Urteil des LAG Hamm vom 16.03.2006

LArbG Hamm: arbeitsorganisation, steigerung, wirtschaftlichkeit, arbeitsgericht, einheit, bankgewerbe, restrukturierung, fahrtkosten, begriff, aufsichtsrat

Landesarbeitsgericht Hamm, 8 Sa 2007/05
Datum:
16.03.2006
Gericht:
Landesarbeitsgericht Hamm
Spruchkörper:
8. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
8 Sa 2007/05
Vorinstanz:
Arbeitsgericht Arnsberg, 1 Ca 234/05
Nachinstanz:
Bundesarbeitsgericht, 9 AZR 552/06 Revision zurückgewiesen
29.08.2007
Schlagworte:
Schließung von Bankfilialen / Rationalisierungsschutzabkommen /
Rationalisierungsmaßnahme / wesentliche Änderung der
Arbeitsorganisation
Normen:
TVG § 1; Rationalisierungsschutzabkommen für das Bankgewerbe § 3
Leitsätze:
Zum Begriff der Rationalisierungsmaßnahme nach dem
Rationalisierungsschutzabkommen im Bankgewerbe.
Werden aus Gründen der Produktivitäts-Steigerung insgesamt sechs
von achtzehn Filialen eines Bankinstituts mit der Maßgabe geschlossen,
dass die Kunden von fünf geschlossenen Filialen künftig in anderen
ortsnahen Filialen mitbetreut, hingegen der Kundenstamm der sechsten
Filiale an ein dort ansässiges Bankinstitut übertragen werden soll, steht
dies der Beurteilung als einheitliche Maßnahme der wesentlichen
Änderung der Arbeitsorganisation nicht entgegen.
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts
Arnsberg vom 15.09.2005 - 1 Ca 234/05 - wird auf Kosten der Beklagten
zurückgewiesen.
Die Revision wird zugelassen.
T a t b e s t a n d
1
Die Parteien streiten um einen Anspruch der Klägerin auf Zahlung von Fahrtkosten auf
der Grundlage des Rationalisierungsschutzabkommens für das Bankgewerbe.
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Die Klägerin ist seit dem 01.04.1974 als Kundenberaterin im Service beim beklagten
Kreditinstitut beschäftigt, welches im Sauerland mit Sitz in M2xxxxxx einen
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Kreditinstitut beschäftigt, welches im Sauerland mit Sitz in M2xxxxxx einen
Geschäftsbetrieb mit einer Reihe von Filialen führt. Bis zur Schließung der Filiale
F1xxxxxxx zum 31.12.2003 war die Klägerin in der dortigen Filiale tätig. In der Folgezeit
– ab dem 23.02.2004 – wurde sie in den Filialen B2xxxx und R2xxxxxx eingesetzt. Für
den Weg zur Arbeit benutzt die Klägerin ihr Privatfahrzeug. Auf der Grundlage einer
Betriebsvereinbarung erhielt die Klägerin für drei Monate eine Fahrtkostenerstattung.
Für den Folgezeitraum (17.08.2004 bis 16.05.2005) macht die Klägerin weitere
Ansprüche auf Fahrtkostenerstattung auf der Grundlage des
Rationalisierungsschutzabkommens geltend. Inwiefern es sich bei der Schließung der
Filiale F1xxxxxxx für sich genommen oder im Zusammenhang mit weiteren fünf
Filialschließungen im selben zeitlichen Zusammenhang um eine Rationalisierungs-
maßnahme im Sinne des Tarifvertrages handelt, ist unter den Parteien streitig.
Die tarifliche Regelung enthält insoweit in § 3 folgende
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Begriffsbestimmung
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Rationalisierungsmaßnahmen i.S. dieses Tarifvertrages sind wesentliche
Änderungen der Arbeitstechnik oder der Arbeitsorganisation zur Steigerung der
Wirtschaftlichkeit des Unternehmens, sofern diese zu Versetzungen,
Herabgruppierungen oder Kündigungen führen.
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Die Klägerin ist der Auffassung, die Schließung der Filiale F1xxxxxxx sei insbesondere
unter Berücksichtigung der von der Beklagten verfassten Mitteilung vom 16.05.2003 (Bl.
