Urteil des LAG Hamm vom 25.11.2010

LArbG Hamm (kläger, kündigung, in angemessener weise, ordentliche kündigung, arbeitsfähigkeit, prognose, beurteilung, arbeitgeber, tätigkeit, arbeitsgericht)

Landesarbeitsgericht Hamm, 8 Sa 1492/10
Datum:
25.11.2010
Gericht:
Landesarbeitsgericht Hamm
Spruchkörper:
8. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
8 Sa 1492/10
Vorinstanz:
Arbeitsgericht Paderborn, 3 Ca 863/08
Nachinstanz:
Bundesarbeitsgericht, 2 AZN 147/11
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts
Paderborn vom 31.03.2010 – 3 Ca 863/08 – wird auf Kosten des Klägers
zurückgewiesen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Mit seiner Klage wendet sich der im Jahre 1968 geborene, verheiratete und gegen-über
einem Kind zum Unterhalt verpflichtete Kläger, welcher seit dem 01.07.2004 bei der
Beklagten als Außendienstmitarbeiter für Kinderartikel gegen ein monatliches
Bruttoeinkommen von 4.800,-- € beschäftigt ist, gegen die Beendigung seines
Arbeitsverhältnisses durch ordentliche, personenbedingte Kündigung vom 28.04.2008
mit Wirkung zum 31.05.2008.
2
Die angegriffene Kündigung stützt die Beklagte, welche mehr als 10 Arbeitnehmer
beschäftigt, auf die Behauptung, der Kläger sei aufgrund seines am 06.06.2007
erlittenen Motorradunfalls endgültig und dauerhaft außer Stande, seine Tätigkeit als
Vertreter im Außendienst für Kinderartikel wahrzunehmen. Dies habe der Kläger selbst
der Beklagten mitgeteilt. Auch die Tatsache, dass der Kläger nach wie vor
arbeitsunfähig krank geschrieben sei, stütze die Prognose des dauerhaften
Leistungsunvermögens, zumindest sei im Kündigungszeitpunkt die Wiedererlangung
der Arbeitsfähigkeit binnen eines Zeitraums von 24 Monaten vollständig ungewiss
gewesen.
3
Durch Urteil vom 31.03.2010 (Bl. 219 ff. d.A.), auf welches wegen des weiteren
erstinstanzlichen Parteivorbringens und der gestellten Anträge Bezug genommen wird,
hat das Arbeitsgericht nach Einholung eines Sachverständigengutachtens (Bl. 143 ff. d.
A.) gemäß Beweisbeschluss vom 14.07.2009 (Bl. 138 d. A.) und nach uneidlicher
zeugenschaftlicher Vernehmung des Vertriebsleiters B3 die Klage abgewiesen. Zur
Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt worden, zwar habe das eingeholte
4
Sachverständigengutachten die von der Beklagten behauptete negative
Zukunftsprognose nicht bestätigt, sondern sei zu dem Ergebnis gelangt, im Zeitpunkt der
Kündigung – zehn Monate nach dem Unfall - sei die weitere Entwicklung des
Heilungsprozesses nicht sicher absehbar gewesen. Wie die Vernehmung des Zeugen
B3 indessen ergeben habe, habe der Kläger selbst der Beklagten mitgeteilt, er werde
aufgrund der erlittenen Verletzungen nicht mehr in der Lage sein, seine Arbeitsleistung
zu erbringen; die durchgeführte Kur habe ihm klar gemacht, dass er seinen Beruf nicht
mehr werde ausüben können. Auf diese Erklärung habe sich die Beklagte bei ihrer
Einschätzung, ob und wann mit einer Rückkehr des Klägers an den Arbeitsplatz zu
rechnen sei, verlassen können, da ihr andere und abweichende Grundlagen für die
erforderliche Zukunftsprognose nicht zur Verfügung gestanden hätten. Darüber hinaus
zeige auch die nachträgliche Entwicklung nach Ausspruch der Kündigung, dass sich die
vom Kläger selbst mitgeteilte Prognose weiter verfestigt habe. Auch nach Ablauf von
nahezu zwei Jahren nach Ausspruch der Kündigung sei der Kläger weiter
arbeitsunfähig erkrankt, ohne dass eine Genesung absehbar sei. Unter diesen
Umständen liege eine erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen bereits
in dem Umstand, dass im Kündigungszeitpunkt die Wiederherstellung der
Arbeitsfähigkeit völlig ungewiss und die Arbeitsleistung des Klägers nicht einplanbar
gewesen sei. Da ein milderes Mittel zur Vermeidung der Kündigung nicht ersichtlich sei,
halte die ausgesprochene Kündigung auch der durchzuführenden Interessenabwägung
stand.
