Urteil des LAG Hamm vom 30.03.2006

LArbG Hamm: mehrarbeit, anschluss, dienstzeit, berechtigung, verfügung, arbeitsgericht, ausnahme, pflege, höchstarbeitszeit, arbeitsbedingungen

Landesarbeitsgericht Hamm, 8 Sa 1992/04
Datum:
30.03.2006
Gericht:
Landesarbeitsgericht Hamm
Spruchkörper:
8. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
8 Sa 1992/04
Vorinstanz:
Arbeitsgericht Bochum, 1 Ca 1261/04
Schlagworte:
Schwerbehinderung / Mehrarbeit / Rufbereitschaft / Dienstplan / billiges
Ermessen
Normen:
BGB § 315; SGB IX § 124; ArbZG §§ 3, 14
Leitsätze:
1. Nicht die Rufbereitschaft als solche, wohl aber die während der
Rufbereitschaft geleistete Arbeit ist bei der Berechnung der gesetzlichen
Arbeitszeit zu berücksichtigen.
2. Da der schwerbehinderte Arbeitnehmer nach § 124 SGB IX zur
Mehrarbeit nicht verpflich-tet ist und als Mehrarbeit die Überschreitung
der gesetzlichen Arbeitszeit von 8 Stunden/Tag zählt (BAG AP § 124
SGB IX Nr. 1), überschreitet eine Einteilung des Schwerbehinderten zur
Rufbereitschaft im Anschluss an die dienstplanmäßig zu leistende
Arbeitszeit von 7 Std. 42 Min. die Grenzen billigen Ermessens, sofern
die bis zum Erreichen der gesetzlichen Arbeitszeit verbleibenden
Minuten keine sinnvolle Arbeitsleistung ergeben.
3. Die betriebliche Notwendigkeit zur Anordnung regelmäßiger
Rufbereitschaft in einem Dialysezentrum erfüllt für sich genommen nicht
die Voraussetzungen des § 14 ArbZG zur Durchbrechung der
gesetzlichen Arbeitszeit in ,,außergewöhnlichen Fällen''.
Rechtskraft:
5. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tenor:
Unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen wird auf die Berufung
des Klägers das Urteil des Arbeitsgerichts Bochum vom 20.08.2004 - 1
Ca 1261/04 - teilweise abgeändert und unter Berücksichtigung der
neugefassten Klageanträge wie folgt gefasst:
1. Es wird festgestellt, dass der Kläger nicht verpflichtet ist, an den
Tagen seines dienstplanmäßigen Einsatzes im Anschluss hieran
Rufbereitschaft zu leisten.
2. Es wird weiter festgestellt, dass der Kläger nicht
verpflichtet ist, mehr als acht Stunden arbeitstäglich
zu arbeiten, soweit nicht die Voraussetzungen des § 14 ArbZG gegeben
sind.
3. Der weitergehende Feststellungsantrag des Klägers wird
abgewiesen.
4. Die durch die Beweisaufnahme veranlassten Kosten trägt der Kläger.
Von den weiteren Kosten des Rechtsstreits trägt der Beklagte 2/3 und
der Kläger 1/3.
T a t b e s t a n d
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Mit seiner Klage wendet sich der im Jahre 1952 geborene und einem
schwerbehinderten Menschen gleichgestellte Kläger, welcher seit dem Jahr 1988 im
Dialyse-Zentrum des Beklagten als Gruppenpflegekraft tätig ist, im Wege des
Feststellungsantrags gegen seine Einteilung zur Rufbereitschaft.
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Die entsprechende Verpflichtung, Rufbereitschaft zu leisten, stützt der Beklagte auf eine
entsprechende tarifliche Regelung und diesbezügliche Betriebsvereinbarung.
Demgegenüber hat der Kläger zunächst unter Hinweis auf gesundheitliche Gründe
geltend gemacht, keine Rufbereitschaft leisten zu können. Weiter macht der Kläger
geltend, nach § 124 SGB IX sei er aus Gründen des Schwerbehindertenrechts zur
Leistung von Mehrarbeit nicht verpflichtet.
