder als
Staplerfahrer noch – auch mit Hebehilfe - an den teilautomatischen Maschinen in
der Reifenfabrik 2 einsetzbar. Auch weitere Ersatzarbeitsplätze in der
„Kernaufbereitung“, der „Kernaufarbeitung“, an den EST-Maschinen, an einer
Aufbaumaschine für Karkassen innerhalb der Reifenfabrik 2, im Materialtransport
mit sog. Mulis oder eine Beschäftigungsmöglichkeit bei der F kämen im Ergebnis
nicht in Betracht. Letztendlich führe auch das Unterlassen eines betrieblichen
Eingliederungsmanagements nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung, weil es im
konkreten Fall mangels fehlender anderweitiger leidensgerechter
Beschäftigungsmöglichkeiten die Kündigung des Klägers nicht hätte verhindern
können. Schließlich sei auch der Betriebsrat ordnungsgemäß angehört worden. Für
die weiteren Einzelheiten der Urteilsbegründung wird auf die Entscheidungsgründe
des angefochtenen Urteils Bezug genommen (Bl. 311 – 320 d. A).
Der Kläger hat gegen dieses Urteil, das ihm am 26.01.2009 zugestellt worden ist,
am 18.02.2009 Berufung eingelegt und diese – nach rechtzeitig beantragter
Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 26.04.2009 - am 23.04.
2009 begründet.
Der Kläger wiederholt und vertieft seinen Vortrag aus dem ersten Rechtszug. Er ist
der Ansicht, dass das Sachverständigengutachten die negative Prognose nicht
bestätigen konnte. Schon der Umstand, dass seine Arbeitsfähigkeit
wiederhergestellt sei und dass er mittlerweile als Staplerfahrer und vom 7.04. –
11.07.2008 als Praktikant in einem Baumarkt gearbeitet habe, widerlege die
negative Prognose des Gutachtens. Das Gutachten sei überhaupt insgesamt
unbrauchbar, weil es ohne die vollständigen Unterlagen des Hausarztes des
Klägers erstellt worden sei und der Sachverständige die ihm übersandten
Unterlagen mit Anschreiben ohne Datum wieder an den Hausarzt zurückgeschickt
habe. So seien womöglich wichtige Informationen bei der Gutachtenerstellung
unberücksichtigt geblieben. Außerdem sei es nach der Feststellung des
Gutachtens, es gebe keine objektivierbaren Befunde für ein Rückenleiden des
Klägers denkbar, dass den Krankschreibungen zum Teil objektiv keine
Arbeitsunfähigkeit zugrunde lag, sondern sie auf subjektiven Fehleinschätzungen
der behandelnden Ärzte beruhten.
Zu den Möglichkeiten anderweitiger Beschäftigung behauptet der Kläger, dass der
Mitarbeiter G erst nach dem Ausspruch der Kündigung im Jahre 2006 im Bereich
Kernaufbereitung eingesetzt worden sei. Er selbst hätte dort dauerhaft eingesetzt
werden können. Der Mitarbeiter H aus der „Kernaufbereitung“ sei lang andauernd
krank gewesen und im Jahre 2008 in den Vorruhestand ausgeschieden. Statt einen
Studenten zur Vertretung zu beschäftigen, hätte die Beklagte ihm die Stelle
übertragen können. Auch in der Reifenfabrik 2 bestehe weiterhin eine
Beschäftigungsmöglichkeit an der Aufbaumaschine für Karkassen. Dort werde mit
leichteren Gewichten von 5-6 kg hantiert und Arbeitsplätze seien bislang nicht
abgebaut worden. Auch bei der Fa. F müssten freie Leichtarbeitsplätze zur
Verfügung stehen. Er ist der Ansicht, auch die Beschäftigung auf einem nicht
wesentlich höherwertigen Arbeitsplatz – wie an den EST-Maschinen - müsse in der
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wesentlich höherwertigen Arbeitsplatz – wie an den EST-Maschinen - müsse in der
Situation des Klägers erwogen werden. Zudem hätte die Durchführung eines
betrieblichen Eingliederungsmanagements die Kündigung verhindern können.
Nach dem Kennenlernen sämtlicher 3000 Arbeitsplätze bei der Beklagten wäre er
sicher in der Lage gewesen, substantiierter zu Einsatzmöglichkeiten auf anderen
Leichtarbeitsplätzen vorzutragen.
Für das weitere Berufungsvorbringen des Klägers wird auf die
Berufungsbegründung vom 23.04.2009 sowie die Schriftsätze vom 23.09.2009,
8.10.2010 und vom 3.11.2010 Bezug genommen (Bl. 350 – 357, 415, 438 u. 441
d.A.)