Mit seiner rechtzeitig eingelegten und begründeten Berufung hält der Kläger an seinem
Standpunkt zur Sozialwidrigkeit der Kündigung fest. Zu Unrecht habe das Arbeitsgericht
entscheidend auf die persönlichen Angaben des Klägers im Vorfeld der Kündigung
abgestellt. In Anbetracht der Tatsache, dass der Kläger als medizinischer Laie zu einer
objektiven Beurteilung der Genesungsaussichten erkennbar nicht in der Lage gewesen
sei, könne weder durch die Äußerungen des Klägers noch durch die der Kündigung
nachfolgende Entwicklung die vom Sachverständigen getroffene Feststellung beiseite
geschoben werden, im Zeitpunkt der Kündigung habe weder ein dauerhaftes
Leistungsunvermögen des Klägers festgestanden, noch sei vollständig ungewiss
gewesen, ob der Kläger binnen 24 Monaten seine Arbeitsfähigkeit wiedererlangen
werde. Unter diesen Umständen könne weder von einer erheblichen Beeinträchtigung
betrieblicher Interessen ausgegangen werden, noch sei es der Beklagten im Rahmen
der gebotenen Interessenabwägung unzumutbar gewesen, den weiteren
Heilungsverlauf abzuwarten.
5
Der Kläger beantragt,
6
1. das am 31.03.2010 verkündete Urteil des Arbeitsgerichts Paderborn – 3
Ca 863/08 – wird aufgehoben,
7
2. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis des Klägers durch die
schriftliche Kündigung der Beklagten vom 28.04.2008, zugegangen am
29.04.2008, zum Ablauf des 31.05.2008 nicht aufgelöst worden ist.
8
Die Beklagte beantragt,
9
die Berufung zurückzuweisen.
10
Sie verteidigt die arbeitsgerichtliche Entscheidung unter Wiederholung und Vertiefung
11
ihres erstinstanzlichen Vorbringens als zutreffend und tritt insbesondere dem
Standpunkt des arbeitsgerichtlichen Urteils bei, schon aufgrund der eigenen
Äußerungen des Klägers vor Ausspruch der Kündigung habe die Beklagte zu Recht von
einer negativen Gesundheitsprognose ausgehen müssen. Nachdem der Kläger nicht
lediglich eine allgemeine subjektive Einschätzung abgegeben, sondern die Diagnosen
der Ärzte und ihre Auswirkungen auf den Gesundheitszustand mitgeteilt und konkret
erklärt habe, aus ärztlicher Sicht könne er nicht mehr seinen Beruf ausüben und werde
nicht mehr zurückkommen, habe die Beklagte auf dieser Grundlage keine andere
Prognose treffen können, als von einem dauerhaften Leistungsunvermögen des Klägers
auszugehen. Soweit der vom Gericht bestellte Sachverständige die Beweisfragen
abweichend beantwortet habe, beruhe dies ersichtlich auf dem Umstand, dass der
Gutachten die Fragestellung im Beweisbeschluss des Arbeitsgerichts in dem Sinne
verstanden habe, ob der Kläger künftig irgendwelche Tätigkeiten verrichten könne. Im
Zuge der Arbeitsplatzbesichtigung habe der Gutachten sich jedenfalls eindeutig in dem
Sinne geäußert, der Kläger werde nie wieder in der Lage sein, die für die
Produktionspräsentation mitzuführende Reisetasche mit einem Gewicht von mehr als 15
Kilo zu tragen und als Außendienstmitarbeiter tätig zu werden. Im Übrigen ergebe sich
schon aus den erstinstanzlich überreichten ärztlichen Unterlagen, dass bereits im
Kündigungszeitpunkt die Leistungsfähigkeit des Klägers dauerhaft in einem solchen
Maße eingeschränkt gewesen sei, dass eine Wiederaufnahme der Arbeit ausscheide.