46 d.A.) als Teil eines einheitlichen Rationalisierungskonzeptes anzusehen. Die dort
angesprochene Restrukturierung des Filialnetzes mit dem Ziel der
Produktivitätserhöhung durch Verschlankung der Strukturen, Kostenreduzierung durch
Schließung von Filialen, Aufbau eines Außendienstes usf. betreffe in gleicher Weise die
Schließung der Filiale F1xxxxxxx wie auch die zeitgleich oder kurzfristig danach
umgesetzte Schließung weiterer kleiner Filialen. Demgegenüber hat die Beklagte
vorgetragen, im Gegensatz zu den übrigen Filialschließungen gehe es in Bezug auf die
Filiale F1xxxxxxx nicht um eine Straffung der Arbeitsorganisation in der Weise, dass die
Kunden künftig in nahegelegenen anderen Filialen weiterbetreut würden, vielmehr sei
die Besonderheit zu beachten, dass die vormals in der Filiale F1xxxxxxx betreuten
Kunden auf die – an diesem Ort ebenfalls mit einer Filiale vertretene – V1xxxxxxx
S6xxxxxxxxxxx übergeleitet werden sollten. Damit werde der Vorgabe des
Bundesverbandes der Volks- und Raiffeisenbanken entsprochen, Doppelpräsenzen von
Volksbanken an einem Ort zu vermeiden. Ohnehin habe die Filiale F1xxxxxxx räumlich
außerhalb des hauptsächlichen Geschäftsgebiets gelegen, welches sich – in etwa dem
Verlauf der Ruhr folgend – von W2xxxxxxxxxxxxx über B2xxxx, O3xxxxx, B3xxxxx,
M2xxxxxx, B4xxx, S9xxxxx, A2xxxxxx bis N2xxxx erstrecke. Schon aus diesem Grunde
sei die Schließung der Filiale F1xxxxxxx keineswegs Teil einer behaupteten
"Gesamtstrategie". Bereits im Jahre 1999 sei nämlich die Schließung der Filiale
F1xxxxxxx nebst Übertragung des Kundenstammes auf die V1xxxxxxx S6xxxxxxxxxxx
erwogen worden, wohingegen der Entschluss zur Straffung des Filialnetzes und zur
Schließung weiterer fünf Filialen erst im Frühjahr 2003 getroffen worden sei. Damit fehle
es aber hinsichtlich der Schließung der Filiale F1xxxxxxx mit nur einem Mitarbeiter am
Merkmal der "wesentlichen" Änderung der Arbeitsorganisation.
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Durch Urteil vom 15.09.2005 (Bl. 74 ff.), auf welches wegen des weiteren
erstinstanzlichen Parteivorbringens Bezug genommen wird, hat das Arbeitsgericht die
Beklagte antragsgemäß zur Zahlung von Fahrtkostenerstattung in Höhe von 853,20 €
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und 842,40 € nebst Zinsen verurteilt. Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt
worden, unter Berücksichtigung des an die Mitarbeiter gerichteten Schreibens vom
16.05.2003 stelle sich die Schließung der Filiale B5x F1xxxxxxx nicht als
Einzelmaßnahme dar, sondern stehe mit der Schließung der weiteren fünf Filialen in
Zusammenhang und unterfalle aus diesem Grunde dem
Rationalisierungsschutzabkommen. Die Neuordnung des Filialnetzes stelle insgesamt
eine wesentliche Änderung der Arbeitsorganisation dar. Nicht anders als die übrigen
Filialschließungen diene auch die Schließung der Filiale F1xxxxxxx der Beseitigung
veralteter und zu teurer Strukturen, insgesamt gehe es bei den Filialschließungen um
eine Straffung der Arbeitsorganisation mit dem Ziel einer Steigerung der
Wirtschaftlichkeit. Allein die Tatsache, dass die Schließung der Filiale F1xxxxxxx
bereits im Jahre 1999 im Hinblick auf die dortige Doppelpräsenz in Erwägung gezogen
worden sei, ändere nichts daran, dass die Schließung auch dieser Filiale nach den
eigenen Erklärungen der Beklagten als Teil eines Gesamtkonzeptes angesehen werden
müsse. Die Notwendigkeit, die von einer Filial-Schließung betroffenen Mitarbeiter
anderen Filialen zuzuordnen und die bislang betreuten Kunden einer anderen Filiale
der Beklagten oder einer anderen V1xxxxxxx zuzuordnen, belege die wesentliche
Änderung der Arbeitsorganisation. Dies gelte erst recht bei einer Gesamtbetrachtung
unter Einbeziehung aller Filialschließungen mit sechs von achtzehn Filialen.