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des Arbeitsgerichts Kassel vom 3.09.2008, Az. 5/10/2
Ca 132/06
1. festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis
nicht durch die Kündigung der Beklagten vom 26.06.2006 aufgelöst worden ist;
2. für den Fall des Obsiegens mit dem Antrag 1) die Beklagte zu verurteilen, den
Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu
unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Maschinenführer weiter zu
beschäftigen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil. Sie behauptet weiterhin, zum
Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung habe es keinen freien leidensgerechten
Arbeitsplatz für den Kläger gegeben. In der Kernaufbereitung habe es immer nur
einen Arbeitsplatz gegeben, der mit der schwerbehinderten Frau J besetzt
gewesen sei. Herr G, langjährig tätig als Wickler in der Konfektion, sei für die
Zeitdauer von 18 Monaten bis zum Beginn der Passivphase seiner Altersteilzeit
dorthin versetzt worden, weil er aufgrund eines Augenleidens nicht mehr an
laufenden Maschinen eingesetzt werden konnte. Für die Dauer von 18 Monaten
hätten sich die beiden die Aufgaben am Arbeitsplatz Kernaufbereitung geteilt. Herr
H sei zum Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs nicht arbeitsunfähig erkrankt
gewesen, sondern vorher vom 20.03. – 14.04.2006 und dann erst wieder ab
2.10.2006. Die weiteren Tätigkeiten an den EST-Maschinen, als Staplerfahrer, an
der Aufbaumaschine Karkassen und bei der Fa. F seien aus denselben Gründen
wie seine bisherige Tätigkeit, Gewicht und Torsionsbewegungen des Oberkörpers –
für den Kläger aus gesundheitlichen Gründen nicht geeignet. Zudem stünden bei
einigen Alternativen zur bisherigen Beschäftigung rechtliche Erwägungen dagegen.
So falle die Staplerfahrertätigkeit als Sekundärtätigkeit (Transporttätigkeit) in den
Anwendungsbereich der BV vom 24.02.2004, die den Umbau von
Sekundärarbeitsplätzen zu Leiharbeit vorsehe. Zur Beschäftigung auf einem
höherwertigen Arbeitsplatz (EST-Maschine) sowie bei einem anderen
Unternehmen (F) sei sie nicht verpflichtet. Die Durchführung eines betrieblichen
Eingliederungsmanagements hätte die Kündigung mangels eines
leidensgerechten freien Arbeitsplatzes im Unternehmen nicht verhindert.
Wegen des weiteren Berufungsvorbringens der Beklagten wird auf die
Berufungserwiderung vom 19.06.2009 sowie die Schriftsätze vom 4.09.2009,
17.09.2010 und vom 22.10.2010 (Bl. 382 – 394, 409 – 411, 432 – 435 u. 439 - 440
d. A.) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung des Klägers ist gemäß §§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 2 c ArbGG statthaft und
auch im Übrigen zulässig. Insbesondere ist sie form- und fristgerecht eingelegt
und ordnungsgemäß begründet worden (§§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG, 519, 520
Abs. 1 und 3 ZPO).
Die Berufung hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Sie ist unbegründet. Das
Arbeitsgericht hat mit zutreffenden Erwägungen die Kündigungsschutzklage als
unbegründet angesehen. Die von der Beklagten ausgesprochene krankheitsbe-
dingte ordentliche Kündigung vom 26.06.2006 ist weder mangels ihrer sozialen
Rechtfertigung gemäß § 1 Abs. 2 KSchG noch wegen eines unterbliebenen
Eingliederungsmanagements gemäß § 84 Abs. 2 SGB IX unwirksam und hat
deshalb das Arbeitsverhältnis der Parteien unter Einhaltung der ordentlichen
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deshalb das Arbeitsverhältnis der Parteien unter Einhaltung der ordentlichen
Kündigungsfrist des § 11 Abs. 3 MTV zum 30.9.2006 beendet. Das Gericht folgt in
vollem Umfang den ausführlichen und überzeugenden Gründen der
angefochtenen Entscheidung und macht sie sich zu Eigen. Zur Vermeidung von
Wiederholungen wird gem. § 69 Abs. 2 ArbGG auf die Begründung des Arbeits-
gerichts Bezug genommen.