Danach führe die Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit dazu, dass der
Kläger nie wieder Gegenstände von mehr als 10 Kilo heben könne, weiter seien auch
Konzentrationsfähigkeit und Redegewandtheit des Klägers dauerhaft eingeschränkt.
Nach einem Gespräch von ca. 10 Minuten benötige der Kläger eine 30-minütige
Ruhephase und sei aufgrund der dauerhaften Einschränkung seiner Lungenkraft von 45
% den Anforderungen an eine Außendiensttätigkeit mit der Notwendigkeit, mit dem 15
kg schweren Präsentationskoffer innerörtliche Wege zu Fuß zurückzulegen und
Treppen zu steigen, zur Fortführung der arbeitsvertraglichen Aufgaben außer Stande.
Das Landesarbeitsgericht hat weiteren Beweis erhoben durch uneidliche Vernehmung
des Sachverständigen B4 gemäß dem Terminsprotokoll vom 25.11.2010 (Bl. 310 ff. d.
A.).
12
Entscheidungsgründe
13
Die Berufung des Klägers bleibt ohne Erfolg.
14
I
15
In Übereinstimmung mit dem arbeitsgerichtlichen Urteil ist das zwischen den Parteien
bestehende Arbeitsverhältnis durch die Kündigung der Beklagten vom 28.04.2008 mit
Ablauf des 31.05.2008 beendet worden. Auf der Grundlage der in Rechtsprechung und
Literatur anerkannten Grundsätze zur gerichtlichen Prüfung einer krankheitsbedingten
Kündigung hat das Arbeitsgericht seine Entscheidung zutreffend an den
Gesichtspunkten der negativen Gesundheitsprognose, der erheblichen
Beeinträchtigung betrieblicher Interessen und der gebotenen Interessenabwägung
ausgerichtet.
16
1. In der Frage der Negativprognose hat das Arbeitsgerichtsgericht den eigenen
Angaben des Klägers zu seinem Gesundheitszustand entscheidende Bedeutung
beigemessen und die nachträgliche Entwicklung des Krankheitsbildes im Sinne einer
17
Bestätigung der vom Kläger selbst benannten Prognose bewertet mit der Folge, dass
der abweichenden Beurteilung des Sachverständigen keine Bedeutung zukomme. Auch
wenn – wie im Folgenden auszuführen ist – in der weiteren Beweisaufnahme die
behauptete Negativprognose als zutreffend bestätigt worden ist, vermag die Kammer
dem rechtlichen Ansatzpunkt des arbeitsgerichtlichen Urteils zur beweisrechtlichen
Bedeutung der eigenen vorprozessualen Angaben des Klägers nicht zu folgen.