Mit ihrer rechtzeitig eingelegten und begründeten Berufung wendet sich die Beklagte
gegen den Standpunkt des arbeitsgerichtlichen Urteils zum Vorliegen einer
wesentlichen Änderung der Arbeitsorganisation. Zu Unrecht habe das Arbeitsgericht
pauschal auf die Anzahl der geschlossenen Zweigstellen abgestellt, ohne hierbei die
Tatsache zu berücksichtigen, dass infolge der Schließung der Filiale F1xxxxxxx mit der
Klägerin allein eine von etwa 160 Arbeitnehmern betroffen sei. Auch im Hinblick auf den
Kundenstamm der Filiale F1xxxxxxx komme der getroffenen Maßnahme keine
Bedeutung zu. Hierzu weist die Beklagte auf den Umstand hin, dass der V1xxxxxxx
S6xxxxxxxxxxx die Übernahme der vertraglichen Beziehungen zu 960 Kunden mit
einem Basisvolumen von ca. 5,5 Millionen €uro angeboten worden sei, wovon diese
tatsächlich ein Volumen von ca. 2,8 Millionen €uro übernommen habe. Im Verhältnis
zum Gesamtvolumen der Kundenbeziehungen der Beklagten mit ca. 643 Millionen €uro
trete die Bedeutung des Kundenstamms F1xxxxxxx vollständig zurück. Zu Unrecht habe
das Arbeitsgericht bei der vorgenommenen "Gesamtbetrachtung" die Besonderheit
unberücksichtigt gelassen, dass es in Bezug auf die Filiale F1xxxxxxx nicht um eine
Straffung des Filialnetzes unter Aufrechterhaltung der Kundenbeziehungen gehe,
vielmehr sei wegen der bestehenden Doppelpräsenz der Geschäftsbereich
entsprechend eingeschränkt worden. Im Unterschied hierzu stelle die Schließung der
anderen kleineren Filialen keinen Rückzug aus der Fläche dar, sondern diene allein der
Bereinigung der einzelnen Filialzuständigkeiten. Auch aus dem Schreiben der
Beklagten an ihre Mitarbeiter vom 16.05.2003 könne der angeblich einheitliche
Charakter der Maßnahme im Sinne einer "wesentlichen" Änderung der
Arbeitsorganisation nicht hergeleitet werden. Das genannte Schreiben belege deutlich
die unterschiedliche Motivation und Umsetzung der beabsichtigten Maßnahmen, so
dass von einem "einheitlichen Konzept" keine Rede sein könne. Auch wenn es
möglicherweise zutreffe, dass der Aufsichtsrat sowohl die Schließung der Filiale
F1xxxxxxx als auch die weitere Straffung des Filialnetzes zeitgleich in einer
Aufsichtsratssitzung beschlossen habe, könne hieraus nicht auf einen einheitlichen
Charakter der Maßnahmen geschlossen werden. Jedenfalls in Bezug auf die Filiale
F1xxxxxxx fehle es dementsprechend an einer wesentlichen Änderung der
Arbeitsorganisation, so dass für die begehrte Fahrtkostenerstattung keine
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Rechtsgrundlage bestehe.
Die Beklagte beantragt,
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das Urteil des Arbeitsgerichts Arnsberg vom 15.09.2005 –1 Ca 234/05 –
abzuändern und die Klage abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie verteidigt die arbeitsgerichtliche Entscheidung unter Wiederholung und Vertiefung
ihres Vorbringens als zutreffend. Soweit die Beklagte angebliche Besonderheiten der
Schließung der Filiale F1xxxxxxx aus dem Gesichtspunkt der "Doppelpräsenz" herleiten
wolle, könne dies schon deshalb nicht überzeugen, weil an zahlreichen weiteren
Standorten ebenfalls derartige Doppelpräsenzen – etwa zu Filialen der V1xxxxxxx
A2xxxxxx-S9xxxxx, der V1xxxxxxx B2xxxx oder der S10xxx-Bank O4xxxxxxx –
bestünden, ohne dass dieser Gesichtspunkt zu Filialschließungen geführt habe.
