Urteil des LAG Hamm vom 30.08.2005

LArbG Hamm: treu und glauben, feststellungsklage, tarifvertrag, abrede, arbeitsgericht, wiederholung, arbeitsbedingungen, unklarheitenregel, sachurteilsvoraussetzung, arbeitsentgelt

Landesarbeitsgericht Hamm, 6 Sa 26/05
Datum:
30.08.2005
Gericht:
Landesarbeitsgericht Hamm
Spruchkörper:
6. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
6 Sa 26/05
Vorinstanz:
Arbeitsgericht Bocholt, 1 Ca 2354/04
Schlagworte:
Altersteilzeitvereinbarung und Günstigkeitsprinzip
Normen:
§ 2 ATZG
Leitsätze:
führende Parallelsache
Rechtskraft:
Die Revision wird nicht zugelassen
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Bocholt
vom 16.12.2004 - 1 Ca 2354/04 - wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
Tatbestand:
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Die Parteien streiten darum, ob der zwischen ihnen geltenden Altersteilzeit-
Vereinbarung ein nachfolgender Tarifvertrag vorgeht.
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Der am 25.04.1951 geborene Kläger wurde mit Wirkung vom 12.08.1991 von der
Beklagten eingestellt. Das Arbeitsverhältnis unterliegt – unstreitig - kraft
arbeitsvertraglicher Vereinbarung den Tarifverträgen für die Metallindustrie in Nordrhein-
Westfalen. Unter dem 18.12.2003 schlossen die Parteien eine Altersteilzeit-
Vereinbarung (Abl. Bl. 7 – 14 d.A.). Die Tarifvertragsparteien schlossen unter dem
23./24.06.2004 für die Standorte B1xxxxx und K2xx-L3xxxxxx der Beklagten zur
Standortsicherung einen Ergänzungstarifvertrag (Abl. Bl. 117 – 119 d.A.), durch den u.a.
die tarifliche Arbeitszeit von wöchentlich 35 auf 40 Stunden heraufgesetzt und einzelne
Vergütungsbestandteile geändert wurden. Die individuelle regelmäßige wöchentliche
Arbeitszeit des Klägers betrug vor Inkrafttreten des Ergänzungstarifvertrags 35 Stunden
wöchentlich.
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Der Kläger hat vorgetragen:
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Die Parteien hätten mit der Altersteilzeit-Vereinbarung eine individuelle vertragliche
Abrede getroffen, wonach die Bedingungen dieser Abrede - zumindest bezüglich der
wöchentlichen Arbeitszeit und Vergütung - mit dem Zeitpunkt verbindlich geregelt seien,
zu dem das Vertragswerk abgeschlossen worden sei, also mit dem 18.12.2003. Der
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spätere Ergänzungstarifvertrag enthalte wesentlich ungünstigere Arbeitsbedingungen.
Unter Berücksichtigung des Günstigkeitsprinzips nach § 4 Abs. 3 TVG könnten die
besseren individuellen vertraglichen Bedingungen nicht wirksam durch den
nachfolgenden Tarifvertrag verschlechtert werden. Hierfür bedürfte es einer
Änderungskündigung.
Der Kläger hat beantragt,
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festzustellen, dass die Bedingungen der Altersteilzeit-Vereinbarung der
Parteien vom 18.12.2003 durch den Ergänzungstarifvertrag vom 24.06.2004
– abgeschlossen von der IG Metall und dem Unternehmerverband Metall
Nordrhein-Westfalen – nicht abgeändert worden sind.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Die Beklagte hat vorgetragen:
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Auch das Arbeitsverhältnis des Klägers unterfalle mit Inkrafttreten des
Ergänzungstarifvertrags diesem Tarifvertrag. Sie sei im Dezember 2003 bereit gewesen,
mit interessierten Mitarbeitern Altersteilzeitvereinbarungen abzuschließen, die einen
Beginn der Altersteilzeit weit in der Zukunft vorsahen, um diesen Mitarbeitern die
Möglichkeit zum damals noch günstigeren vorgezogenen Rentenzugang zu bieten.
Damit sei nicht die Garantie verbunden gewesen, dass die zwischenzeitlich
eingetretenen Verschlechterungen, die alle Arbeitnehmer aufgrund tariflicher
Veränderungen treffen, mit dem Beginn der Altersteilzeit für die in Altersteilzeit
gehenden Arbeitnehmer wieder entfielen.