a) Mit Rücksicht auf die gesetzliche Beweislastverteilung hat der Arbeitgeber, welcher
eine Kündigung auf den Gesichtspunkt des dauerhaften Leistungsunvermögens des
Arbeitnehmers oder die vollständige Ungewissheit der Genesung stützen will, neben
der behaupteten Negativprognose als "Haupttatsache" – welche der unmittelbaren
Anschauung nicht zugänglich ist – hierauf bezogene Hilfstatsachen darzulegen, welche
die vorgetragene Prognose zu stützten geeignet sind und damit eine Behauptung "ins
Blaue hinein" ausschließen. Kennt der Arbeitgeber allein die Dauer, nicht hingegen die
Ursachen der Erkrankung, so muss, da prozessual nichts Unmögliches verlangt werden
kann, schon der Vortrag einer länger anhaltenden Krankheitszeit mit dem Hinweis auf
fehlende eigene Kenntnisse als hinreichend substantiiert angesehen. Liegen Angaben
zu den Krankheitsursachen vor, darf der Arbeitgeber mangels eigener
Überprüfungsmöglichkeiten die fehlenden Heilungsaussichten behaupten. Auf der
Grundlage der prozessualen Verpflichtung der Parteien, sich gem. § 138 Abs. 2 ZPO
vollständig zum gegnerischen Vortrag zu erklären, ist es sodann Sache des
Arbeitnehmers, im Rahmen der ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten
konkrete Angaben zu seinem Gesundheitszustand und zur Frage der
Gesundheitsprognose zu machen und so den schlüssigen Arbeitgebervortrag wirksam
zu bestreiten. Von der Frage der Anforderungen an die Darlegungs- und
Substantiierungslast zu trennen ist sodann die Frage der Anforderung an den Beweis
der behaupteten Negativprognose. Nicht anders als bei der Kündigung wegen häufiger
Kurzerkrankungen, bei welcher – von einfach gelagerten Fällen abgesehen – in der
Häufigkeit bestimmter Erkrankungen zwar eine gewisses Beweisanzeichen liegt, der
hieraus abgeleitete Indizwert indessen nur selten zur vollen Überzeugungsbildung des
Gerichts genügt, weswegen eine abschließende Beurteilung nur auf der Grundlage
ärztlicher Stellungnahmen und ggfls. eines Sachverständigengutachtens möglich ist
(LAG Hamm, 26.06.2008, 8 Sa 331/08), muss auch bei der gerichtlichen Überprüfung
der behaupteten Negativprognose bei einer Kündigung wegen dauerhaften
Leistungsunvermögens unterschieden werden zwischen der prozessualen Bedeutung
der eigenen Angaben des Arbeitnehmers im Sinne einer Hilfstatsache zur Darlegung
des Kündigungsgrundes durch den Arbeitgeber einerseits und der Bewertung der
betreffenden Angaben im Sinne eines beweiskräftigen Indizes im Falle der
Beweisbedürftigkeit streitigen Vorbringens.
18
b) Nachdem der Kläger nähere Angaben zu seinem Gesundheitszustand gemacht,
einen abgeschlossenen Krankheitsverlauf ohne Besserungsaussicht im
Kündigungszeitpunkt bestritten und die ihn behandelnden rzte von der Schweigepflicht
befreit hat, war damit die von der Beklagten behauptete und vom Kläger wirksam
bestrittene Negativprognose beweisbedürftig. Auch wenn den eigenen Erklärungen des
Klägers zum Stand der Behandlung und der mitgeteilten Einschätzung der Ärzte zwar
im Zuge der Beweiswürdigung ein gewisse indizielle Bedeutung nicht abzusprechen ist,
bleibt doch zu beachten, dass für die Überzeugungsbildung des Gerichts eine objektive
Beurteilung maßgeblich ist. Auch wenn der Kläger bei seinen Erklärungen gegenüber
der Beklagten neben seiner eigenen Einschätzung auch auf ärztliche Stellungnahmen
verwiesen hat, bleibt zu beachten, dass jedenfalls bei komplexen Sachverhalten die
19
Wiedergabe ärztlicher Stellungnahmen durch einen Laien nicht einer fundierten
ärztlichen Stellungnahme gleichgesetzt werden kann. Darüber hinaus bestehen
Bedenken gegen die Annahme, die vom Arbeitnehmer mitgeteilten ärztlichen Befunde
seien, gleich ob zutreffend oder nicht, für die gerichtliche Überprüfung der
Gesundheitsprognose und die Beweiswürdigung abschließend von Belang mit der
Folge, dass auch eine vor Abschluss des Heilungsverlaufs womöglich fehlerhafte
ärztliche Einschätzung als verbindliche Grundlage der Prognose anzusehen wäre und
auch durch eine fachlich zutreffende sachverständige Beurteilung nicht überwunden
werden könnte.