Übergreifender Gesichtspunkt der Filialschließungen sei vielmehr der Umstand, dass
durchweg nur Filialen mit geringer Personalstärke von der
Umstrukturierungsmaßnahme betroffen gewesen seien. In Anbetracht der Tatsache,
dass im Bankgeschäft die Präsenz in der Fläche besondere Bedeutung besitze, könne
die Reduzierung des Filialnetzes um 33% – unabhängig von der Zahl der betroffenen
Mitarbeiter – nicht als unwesentlich angesehen werden. Nicht nur für die betroffenen
Kunden, sondern auch für die beschäftigten Mitarbeiter bedeute dies eine wesentliche
Änderung im Hinblick auf die bestehende Arbeitsorganisation, wie etwa an dem
Umstand deutlich werde, dass die Beklagte für Kunden, welche künftig größere
Entfernungen zur nächsten Filiale zurückzulegen hätten, einen kostenlosen
Bargeldservice nach Hause eingerichtet habe.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
15
Die Berufung der Beklagten bleibt ohne Erfolg.
16
I
17
In Überstimmung mit dem arbeitsgerichtlichen Urteil kann die Klägerin die Zahlung von
Fahrtkosten auf der Grundlage der Tarifvereinbarung zur Absicherung von
Arbeitsplätzen und Einkommen bei Rationalisierungsmaßnahmen
(Rationalisierungsschutzabkommen) verlangen.
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Die Versetzung der Klägerin aus Anlass der Schließung der Filiale F1xxxxxxx beruht
nämlich auf einer Rationalisierungsmaßnahme im Sinne des Tarifvertrages. Auch wenn
die Schließung der Einzelfiliale F1xxxxxxx für sich genommen die fraglichen
Tarifmerkmale nicht erfüllt (1), ergibt sich doch unter Einbeziehung der weiteren fünf
Filialschließungen, welche ihrerseits mit einer wesentlichen Änderung der
Arbeitsorganisation einhergehen (2), dass bei der auf den Betrieb insgesamt bezogenen
Betrachtung unter den hier vorliegenden Umständen von einer einheitlichen Maßnahme
der wesentlichen "Änderung der Arbeitsorganisation zur Steigerung der
Wirtschaftlichkeit des Unternehmens" im Tarifsinne auszugehen ist (3).
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1. Die Schließung der Filiale F1xxxxxxx allein kann allerdings nicht als wesentliche
Änderung der Arbeitsorganisation im Tarifsinne aufgefasst werden.
20
a) Richtig ist zwar, dass mit der Aufgabe der Filiale F1xxxxxxx und der Neuordnung der
bestehenden Kundenbeziehungen eine Änderung der Arbeitsorganisation einhergeht,
indem jedenfalls diejenigen Kunden, welche von der V1xxxxxxx S6xxxxxxxxxxx nicht
übernommen wurden, sondern weiterhin Kunden der Beklagten geblieben sind,
nunmehr von den Mitarbeitern anderer Filialen mitbetreut werden. Demgegenüber ist die
Tatsache, dass die Beklagte an sich bestrebt war, sämtliche Kunden der Filiale
F1xxxxxxx abzugeben und sich dementsprechend ersatzlos aus diesem Einzugsbereich
zurückzuziehen, für die rechtliche Beurteilung nicht entscheidend. Dementsprechend
kann offenbleiben, ob etwa in der vollständigen Aufgabe der Geschäftsbeziehungen zu
den Kunden der vormaligen Filiale F1xxxxxxx eine Änderung der Arbeitsorganisation im
Tarifsinne läge.
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b) Bezogen allein auf die Schließung der Filiale F1xxxxxxx fehlt es aber am Merkmal
der "wesentlichen" Änderung. Sowohl nach dem Umsatz der Filiale F1xxxxxxx als auch
nach der Anzahl der beschäftigten Mitarbeiter sind wesentliche Auswirkungen der
Maßnahme auf die bestehende Arbeitsorganisation nicht erkennbar. Dies gilt auch,
wenn nicht auf die Anzahl der betroffenen Mitarbeiter, sondern auf den Einfluss der
Maßnahme auf die Größe des Filialnetzes abgestellt wird. In seiner Entscheidung vom
26.09.2001 – 4 AZR 540/00 – hat das Bundesarbeitsgericht weder einen Abbau der
Belegschaft mit 40 von 260 Arbeitnehmern noch die Schließung von fünf von 63 Filialen
als wesentliche Änderung der Arbeitsorganisation angesehen, ohne allerdings hier feste
Grenzen aufzustellen und die für die Beurteilung maßgeblichen Gesichtspunkte näher
auszuführen. Für den vorliegenden Fall kann in der Schließung einer von 18 Filialen
unter Einbeziehung der vorstehenden Ausführungen jedenfalls keine wesentliche
Änderung der Arbeitsorganisation angenommen werden.