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Durch Urteil vom 20.08.2004 (Bl. 50 ff. d.A.), auf welches wegen des weiteren
erstinstanzlichen Parteivorbringens Bezug genommen wird, hat das Arbeitsgericht die
Klage abgewiesen. Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt worden,
gesundheitliche Gründe stünden einer Einteilung des Klägers zur Rufbereitschaft nicht
entgegen. Insbesondere sei nicht zu erkennen, inwiefern die Verpflichtung zur Leistung
von Rufbereitschaft als nicht behindertengerecht im Sinne des § 81 Abs. 4 Nr. 4 SGB IX
anzusehen sei. Die vom Kläger vorgelegten Atteste seien insoweit ohne Aussagekraft.
Soweit sich der Kläger auf die Vorschrift des § 124 SGB IX stütze, sei zu beachten, dass
die Rufbereitschaft selbst nicht als Arbeitszeit und damit auch nicht als Mehrarbeit im
Sinne der genannten Vorschrift anzusehen sei. Hieran vermöge auch nichts der
Umstand zu ändern, dass der Kläger möglicherweise während der Rufbereitschaft
tatsächlich Arbeitsleistung von mehr als acht Stunden pro Tag erbringen müsse. Die
Vorschrift des § 124 SGB IX diene allein dazu, einer Überbeanspruchung
schwerbehinderter Menschen durch zu lange Arbeitszeiten entgegenzuwirken und
schwerbehinderten Menschen die gleichberechtigte Teilnahme am Leben in der
Gemeinschaft ohne Benachteiligung zu ermöglichen. Wenn der Kläger wie alle übrigen
Beschäftigten zur Rufbereitschaft herangezogen werde, stelle dies keine
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Benachteiligung dar. Soweit etwa anfallende Arbeitsleistung während der
Rufbereitschaft zu einer Einschränkung der Ruhezeit führe, gelte dies für sämtliche
eingesetzten Mitarbeiter gleichermaßen und sei gegebenenfalls nach § 5 Abs. 3 ArbZG
zu anderen Zeiten auszugleichen.
Mit seiner rechtzeitig eingelegten und begründeten Berufung hält der Kläger an seinem
Standpunkt fest, unter den vorliegenden Umständen sei seine Einteilung zur
Rufbereitschaft nicht zulässig. Nachdem das vom Landesarbeitsgericht eingeholte
Sachverständigengut-achten eine Stabilisierung des Gesundheitszustandes bestätigt
habe, wolle der Kläger zwar nicht mehr umfassend geltend machen, keinerlei
Rufbereitschaften leisten zu müssen. Entgegen dem Standpunkt des
arbeitsgerichtlichen Urteils ergebe sich jedoch aus der Vorschrift des § 124 SGB IX,
dass der Beklagte den Kläger jedenfalls nicht zur Rufbereitschaft im Anschluss an seine
dienstplanmäßig geleistete Arbeit einteilen dürfe, da es andernfalls ohne weiteres zur
Leistung von Mehrarbeit kommen könne. Auch wenn nämlich die Rufbereitschaft selbst
nicht als Arbeitszeit und Mehrarbeit angesehen werde, ergebe sich doch unter
Berücksichtigung der Dauer der vorangehenden Arbeitsschicht, dass eine während der
Rufbereitschaft erforderlich werdende Arbeitsleistung schon nach kurzer Dauer zur
Überschreitung der gesetzlichen Arbeitszeit von acht Stunden führe.
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Insoweit ist unstreitig, dass bei dem Beklagten an sechs Tagen in der Woche gearbeitet
wird, und zwar mit einer Frühschicht von 6.00 bis 13.57 Uhr und einer Spätschicht von
11.00 bis 18.57 Uhr. Weiter besteht für die Tage Montag, Mittwoch und Freitag ein
Nachtdienst von 15.30 bis 0.30 Uhr. An Sonntagen findet kein regulärer Betrieb statt, für
Notfälle ist jedoch Rufbereitschaft für die Zeit von Samstag 19.00 Uhr bis Montag 6.30
Uhr eingerichtet. Die Beschäftigten sind auf der Grundlage einer 38,5-Stunden-Woche
eingesetzt und arbeiten in einem rollierenden Schichtsystem an fünf Tagen in der
Woche mit einer Arbeitszeit von arbeitstäglich 7 Std. 42 Minuten. Die Einteilung zur
Rufbereitschaft erfolgt – und zwar möglichst auf freiwilliger Grundlage – üblicherweise
im Anschluss an den Spätdienst, wobei nach Darstellung der Beklagten eine
tatsächliche Inanspruchnahme der Arbeitsleistung während der Rufbereitschaft im
zurückliegenden Zeitraum Januar bis Juni 2004 nur in 27% der Fälle erfolgt ist. Auf die
Anlage zum Beklagtenschriftsatz vom 22.07.2004 (Bl. 39 d.A.) wird insoweit Bezug
genommen.