c) Wie indessen die weitere Beweisaufnahme und die Befragung des Sachverständigen
unter Berücksichtigung der zur Akte gereichten Arztunterlagen ergeben hat, muss auch
ohne Berücksichtigung der Selbsteinschätzung des Klägers davon ausgegangen
werden, dass bereits im Zeitpunkt der Kündigung eine Wiedererlangung der
Arbeitsfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen objektiv ausgeschlossen war.
20
(1) Soweit der Sachverständige die vom Arbeitsgericht gestellten Beweisfragen in
einem abweichenden Sinne beantwortet hat, beruht dies, wie die Erläuterung des
Gutachtens in der mündlichen Verhandlung des Landesarbeitsgericht ergeben hat, auf
einer angreifbaren und letztlich nicht überzeugenden Einschätzung der an die
Außendiensttätigkeit zu stellenden gesundheitlichen Anforderungen. Deren Feststellung
ist aber nicht Gegenstand der Sachverständigenbeurteilung aufgrund besonderer
medizinischer Sachkunde, vielmehr unterliegt die Frage, welche Anforderungen ein
Außendienstarbeiter im Allgemeinen bzw. der Kläger für die ihm konkret übertragene
Außendiensttätigkeit hinsichtlich seines Gesundheitszustandes zu erfüllen hat, der
eigenständigen gerichtlichen Beurteilung.
21
(2) Wie unstreitig ist, umfasst die Aufgabenstellung des Klägers als Außendienstler das
Aufsuchen von Kunden mit einem Präsentationskoffer, wobei das Zurücklegen von
Fußwegen wie auch das Treppensteigen ebenso vorausgesetzt wird wie die Fähigkeit,
mit den Kunden ohne Beeinträchtigung die erforderlichen Kundengespräche zu führen.
22
(3) Bei der Erläuterung seines Gutachtens in der mündlichen Verhandlung vor dem
Landesarbeitsgericht hat der Sachverständige ein differenziertes Bild im Hinblick auf die
Gesundheitsprognose gegeben. Während in Bezug auf die psychischen Folgen des
Unfallereignisses, insbesondere Konzentrationsschwächen und psychische
Belastbarkeit des Klägers und – insoweit aus der protokollierten Aussage nicht
ersichtlich – auch in Bezug auf die Auswirkungen der erlittenen Knochenbrüche auf das
Greifvermögen des Klägers und seine Fähigkeit, ein Gewicht von ca. 15 Kilo zu tragen,
nach Einschätzung des Sachverständigen der Zeitraum von zehn Monaten zwischen
dem Unfallereignis und der Kündigung noch zu kurz war, um abschließend den
weiteren Genesungsverlauf beurteilen zu können und aus diesem Grunde – anders als
im Untersuchungszeitpunkt – eine negative Zukunftsprognose nicht mit ausreichender
Sicherheit zu treffen war, muss auch nach Auffassung des Sachverständigen in Bezug
auf die Lungenfunktionseinschränkung davon ausgegangen werden, dass diese bereits
zum Kündigungszeitpunkt (28.04.2008) – nicht anders als bei der zeitnahen
Untersuchung durch den Internisten Prof. J1 am 24.07.2008 - bereits verfestigt und eine
Besserung in dieser Hinsicht nicht zu erwarten war.
23
Dementsprechend hängt die Beurteilung, ob im Kündigungszeitpunkt mit einer
Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit zu rechnen bzw. umgekehrt eine solche
24
ausgeschlossen oder vollständig ungewiss war, davon ab, inwiefern die mit der
Lungenfunktionsstörung verbundenen Einschränkungen des Leistungsvermögens der
Ausübung der vertraglich geschuldeten Außendiensttätigkeit entgegenstand.