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2. Die Schließung der weiteren fünf Filialen erfüllt demgegenüber, auch wenn es sich
insoweit um kleinere Filialen handelt, den Begriff der Rationalisierungsmaßnahme im
Sinne des Tarifvertrages.
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a) Der Begriff der Arbeitsorganisation umfasst dabei das betriebliche Ordnungsgefüge
für die im Betrieb arbeitenden Menschen, wobei sich die konkrete Arbeitsorganisation
aus dem vorgegebenen Aufbau des einzelnen Betriebs ergibt und die Gliederung der
Abteilungen, der Verteilung der Zuständigkeiten, die Zentralisierung oder
Dezentralisierung usw. beinhaltet (so die Kommentierung zum
Rationalisierungsschutzabkommen, 5. Aufl., § 3 RSA Anm. b).
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b) Unter welchen Voraussetzungen bereits der reine Personalabbau als
Rationalisierungsmaßnahme im Sinne des Tarifvertrages anzusehen und hierfür
gegebenenfalls als Maßstab auf die Zahlenangaben des § 17 KSchG zurückzugreifen
ist, bedarf keiner Entscheidung. Auch ohne Berücksichtigung der Anzahl der betroffenen
Arbeitnehmer ergibt sich nämlich eine Änderung der Arbeitsorganisation schon daraus,
dass die konkrete Arbeitsorganisation durch die Entscheidung, ob die Kunden in einer
ortsnahen Filiale betreut oder – insgesamt bzw. für spezielle Bankgeschäfte – auf eine
größere Filiale verwiesen werden, unmittelbare Auswirkungen auch auf die Abwicklung
der Arbeit der im Kundengeschäft eingesetzten Arbeitnehmer hat. Die bislang in einer
Filiale betreuten Kunden werden zwar weiterhin – wie aus der Kundeninformation vom
08.10.2003 (Bl. 155 d.A.) ersichtlich – möglichst von dem vertrauten Mitarbeiter betreut,
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die Eingliederung von Kundenbeziehung und Mitarbeiter geht jedoch mit einer
entsprechenden Änderung der Arbeitsorganisation in der entsprechend vergrößerten
Filiale einher.
c) Für die Frage, inwiefern die Änderung der Arbeitsorganisation als wesentlich
anzusehen ist, müssen die besonderen Umstände des Einzelfalles berücksichtigt
werden. Vorliegend geht es um eine Volksbank mit räumlich weit ausgedehntem und
zum Teil auch ländlich strukturiertem Einzugsbereich. Dies erfordert für die ortsnahe
Kundenbetreuung ein entsprechend verzweigtes Netz von Filialen, welche u.U. nur über
einen relativ kleinen Kundenkreis und eine entsprechend geringe Mitarbeiterzahl
verfügen. Dementsprechend wirkt sich die Straffung des Filialnetzes sowohl auf die
Kundenbeziehung als auch auf die Organisation der Arbeit weitaus stärker aus, als dies
etwa auf das Filialnetz eines großstädtischen Bankinstituts zutrifft. Die Eingliederung
kleinerer Filialen in größere Organisationseinheiten hat zugleich Auswirkungen auf die
innerbetriebliche Hierarchie und Aufgabenverteilung. Vorliegend geht es mit der
Schließung fünf kleinerer Filialen zwar nicht um eine vollständige Zentralisierung des
Bankgeschäfts oder gar um eine Umwandlung einer Filialbank in ein Bankinstitut ohne
Außenstellen. Dies ändert aber nichts an den dargestellten Auswirkungen auf die
bestehende Arbeitsorganisation und an dem Umstand, dass – anders als bei isolierter
Betrachtung der Verhältnisse der Filiale F1xxxxxxx – hier etwa ein Drittel des
Filialbestandes eingespart wird mit der Folge, dass in zahlreichen – nunmehr
vergrößerten – Filialen die Arbeitsorganisation entsprechenden Veränderungen
unterliegt. Anders als im Falle der Betriebsänderung gemäß § 111 BetrVG erfordert die
Rationalisierungsmaßnahme im Tarifsinn keine "grundlegende" Änderung der
Betriebsorganisation. Mit der Beschränkung auf "wesentliche" Änderungen soll vielmehr
allein zum Ausdruck gebracht werden, dass nicht jede noch so geringfügige Änderung
der Arbeitsabläufe, auch wenn sie im Einzelfall Versetzungen o.ä. zur Folge hat,
Ansprüche nach dem Rationalisierungsschutzabkommen auslösen soll. Die Straffung
des Filialnetzes im ländlichen Bereich um nahezu ein Drittel erfüllt unter diesen
Umständen das Merkmal der "wesentlichen" Änderung der Arbeitsorganisation.