Eine negative Prognose der Gesundheitsentwicklung des Klägers steht hier
aufgrund des unstreitigen Umstands fest, dass der Kläger seine bisherige Tätigkeit
an der Apex-Maschine aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen künftig nicht
mehr ausüben kann und dass, teils aus rechtlichen Erwägungen, teils aus
medizinischen Gründen, ausgeführt im Gutachten des Facharztes für Arbeits- und
Allgemeinmedizin E, im Kündigungszeitpunkt kein vertragsgerechter und
leidensgerechter freier Arbeitsplatz für den Kläger zur Verfügung stand oder
freigemacht werden konnte. So war die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit zum
Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs hinsichtlich der bisher ausgeübten Tätigkeit
ausgeschlossen und hinsichtlich anderweitiger Beschäftigungsmöglichkeiten auf
nicht absehbare Zeit ungewiss. Das führt in der Folge auch zur Annahme einer
erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen. Wegen des Fehlens
jeglicher anderweitiger Beschäftigungsmöglichkeiten erweist sich die Kündigung
zudem als verhältnismäßig. Die völlige Ungewissheit der Wiederherstellung der
Arbeitskraft des Klägers führt im letzten Prüfungsschritt dazu, dass die Interessen
der Beklagten an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses auch ohne konkret
festzustellende erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen
gegenüber dem Interesse an seiner Fortsetzung überwiegen (zu allen
Voraussetzungen BAG 12.07.2007 – 2 AZR 716/06). Der Betriebsrat ist gemäß §
102 Abs. 1 BetrVG ordnungsgemäß angehört worden, weil aufgrund der weiteren
ihm mitgeteilten persönlichen Daten des Klägers seine Individualisierung trotz des
Vertauschens von Vor- und Nachnamen ohne weiteres möglich war.
Die Berufungsbegründung gibt darüber hinaus Anlass zu folgenden ergänzenden
Ausführungen:
1. Die gutachterlichen Feststellungen im Gutachten vom 17.07.2008 behalten
uneingeschränkt ihren Bestand und ihre Aussagekraft. Die vom Kläger mit der
Berufung erhobenen Einwände sind nicht stichhaltig. Der Kläger hat dem Gericht
eine Mappe mit den kompletten Krankenunterlagen seines Hausarztes vorgelegt.
Aus dieser ergibt sich im Abgleich mit den im Gutachten aufgelisteten Unterlagen,
dass dem Gutachter bis auf einen Entlassungsbericht der K (Orthopädische
Abteilung) vom 25.05.2005 sämtliche im Besitz des Hausarztes befindlichen
Unterlagen vorlagen und im Gutachten berücksichtigt wurden. Das Schreiben des
Sachverständigen an den Hausarzt, mit dem er Unterlagen zurückgeschickt hat,
ist nach den erkennbaren Umständen so zu verstehen, dass er die Unterlagen
kopiert und danach die Originale zurückgeschickt hat. Die Mappe macht ebenfalls
deutlich, dass der Hausarzt keine weiteren objektiven Befunde zur Verfügung
hatte, die dem Gutachter nicht bekannt geworden sind und vielleicht ein anderes
Gesamtbild hätten ergeben können. Der Entlassungsbericht der Klinik K vom
25.05.2005 enthält ebenfalls keine Umstände, die Anlass zu einer anderen
medizinischen Bewertung der klägerischen Leiden führen könnte. Er enthält und
bestätigt die auch vom Gutachter erörterten Befunde – LWS Syndrom, Schulter-
Arm-Syndrom und Belastungsgonalgie linkes Kniegelenk bei Verdacht auf
Außenmeniskusläsion - und empfiehlt als Therapie Kraft- und Ausdauertraining für
die Rücken- und Bauchmuskulatur, das auch in Eigenregie in den Alltag zu
integrieren sei. Die dortigen Ausführungen stützen zudem die negative Prognose,
zu der das Gutachten gelangt ist. Der Klinikaufenthalt diente nämlich dem Ziel der
Rehabilitation, d.h. der Besserung derselben Leiden, aufgrund derer der Kläger
auch bei Ausspruch der Kündigung mehr als ein Jahr später noch arbeitsunfähig
erkrankt war. Zur Erreichung der beschriebenen Rehabilitationsziele wurde ein
Kraft- und Ausdauertraining durchgeführt und dem Kläger ein gymnastisches
Übungsprogramm (stabilisierende Funktionsgymmnastik) vermittelt, das er in
Eigenregie in seinen Alltag integrieren sollte. Wie der weitere Verlauf gezeigt hat,
hat dieses jedoch offensichtlich keine nachhaltige Wirkung gezeigt. Insgesamt
beruhen die gutachterlichen Feststellungen jedenfalls auf der Basis des
kompletten Beschwerde- und Krankheitsbildes des Klägers. Das Gutachten ist
weder unbrauchbar noch bedarf es aus einem anderen Grund der Einholung eines
Obergutachtens. Vielmehr ist mit dem Gutachten, wie das Arbeitsgericht bereits
ausgeführt hat, sowohl der Nachweis einer negativen Prognose als auch der
Ausschluss bestimmter anderweitiger Tätigkeiten als leidensgerechter
Einsatzmöglichkeiten des Klägers zur Vermeidung des Ausspruchs einer
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Einsatzmöglichkeiten des Klägers zur Vermeidung des Ausspruchs einer
Kündigung erbracht.