(4) Soweit der Sachverständige in dieser Frage den Standpunkt geäußert hat, der
Kläger könne die Folgen der Lungenfunktionseinschränkung dadurch kompensieren,
dass er etwas langsamer gehe und sich ausreichend Zeit nehme; Einschränkungen bei
der Gesprächsführung seien nicht zu erwarten; allein die nicht abänderbare
Einschränkung der Lungenfunktion beeinträchtige damit nicht die Arbeitsfähigkeit des
Klägers, vermag die Kammer dem nicht zu folgen. Die Aufgabenstellung des Klägers als
Außendienstmitarbeiter für die gesamten Gebiete Bayern und Baden-Württemberg ist
dadurch gekennzeichnet, dass der Kläger bei den Kunden die im Präsentationskoffer
mitgeführten Waren vorzustellen und diesbezügliche Produktschulungen abzuhalten
hat. Wie im Widerspruchsbescheid des Integrationsamtes vom 20.11.2009 näher
ausgeführt, besteht der größte Teil des Arbeitstages darin, dass der Kläger
Gegenstände von seinem PKW in die Geschäfte der Kunden transportiert und sich
verbal – besonders bei Produktschulungen – entsprechend artikuliert. Die hiermit
verbundenen Atemprobleme bei der Zurücklegung von Wegen, beim Treppensteigen
und bei der Gesprächsführung, welche der Kläger selbst im Zuge der am 05.08.2008
durchgeführten Begutachtung durch das Universitätsklinikum W1 (Bl. 75, 80 d.A.)
geschildert hat, lassen sich – abweichend von der Einschätzung des Gutachters B4 –
nicht in angemessener Weise dadurch überwinden, dass sich der Kläger ausreichend
Zeit nimmt. Abgesehen davon, dass bei einer Vollzeittätigkeit und entsprechenden
Vorgaben über Umfang und Frequenz der Kundenbesuche eine langsamere
Arbeitsweise zur Kompensation der Lungenfunktionseinschränkung nur in engen
Grenzen in Betracht kommt, erscheint es als unrealistisch, dass sich auch die durch
kontinuierliches Sprechen verursachte Luftnot durch eine langsamere Arbeitsweise oder
entsprechende Pausen kompensieren lassen, ohne dass hierunter das
Kundengespräch und die Warenpräsentation maßgeblich leiden. Die Einschätzung des
Gutachters, der Kläger habe keine körperlich schwere Tätigkeit wie ein Gießereiarbeiter
zu erledigen, trifft zweifellos zu, andererseits entspricht die Tätigkeit des Klägers als
Außendienstler nicht der Schreibtischtätigkeit eines Sachbearbeiters im Innendienst
ohne Kundenkontakt, sondern weist Belastungsfaktoren auf, welche aufgrund der
Einschränkung der Lungenfunktion einer regulären und vollwertigen Bewältigung der
übertragenen Arbeitsaufgabe entgegenstehen und nicht allein durch eine langsamere
Arbeitsweise auszugleichen sind. Die Tätigkeit des Außendienstlers ist letztlich am
Erfolg orientiert, als Repräsentant des Unternehmens mit unmittelbarem Kundenkontakt
wird vom Außendienstler ein aktives, leistungsorientiertes Handeln erwartet. Anders als
beim Einsatz eines leistungsgeminderten Arbeitnehmers im Innendienst scheidet hier
die Überlegung aus, aus Sicht der vom Kläger aufzusuchenden Kunden sei es ohne
Belang, dass der Kläger bei der Warenpräsentation außer Atem gerate und
Gesprächspausen einlegen müsse. Berücksichtigt man dementsprechend die
spezifischen Anforderungen an die Außendiensttätigkeit, so muss schon aufgrund der
im Kündigungszeitpunkt dauerhaft verfestigten Einschränkungen der Lungenfunktion
von einem feststehenden Leistungsunvermögen – bezogen auf die übertragene
Arbeitsaufgabe – ausgegangen werden. Da diesbezüglich eine Beseitigung der
Ursachen oder Verbesserung der Symptomatik bereits im Kündigungszeitpunkt nicht zu
erwarten war, rechtfertigt dies – im Ergebnis übereinstimmend mit dem
arbeitsgerichtlichen Urteil – die vom Arbeitgeber behauptete Negativprognose.