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3. Die Kammer folgt im Ergebnis auch der rechtlichen Beurteilung des Arbeitsgerichts
zum Vorliegen einer einheitlichen Rationalisierungsmaßnahme, welche – neben der
Schließung der fünf weiteren Filialen – auch die Schließung der Filiale F1xxxxxxx
umfasst.
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a) Allein die Tatsache, dass bei isolierter Betrachtung eine vom Arbeitgeber
vorgenommene Änderung der Arbeitsorganisation nicht das tarifliche Merkmal der
"Wesentlichkeit" erfüllt, weil etwa die Schließung einer einzelnen Filiale in Bezug auf
die Gesamtorganisation nur unbedeutend erscheint, schließt es nicht aus, dass durch
die Zusammenfassung mehrerer, u.U. unterschiedlich motivierter und ausgestalteter
Organisationsänderungen doch die Bedeutung einer wesentlichen Änderung der
Arbeitsorganisation und damit einer Rationalisierungsmaßnahme im Sinne des
Tarifvertrages erreicht wird. Auch bei einer Vielzahl von Filialschließungen werden in
der Regel für die zugrundeliegenden unternehmerischen Entscheidungen die
individuellen Gegebenheiten der betroffenen Einheit entscheidend sein, ohne dass
damit eine zusammenfassende Beurteilung als Rationalisierungsmaßnahme
ausscheidet. Dies mag etwa die Frage betreffen, ob bestimmte Bankgeschäfte nur in der
Zentrale oder in größeren (eventuell erst durch die Straffung des Filialnetzes
vergrößerten) Filialen erledigt werden oder ob die Zusammenlegung von Filialen allein
Änderungen in personeller Hinsicht – mit Auswirkungen auf die Arbeitsorganisation –
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nach sich zieht. Wollte man im Hinblick auf die individuellen Besonderheiten einzelner
Filialen die Frage nach dem Vorliegen einer Rationalisierungsmaßnahme jeweils auf
die einzelne Einheit beziehen, liefe dies auf eine Atomisierung der Arbeitsorganisation
hinaus und würde so den vom Tarifvertrag angestrebten Rationalisierungsschutz
weitestgehend entwerten. Dement-sprechend kann auch die Tatsache, dass die Kunden
der betroffenen Filialen jeweils mit unterschiedlich gestalteten Schreiben über die
anstehenden Veränderungen informiert worden sind, nicht dazu führen, dass lediglich
eine Vielzahl unwesentlicher Änderungen der Arbeitsorganisation vorliegt.
b) Ebenso wenig steht einer zusammenfassenden Beurteilung der durchgeführten
Filialschließungen die Tatsache entgegen, dass die Überlegungen zur Schließung der
Filiale F1xxxxxxx bereits seit längerer Zeit im Raum standen, hingegen die Straffung
des Filialnetzes im Übrigen erst in jüngerer Zeit Gegenstand entsprechender
Rationalisierungserwägungen war. Ersichtlich sind die Vorüberlegungen zur
Schließung der Filiale F1xxxxxxx im Hinblick auf die dortige Doppelpräsenz seit dem
Jahre 1999 nicht zeitnah umgesetzt worden, vielmehr muss mangels abweichender
Angaben davon ausgegangen werden, dass die endgültige Entscheidung zur
Umsetzung dieser Maßnahme erst zu demselben Zeitpunkt getroffen worden ist, als
auch die Entscheidung über die Schließung der weiteren Filialen anstand. Auf Befragen
hat die Beklagte ausdrücklich erklärt, es könne durchaus zutreffen, dass die
Entscheidung des Aufsichtsrates über sämtliche im fraglichen Zeitraum anstehende
Filialschließungen in einer Sitzung des Aufsichtsrates beschlossen worden sei; hierauf
komme es aus rechtlichen Gründen nicht an, weshalb von weiterem Vortrag abgesehen
werde. Auch wenn die Frage der zeitlich einheitlichen Entschließung des Aufsichtsrates
für sich genommen nicht dafür entscheidend sein kann, ob die durchgeführten
Änderungen der Arbeitsorganisation insgesamt als wesentlich anzusehen sind, liegt
hierin doch immerhin ein Indiz dafür, dass nicht etwa sukzessive mehrere voneinander
vollständig unabhängige Schritte zur Steigerung der Wirtschaftlichkeit des
Unternehmens ergriffen wurden, vielmehr die Maßnahmen sich als Teil eines
Gesamtkonzeptes darstellen.