2. Eine leidensgerechte Anpassung des Arbeitsplatzes (Ausstattung mit Hebehilfe)
kommt aus wirtschaftlichen und medizinischen Gründen nicht in Betracht, ein
anderweitiger leidensgerechter Arbeitsplatz, auf dem der Kläger zur Vermeidung
weiterer Arbeitsunfähigkeitszeiten hätte beschäftigt werden können, stand aus
unterschiedlichen Gründen nicht zur Verfügung. Im Einzelnen:
- Nach den gutachterlichen Feststellungen hätte auch der Einbau einer Hebehilfe
nicht zu einer Reduktion der Fehlzeiten des Klägers an seinem bisherigen
Arbeitsplatz geführt; denn an den Torsionsbewegungen des Oberkörpers, die die
Wirbelsäule belasten, würde sich dadurch nichts ändern. Zudem kann nach der
Einlassung des Klägers, mit einer Hebehilfe würde zuviel Abfall produziert, auch
davon ausgegangen werden, dass die leidensgerechte Anpassung des
Arbeitsplatzes der Beklagten aus wirtschaftlichen Gründen nicht zumutbar ist.
- Weiter ist der Kläger aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkungen weder für
die Tätigkeit an den teilautomatischen Maschinen noch der Aufbaumaschine für
Karkassen in der Reifenfabrik 2 oder als Staplerfahrer geeignet. Hierzu,
insbesondere zu den Belastungen am jeweiligen Arbeitsplatz und ihrer
Unverträglichkeit mit dem Beschwerdebild des Klägers hat der Gutachter sich
ausführlich und überzeugend geäußert. Den Feststellungen steht nicht entgegen,
dass der Kläger nach seinen Angaben – ohne dabei allerdings einen Zeitraum zu
nennen - in der Zwischenzeit als Staplerfahrer gearbeitet haben will. Zum einen
kommt es für die Beurteilung auf den Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs an.
Zum anderen wäre allein mit der Tatsache der Ausübung dieser Tätigkeit nicht der
Schluss zu ziehen, dass sie dem Kläger gesundheitlich zuträglich ist. Die vom
Kläger überreichten Krankenunterlagen, die bis ins Jahr 2010 reichen, belegen
eher, dass in der Zwischenzeit an der Symptomatik im WS-Bereich keine
Änderung zum Guten eingetreten ist.
- Eine Beschäftigung in der „Kernaufbereitung“ kommt mangels eines freien
Arbeitsplatzes nicht in Betracht. Nach dem unwidersprochen gebliebenen Vortrag
der Beklagten besteht dort nur ein von der schwerbehinderten Frau J besetzter
Dauerarbeitsplatz. Herr G wird dort mangels einer anderweitigen
Beschäftigungsmöglichkeit vorübergehend für 18 Monate, nämlich bis zur
Erreichung der Passsivphase seiner Altersteilzeit, eingesetzt. Wegen eines
Augenleidens kann er nicht mehr zur Arbeit an laufenden Maschinen und damit
auch nicht mehr an seinem langjährigen Arbeitsplatz als Wickler in der Abteilung
Konfektion eingesetzt werden. Daher sollte er sich bis zur Beendigung seines
aktiven Arbeitseinsatzes die Tätigkeit in der Kernaufbereitung mit Frau J teilen. Ein
zweiter Arbeitsplatz wird dort nicht eingerichtet. Selbst wenn hier zwei
Arbeitsplätze existierten, wären sie beide besetzt und eine Umsetzung käme
aufgrund der Umstände in der Person der Arbeitsplatzinhaber nicht in Betracht;
denn beide sind auf einen Leichtarbeitsplatz angewiesen.
- Eine Beschäftigung in der „Kernreparatur“ kommt ebenfalls nicht in Betracht.