25
d) Der Klägervertreter hat zwar im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem
26
Landesarbeitsgericht eingewandt, durch geeignete Trainingsmaßnahmen lasse sich –
wie auch bei einem gesunden Menschen – eine Steigerung des Leistungsvermögens
auch hinsichtlich der Lungenfunktion erreichen. Auf eine solche abstrakte Möglichkeit
der Besserung kommt es indessen nicht an. Der Kläger trägt selbst nicht vor, die bei der
Begutachtung geklagten Beschwerden seien zwar zum damaligen Zeitpunkt vorhanden
gewesen, aufgrund einer im Kündigungszeitpunkt bereits eingeleiteten und
aussichtsreichen Trainingsmaßnahme habe jedoch konkrete Aussicht auf Überwindung
der mit der Lungenfunktionsstörung verbundenen Probleme bestanden. Auch der
Umstand, dass der Sachverständige B4 im Zuge der Gesprächsführung mit dem Kläger
nicht hat beobachten können, dass der Kläger in Atemnot geraten sei, genügt nicht zu
der Annahme, die bei der Untersuchung durch das Universitätsklinikum W1 am
05.08.2008 (Bl. 75, 80 d. A.) geklagte Atemnot bei kontinuierlichem Sprechen mit der
Notwendigkeit respiratorischer Pausen seien aussichtsreich zu beheben gewesen und
alsbald überwunden worden, weswegen die auf den Kündigungszeitpunkt bezogene
Prognose fehlender Besserungsaussicht widerlegt sei. Anders als beim Einsatz des
Klägers als Außendienstmitarbeiter im Kundengespräch mit dem Ziel, den Kunden zu
überzeugen, mag das Explorationsgespräch zwischen Gutachter und Kläger für
Letzteren durchaus mit einer gewissen psychischen Anspannung verbunden gewesen
sein, mit der aktiven Rolle des Außendienstlers im Kundengespräche lässt sich dies
jedoch keinesfalls vergleichen. Jedenfalls in Anbetracht der Tatsache, dass auch nach
der Einschätzung des Sachverständigen B4 die Lungenfunktionsstörung im
Kündigungszeitpunkt bereits verfestigt war und für eine Überwindung der geklagten
Atembeschwerden mangels konkreter Maßnahmen Anhaltspunkte nicht ersichtlich
waren, steht zur vollen Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger bereits im
Kündigungszeitpunkt dauerhaft zur Fortführung seiner arbeitsvertraglich geschuldeten
Tätigkeit außer Stande war.
2. In Übereinstimmung mit dem arbeitsgerichtlichen Urteil folgt schon aus der Tatsache,
dass die Beklagte den Kläger nicht mehr im Außendienst einsetzen kann, eine
erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen.
27
3. Da unstreitig anderweitige Einsatzmöglichkeiten für den Kläger nicht vorhanden sind,
kann auch bei der gebotenen Interessenabwägung die Entscheidung der Beklagten,
das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger durch ordentliche Kündigung zu beenden, nicht
beanstandet werden. Unabhängig davon, inwieweit mit der Aufrechterhaltung des
Arbeitsverhältnisses eine finanzielle Belastung für den Arbeitgeber verbunden ist – zu
denken ist insbesondere an die Kumulierung von Urlaubsansprüchen – war der
Beklagten ein weiteres Abwarten nicht zuzumuten, da definitiv mit einer
Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit des Klägers nicht mehr gerechnet werden konnte.
28
II
29
Die Kosten der erfolglosen Berufung hat der Kläger zu tragen.
30
III
31
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision gemäß § 72 ArbGG liegen nicht
vor.
32