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Dies deckt sich zugleich mit dem Inhalt der Mitarbeiterinformation vom 16.05.2003, in
welcher ebenfalls die durchgeführten Maßnahmen unter dem Oberbegriff einer
Restrukturierung des Filialnetzes aufgeführt sind.
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c) Richtig ist allerdings, dass die Organisationsänderung, welche die Filiale F1xxxxxxx
betrifft, sich von den übrigen Filialschließungen dadurch unterscheidet, dass das
Bankgeschäft am Standort F1xxxxxxx von Seiten der Beklagten letztlich aufgegeben
werden soll, wohingegen die Kundenbeziehungen hinsichtlich der übrigen
geschlossenen Filialen aufrechterhalten bleiben und – unter Änderung der
Arbeitsorganisation – zusätzlich in den nahegelegenen größeren Filialen weitergepflegt
werden sollen. Abgesehen davon, dass der vollständige Rückzug aus F1xxxxxxx allein
das Neugeschäft betrifft, wohingegen ein Teil der Bestandskunden der vormaligen
Filiale F1xxxxxxx der Beklagten – wenn auch eher unfreiwillig – erhalten geblieben
sind, weil die V1xxxxxxx S6xxxxxxxxxxx an einer vollständigen Übernahme des
Kundenstammes nicht interessiert war, stehen die aufgeführten Besonderheiten der
Einbeziehung in eine übergreifende Rationalisierungsmaßnahme im Sinne des
Rationalisierungstarifvertrages nicht entgegen. Geht man im Anschluss an die bereits
zitierte Kommentierung des Rationalisierungsschutzabkommens davon aus, dass sich
die konkrete Arbeitsorganisation, um deren Änderung es geht, nicht etwa auf den
Arbeitsplatz, eine einzelne Abteilung oder unselbständige Betriebsteile, sondern auf
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den vorgegebenen Aufbau des Betriebes mit seiner Gliederung der Abteilungen
einschließlich der Zentralisierung oder Dezentralisierung von Aufgaben bezieht, so
kann das Vorliegen einer Änderung der Arbeitsorganisation nicht schon damit verneint
werden, durch die Schließung der Filiale falle diese mit ihrer Arbeitsorganisation
vollständig weg, so dass für eine Änderung kein Raum sei. Bezogen auf den Betrieb der
Bank insgesamt bedeutet dies, dass zum Aufbau der Arbeitsorganisation nicht allein die
Zuordnung des vorhandenen Kundenstamms und einzelner Geschäftszweige zu
Abteilungen und Filialen gehört, vielmehr ist die betriebliche Arbeitsorganisation auch
betroffen, wenn etwa der Geschäftsbetrieb durch Eröffnung weiterer Filialen in und
außerhalb des bisherigen räumlichen Geschäftsgebiets erweitert oder umgekehrt
bestehende Filialen im Sinne eines Rückzuges aus der Fläche geschlossen werden,
sei es mit dem Ziel der Zentralisierung, sei es im Sinne einer Neubestimmung des
räumlichen Geschäftsgebiets unter Aufgabe bestehender Kundenkontakte – etwa in
vereinbarter "Gebietsaufteilung" mit verbundenen oder konkurrierenden Unternehmen.