Daran wäre nur zu denken gewesen, wenn der Arbeitsplatzinhaber Herr H zum
Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs bereits arbeitsunfähig gefehlt und die
Beklagte gewusst hätte, dass er auf absehbare Zeit nicht wiederkommen bzw. in
die Erwerbsunfähigkeit übergehen werde. Das war nach dem unwidersprochen
gebliebenen Vortrag der Beklagten jedoch nicht der Fall. Herr H war nämlich nur in
der Zeit vom 30.3. – 14.04. und dann erst wieder nach Ausspruch der Kündigung
und dem Ablauf der Kündigungsfrist arbeitsunfähig. Ein Arbeitsplatz stand dort
also zum Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs nicht zur Verfügung. Da beide
Arbeitsplatzinhaber (neben Herrn Y. noch Herr L) schwerbehindert sind, war auch
keine Umsetzung zu erwägen.
- Zu einer Beschäftigung an den EST-Maschinen, die tariflich höher eingestuft und
vergütet wird als die bisherige Tätigkeit des Klägers, war die Beklagte aus
Rechtsgründen nicht verpflichtet. Die Verpflichtung des Arbeitgebers, die
Kündigung durch Beschäftigung auf anderen Arbeitsplätzen zu vermeiden,
beschränkt sich auf alle gleichwertigen Arbeitsplätze, auf denen der betroffene
Arbeitnehmer unter Wahrnehmung des Direktionsrechts einsetzbar wäre (BAG
12.07.2007 – 2 AZR 716/06 Rn. 29). Der Arbeitsplatz an den EST-Maschinen ist
wegen der besseren Bezahlung nicht gleich-, sondern höherwertig und könnte
deshalb auch nicht in Ausübung des Direktionsrechts zugewiesen werden.
- Auf die Beschäftigung bei der F, einem anderen rechtlich selbständigen
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- Auf die Beschäftigung bei der F, einem anderen rechtlich selbständigen
Unternehmen, hat der Kläger keinen Rechtsanspruch. Die Verpflichtung zur
anderweitigen Beschäftigung aus dem Kündigungsschutzgesetz ist auf das
Unternehmen des Arbeitgebers beschränkt. Für einen darüber hinausgehenden
Anspruch bedarf es zusätzlicher Absprachen und Umstände. Ein weitergehender
Beschäftigungsanspruch ergibt sich jedenfalls nicht aus dem Arbeitsvertrag des
Klägers. Er konnte auf entsprechenden Hinweis in der mündlichen Verhandlung
nicht ergänzend darlegen, woraus ein solcher Anspruch abgeleitet werden könnte.
3. Die Kündigung ist auch nicht unwirksam, weil die Beklagte – wie das
Arbeitsgericht bereits ausgeführt hat - kein betriebliches
Eingliederungsmanagement (BEM) nach § 84 Abs. 2 SGB IX durchgeführt hat.
Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG v. 12.07.2007 – 2 AZR
716706), der die Kammer folgt, besteht das Erfordernis zur Durchführung eines
BEM nach § 84 Abs. 2 SGB IX für alle Arbeitnehmer und nicht nur für behinderte
Menschen. Seine Durchführung ist allerdings keine formelle
Wirksamkeitsvoraussetzung für den Ausspruch einer Kündigung. Ein fehlendes
BEM führt nicht per se zur Unwirksamkeit einer krankheitsbedingten Kündigung.
Die Regelung des § 84 Abs. 2 SGB IX stellt jedoch eine Konkretisierung des dem
gesamten Kündigungsschutz innewohnenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes
dar. In seinem Rahmen können anderweitige Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten
zur Vermeidung einer Kündigung entwickelt werden. Die Unterlassung eines BEM
kann daher nur dann zur Unwirksamkeit einer Kündigung führen, wenn bei seiner
Durchführung überhaupt Möglichkeiten einer alternativen (Weiter-)Beschäftigung
bestanden haben, die eine Kündigung vermieden hätten. Im Umkehrschluss folgt
daraus, dass ein unterlassenes BEM einer Kündigung dann nicht entgegensteht,
wen sie auch durch das BEM nicht hätte verhindert werden können. Letzteres ist
der Fall. Die Durchführung eines BEM hätte die ausgesprochene Kündigung nicht
vermieden; denn zum Zeitpunkt der Kündigung bestand, wie bereits ausgeführt,
keine Möglichkeit, den Kläger leidensgerecht weiter zu beschäftigen. Die Beklagte
ist hier auch ihrer gesteigerten Darlegungspflicht hinreichend nachgekommen. Zur
weiteren Begründung zu beiden Punkten wird auf die Ausführungen im
arbeitsgerichtlichen Urteil Bezug genommen.
Der Kläger hat gem. §§ 64 Abs.6 ArbGG, 97 ZPO die Kosten seiner erfolglosen
Berufung zu tragen.
Ein gesetzlich begründeter Anlass für die Zulassung der Revision gem. § 72 Abs. 2
ArbGG war nicht ersichtlich.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.