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Das Arbeitsgericht Bocholt hat die Klage mit Urteil vom 16.12.2004 – 1 Ca 2354/04 –
abgewiesen. Es hat ausgeführt, die Altersteilzeit-Vereinbarung enthalte keine dem
Ergänzungstarifvertrag vorgehende individuelle Abrede zur Arbeitszeit und
Arbeitsvergütung, sondern insoweit nur deklaratorische Regeln. Daher greife das
Günstigkeitsprinzip nicht. Wegen der weiteren Einzelheiten der Entscheidung wird auf
deren Tatbestand und Entscheidungsgründe verwiesen.
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Das Urteil ist dem Kläger am 28.12.2004 zugestellt worden. Hiergegen richtet sich die
am 06.01.2005 eingelegte und begründete Berufung.
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Der Kläger wendet sich unter Wiederholung und Vertiefung seines erstinstanzlichen
Vortrags zur Sach- und Rechtslage gegen das erstinstanzliche Urteil.
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Der Kläger beantragt,
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unter Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Bocholt vom
16.12.2004 – 1 Ca 2354/04 – festzustellen, dass die Bedingungen der
Altersteilzeit-Vereinbarung der Parteien vom 18.12.2003 durch den
Ergänzungstarifvertrag vom 24.06.2004 – abgeschlossen von der IG
Metall und dem Unternehmerverband Metall Nordrhein-Westfalen –
nicht abgeändert worden sind.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
18
Die Beklagte verteidigt das erstinstanzliche Urteil unter Wiederholung und Vertiefung
ihres erstinstanzlichen Vortrags zur Sach- und Rechtslage.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien wird auf den von ihnen
in Bezug genommenen Inhalt der in beiden Rechtszügen zu den Akten gereichten
Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Berufung ist an sich statthaft (§ 64 Abs. 1 ArbGG), nach dem Wert des
Beschwerdegegenstandes zulässig (§ 64 Abs. 2 Buchst. b ArbGG) sowie in gesetzlicher
Form und Frist eingelegt (§ 519 ZPO i.V.m. § 64 Abs. 6 S. 1 ArbGG, § 66 Abs. 1 S. 1
ArbGG) und innerhalb der Frist (§ 66 Abs. 1 S. 1 ArbGG) und auch ordnungsgemäß (§
520 Abs. 3 iVm. § 64 Abs. 6 S. 1 ArbGG) begründet worden. Sie hat in der Sache keinen
Erfolg. Zu Recht hat das Arbeitsgericht die Klage abgewiesen.
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I. Die Zulässigkeit der Feststellungsklage kann dahinstehen, denn die
Feststellungsklage ist unbegründet. Das nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche
Feststellungsinteresse ist nur für ein stattgebendes Urteil Sachurteilsvoraussetzung (vgl.
BGH 14. März 1978 - VI ZR 68/76; BAG 03. Mai 1994 – 9 AZR 606/92).
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II. Die Feststellungsklage ist unbegründet. Für das Altersteilzeitverhältnis der Parteien
sind die Regelungen des Ergänzungstarifvertrags, soweit einschlägig, verbindlich.
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1. Die Tarifbindung der Parteien folgt unstreitig aus einer arbeitsvertraglichen
Bezugnahmevereinbarung. Dies entspricht auch seit Beginn des Arbeitsverhältnisses
der Vertragspraxis.
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2. Das Altersteilzeitverhältnis der Parteien richtet sich nach dem Ergänzungstarifvertrag.
Die Regelungen zu III. (Arbeitszeit) und IV. (Entgelt) der Altersteilzeit-Vereinbarung
setzen deklaratorisch auf den tariflichen Regelungen auf, weshalb für das
Altersteilzeitverhältnis die Hälfte der nach dem Ergänzungstarifvertrag maßgeblichen
Arbeitszeit gilt und weshalb sich das Arbeitsentgelt nach der durch den
Ergänzungstarifvertrag bestimmten hälftigen Arbeitszeit und den übrigen
Entgeltvorschriften des Ergänzungstarifvertrags richtet. Insbesondere die Regelung
unter III.1. der Altersteilzeit-Vereinbarung enthält keine nach § 4 Abs. 3 TVG gegenüber
dem Ergänzungstarifvertrag günstigere konstitutive Regelung, sondern nur die
deklaratorische Regelung der für das Altersteilzeitverhältnis maßgeblichen Arbeitszeit in
Höhe der Hälfte der tarifrechtlichen Arbeitszeit. Dies ergibt die Auslegung der
Altersteilzeit-Vereinbarung.