Demgemäß kann auch die Schließung unrentabler Filialen mit der "Veräußerung" des
bislang dort betreuten Kundenstamms als Teil einer umfassenden Änderung der
Arbeitsorganisation zur Steigerung der Wirtschaftlichkeit des Unternehmens angesehen
werden. Auch im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs wird eine Maßnahme, bei
welcher sich der Arbeitgeber aus wirtschaftlichen Gründen zum Wegfall bestimmter
betrieblicher Funktionen oder zur Schließung von Abteilungen entschließt, als
Rationalisierungsmaßnahme in dem Sinne verstanden, die entsprechenden
Arbeitsplätze seien "wegrationalisiert". Neben dem Gesichtspunkt der "rationelleren
Arbeitsweise", welche vornehmlich Änderungen der Arbeitstechnik betrifft, ist nach
allgemeinem Sprachgebrauch wie auch nach der Begriffsbestimmung des § 3 des
Rationalisierungsschutzabkommens danach die ersatzlose Schließung unrentabler
Arbeitseinheiten als Änderung der Arbeitsorganisation zur Steigerung der
Wirtschaftlichkeit des Unternehmens anzusehen.
d) Nach alledem rechtfertigen allein die unterschiedlichen Gründe wie auch die
unterschiedlichen Auswirkungen der einzelnen Filialschließungen es nicht, bei der
Anwendung des Rationalisierungsschutzabkommens bei einer entsprechenden
Einzelbetrachtung stehen zu bleiben. Vielmehr sprechen das einheitliche Ziel, durch
Verschlankung des Filialnetzes eine Produktivitätserhöhung zu erreichen, des weiteren
die einheitliche Außendarstellung der "Restrukturierungsmaßnahmen" gegenüber
Mitarbeitern und Kundschaft sowie schließlich die äußere Einheit der vom Aufsichtsrat
zeitgleich beschlossenen Maßnahmen dafür, auf die Gesamtkonzeption der
Organisationsänderung abzustellen, welche – mit durchaus verschiedenartigen
Maßnahmen – dem gesetzten Ziel dient, "das Schiff V1xxxxxxx Sauerland auf einen
zukunftsorientierten Kurs zu bringen".
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Auch die Beklagte selbst spricht im Schreiben vom 16.05.2003 von der "Umsetzung"
einer zuvor festgelegten Strategie, als deren nächste Stufe die "Restrukturierung des
Filialnetzes" durchgeführt werde. Die einzelnen Maßnahmen, nämlich der Verkauf der
Filiale F1xxxxxxx an die V1xxxxxxx S6xxxxxxxxxxx sowie die Schließung der weiteren
genannten Filialen wird mit den Worten "das bedeutet ..." als Umsetzung der
beschlossenen Restrukturierungsmaßnahme dargestellt. Dem Schreiben vom
16.05.2003 sind zwar die unterschiedlichen Formen der gewählten Maßnahmen zu
entnehmen. Davon, dass die Schließung der Filiale F1xxxxxxx hiermit nichts zu tun
habe, wie die Beklagte im vorliegenden Rechtsstreit geltend macht, enthält das
Schreiben vom 16.05.2003 keinerlei Anhaltspunkte. Auch bei der Darstellung der
Auswirkungen der aufgeführten Maßnahmen auf die betroffenen Mitarbeiter wird die
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schriftsätzlich vorgetragene Differenzierung zwischen den Maßnahmen nicht erkennbar,
vielmehr wird betont, dass alle (von den Filialschließungen) betroffenen Mitarbeiter zur
Bewältigung der Aufgaben benötigt werden. Dies setzt denknotwendig Änderungen der
Arbeitsorganisation zur Integration der betroffenen Kräfte voraus, wobei es für die
betroffenen Mitarbeiter keinen Unterschied macht, ob die geschlossene Filiale unter
Beibehaltung des Kundenstammes oder unter Übertragung des Kundenstammes auf ein
anderes Bankinstitut erfolgt.
4. Zusammenfassend muss nach alledem von einer übergreifenden, keinesfalls auf die
Filiale F1xxxxxxx beschränkten Änderung der Arbeitsorganisation ausgegangen
werden, welche sich aus den dargestellten Gründen als Rationalisierungsmaßnahme im
Sinne des Tarifvertrages darstellt. Nach § 6 des Tarifvertrages stehen der Klägerin auf
dieser Grundlage die begehrten Fahrtkosten zu. Über die Berechnung der
Klageforderung besteht unter den Parteien kein Streit.
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II
35
Die Kosten der erfolglosen Berufung hat die Beklagte zu tragen.
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III
37
Die Kammer hat die Revision gegen das Urteil gemäß § 72 Abs. 2 ArbGG zugelassen.
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Dr. Dudenbostel
Türk
Rathmann.
39
/Spo
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