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2.1. Bei den einzelnen Regelungen der Altersteilzeit-Vereinbarung der Parteien handelt
es sich um vorformulierte Arbeitsbedingungen im Sinne von § 305 Abs. 1 BGB. Solche
Regelungen sind ausgehend von den Verständnismöglichkeiten eines rechtlich nicht
vorgebildeten Durchschnittsarbeitnehmers einheitlich so auszulegen, wie sie von
verständigen und redlichen Vertragspartnern unter Abwägung der Interessen des
Arbeitgebers und der Arbeitnehmer verstanden werden. Verbleiben nicht behebbare
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Zweifel und sind mindestens zwei Auslegungen rechtlich vertretbar, so ist von der für die
Arbeitnehmer günstigeren Auslegung der Klausel auszugehen. Es ist Sache des
Klauselverwenders, sich klar und unmissverständlich auszudrücken (BAG 26.01.2005 –
10 AZR 215/04). Auf die Unklarheitenregel ist daher nur dann zurückzugreifen, wenn die
objektive Auslegung zu dem Ergebnis geführt hat, dass die Klausel nach dem Wortlaut
unter Berücksichtigung ihres nach verständiger Würdigung zu ermittelnden Sinnes und
Zwecks objektiv mehrdeutig ist und die Mehrdeutigkeit nicht beseitigt werden kann. Es
müssen nach Ausschöpfung der in Betracht kommenden Auslegungsmethoden
erhebliche Zweifel und mindestens zwei unterschiedliche Auslegungen vertretbar
bleiben (BGH 04. Juli 1990 – VIII ZR 288/89).
2.2. Die Regelung unter Nr. III.1. der Altersteilzeit-Vereinbarung ist unter
Berücksichtigung dieser Auslegungsgrundsätze nicht mehrdeutig.
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2.2.1. Dem Kläger ist einzuräumen, dass der Wortlaut dieser Klausel unter
Vernachlässigung der übrigen Regelungen der Altersteilzeit-Vereinbarung auch dahin
verstanden werden kann, die Arbeitszeit während der Altersteilzeit betrage 17,5
Stunden.
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2.2.2. Bei verständiger Würdigung des Sinns und Zwecks der Klausel ist diese aber
eindeutig dahin zu verstehen, dass die Arbeitszeit während der Altersteilzeit die Hälfte
der vor dem Übergang in die Altersteilzeit geltenden tariflichen wöchentlichen
Arbeitszeit beträgt. Zum Zeitpunkt des sehr frühen Abschlusses der Altersteilzeit-
Vereinbarung galt noch § 3 MTV, weshalb in der Altersteilzeit-Vereinbarung
deklaratorisch zutreffend eine wöchentliche Arbeitszeit von 17,5 Stunden für die
Altersteilzeitperiode eingetragen wurde. Dem § 3 MTV geht nun aber § 2 des
spezielleren Ergänzungstarifvertrags vor.
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Für dieses Verständnis der Altersteilzeit-Vereinbarung sprechen folgende
Überlegungen: Die Altersteilzeit-Vereinbarung will den gesetzlichen Anforderungen
genügen. Bereits in Satz 1 der Altersteilzeit-Vereinbarung ist davon die Rede, dass die
folgende Teilzeitvereinbarung aufgrund des Gesetzes zur Förderung eines gleitenden
Übergangs in den Ruhestand geschlossen wird. Die Formulierung unter Nr. III.1. der
Altersteilzeit-Vereinbarung ist angelehnt an § 2 Nr. 2 ATZG (vgl. auch § 5 TV zur
Altersteilzeit in der Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens vom 20.11.2000),
wo auch von der bisherigen wöchentlichen Arbeitszeit die Rede ist. Was unter
bisheriger Arbeitszeit zu verstehen ist, folgt aus § 6 Abs. 1 Satz 1 ATZG. Der Streit der
Parteien rührt daher, dass die Beklagte eine vorformulierte Altersteilzeit-Vereinbarung,
die geeignet ist für einen Abschluss unmittelbar vor dem Beginn der Altersteilzeit, dem
Kläger zu einem Zeitpunkt stellte, als eine Änderung der "bisherigen wöchentlichen
Arbeitszeit" nicht in Sicht war. Auch aus Nrn. Va Abs. 1, X. 1., XI. 1. und insbesondere
XIII. 3. der Altersteilzeit-Vereinbarung wird deutlich, dass die Vereinbarung mit dem
ATZG kompatibel sein sollte, um klägerseits die steuerlichen (§ 3 Nr. 28 EStG; vgl. auch
Küttner/Huber, Personalbuch 2005, 12.A., Altersteilzeit Rn. 27) und sozialrechtlichen (§
237 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. b) SGB VI - vgl. auch BAG 10. Februar 2004 – 9 AZR 401/02)
Vorteile einer Altersteilzeit-Vereinbarung in Anspruch nehmen und beklagtenseits die
Zuschüsse der Bundesagentur abrufen zu können. Die Maßgeblichkeit der während der
Altersteilzeit geltenden kollektivrechtlichen Regelungen wird zudem in der Altersteilzeit-
Vereinbarung u.a. unter Nrn. IV.1.b. und f., VII.1. verdeutlicht.
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2.3. Zumindest haben die Parteien, wollte man der obigen Auslegung nicht folgen, bei
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Abschluss der Altersteilzeit-Vereinbarung den Fall der späteren Änderung der
"bisherigen wöchentlichen Arbeitszeit" nicht berücksichtigt, was Raum gibt für eine
ergänzende Vertragsauslegung, die zum gleichen Ergebnis führt wie die obige
Auslegung.
2.3.1. Vertragsauslegung bedeutet nicht nur Ermittlung des Sinngehalts der im
Vertragstext selbst niedergelegten Parteierklärungen. Sie bezweckt vielmehr die
Feststellung des Vertragsinhalts auch in solchen Punkten, zu denen die Parteien keine
ausdrückliche Vereinbarung getroffen haben, deren Regelung aber gleichwohl zur
Erreichung des Vertragszwecks erforderlich ist. Die Unvollständigkeit der vertraglichen
Regelung darf allerdings nicht gewollt gewesen, der Parteiwille nicht gerade in der
Unvollständigkeit zum Ausdruck gekommen sein. Es geht um eine an objektiven
Maßstäben orientierte Bewertung des Inhalts der getroffenen Vereinbarungen und der
aus ihnen abgeleiteten Rechtsfolgen mit dem Ziel zu ermitteln, was die Parteien im
Falle des Erkennens der Regelungslücke bei einer angemessenen Abwägung ihrer
Interessen nach Treu und Glauben als redliche Vertragspartner vereinbart hätten (BAG
13. November 2002 – 4 AZR 393/01; BAG 3. Juni 1998 - 5 AZR 552/97).
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2.3.2. Im Streitfall haben die Parteien bei der vorzeitig getroffenen Altersteilzeit-
Vereinbarung den Fall der späteren Änderung der wöchentlichen Arbeitszeit nicht
gesehen und nicht bedacht. Es deutet nichts darauf hin, dass die Unvollständigkeit der
Regelung gewollt ist. Es spricht auch nichts dafür, dass die Parteien für den Fall der
Verlängerung der wöchentlichen Arbeitszeit an der Halbierung der im Zeitpunkt des
Abschlusses der Altersteilzeit-Vereinbarung bestehenden Arbeitszeitregelung festhalten
und die Arbeitnehmer in Altersteilzeit insoweit gegenüber den übrigen Arbeitnehmern
privilegieren wollten. Absehbare Änderungen bei den tariflichen Regelungen haben die
Parteien in der Altersteilzeit-Vereinbarung angesprochen, wie Nr. IV.f. der Altersteilzeit-
Vereinbarung zeigt. Es kann hier ferner nicht ernstlich unterstellt werden, dass die
Parteien den Vorgaben des ATZG nicht genügende Regelungen wollten, riskierten sie
doch so auf beiden Seiten den Wegfall der steuerlichen und/oder
sozialversicherungsrechtlichen Vorteile/Zuschüsse.
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Die Parteien hätten im Falle des Erkennens der Regelungslücke bei einer
angemessenen Abwägung ihrer Interessen nach Treu und Glauben als redliche
Vertragspartner vereinbart, dass sich die Altersteilzeit-Vereinbarung nach den aktuellen
tariflichen Regelungen unmittelbar vor der Altersteilzeit und während der Altersteilzeit
richtet und so den gesetzlichen Vorgaben des ATZG (insbesondere § 2 Abs. 1 Nr. 2
ATZG und § 6 Abs. 2 ATZG) gerecht wird. Nur so kann die Beklagte die Zuschüsse der
Bundesagentur für Arbeit in Anspruch nehmen und nur so kann der Kläger in den
Genuss der steuerrechtlichen und sozialversicherungsrechtlichen Vorteile kommen.
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III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs.1 S.1 ZPO i. V. m. § 97 ZPO.
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IV. Gründe, die Revision nach § 72 Abs.2 ArbGG zuzulassen, sind nicht ersichtlich. Das
Berufungsgericht ist der aufgezeigten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts
gefolgt. Eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage mit grundsätzlicher Bedeutung liegt
nicht vor.
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Ziemann
Seebauer
Buddruweit
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Hei
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