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Unter Neufassung seines Klageantrages im Zuge des Berufungsverfahrens beantragt
der Kläger zuletzt,
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festzustellen, dass der Kläger nicht verpflichtet ist, an den Tagen seines
dienstplanmäßigen Einsatzes im Anschluss hieran Rufbereitschaft zu
leisten,
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ferner festzustellen, dass der Kläger nicht verpflichtet ist, mehr als acht
Stunden arbeitstäglich zu arbeiten.
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Der Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Er verteidigt die arbeitsgerichtliche Entscheidung unter Wiederholung und Vertiefung
seines Vorbringens als zutreffend und hält an seiner Auffassung fest, aus der Vorschrift
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des § 124 SGB IX seien unter den vorliegenden Umständen keine Einschränkungen für
die Zulässigkeit der Rufbereitschaft herzuleiten. Abgesehen davon, dass keineswegs
feststehe, ob tatsächlich während der Rufbereitschaft Arbeit zu leisten sei und sich der
Kläger dementsprechend nicht abstrakt gegen die bloße Einteilung zur Rufbereitschaft
wenden könne, stelle sich die Heranziehung zur Arbeitsleistung während der
Rufbereitschaft regelmäßig als ein plötzliches und unvorhersehbares Ereignis im Sinne
des § 14 ArbZG dar, so dass die vom Kläger vorgetragenen arbeitszeitrechtlichen
Bedenken zurückträten. Nachdem sich auf der Grundlage des vom Landesarbeitsgericht
eingeholten Sachverständigengutachtens herausgestellt habe, dass gegen die
Heranziehung des Klägers zur Rufbereitschaft keine gesundheitlichen Bedenken
bestünden, stelle es ohnehin einen Rechtsmissbrauch dar, wenn sich der Kläger unter
Hinweis auf die Vorschrift des § 124 SGB IX einer entsprechenden Diensteinteilung zu
entziehen suche. Das gelte umso mehr, als es in der Vergangenheit bis auf wenige
Ausnahmen gelungen sei, die Rufbereitschaftsdienste auf freiwilliger Grundlage
einzuteilen. Soweit danach nur ganz ausnahmsweise eine Einteilung zur
Rufbereitschaft im Wege des arbeitsvertraglichen Direktionsrechts – gleich ob an Tagen
dienstplanmäßiger Arbeitsleistung, an dienstplanmäßig freien Tagen oder am
Wochenende – erforderlich werde, müsse prinzipiell auch der Kläger hierfür zur
Verfügung stehen. Andernfalls werde der Kläger ohne sachlichen Grund gegenüber den
übrigen Mitarbeitern bevorzugt.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
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Die Berufung des Klägers ist auf der Grundlage der im zweiten Rechtszuge neu
gefassten Klageanträge im wesentlichen begründet.
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I
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Nachdem der Kläger zuletzt nicht an seinem Standpunkt festgehalten hat, aus
gesundheitlichen Gründen überhaupt keine Rufbereitschaft leisten zu müssen, sondern
sein Begehren allein auf die Vorschrift des § 124 SGB IX stützt, geht es im vorliegenden
Verfahren ausschließlich um die Frage, ob der Kläger an den Tagen, an welchen er
bereits seine dienstplanmäßig zugewiesene Arbeit erbracht hat, zur Rufbereitschaft
eingeteilt werden darf. Da sich diejenigen Fälle, in welchen der Arbeitgeber
ausnahmsweise Rufbereitschaften auch an dienstplanmäßig freien Tagen sowie an
Sonntagen anordnet, kaum anhand abstrakter Kriterien umschreiben lässt und im
Übrigen auch insoweit unstreitig der vorrangige Grundsatz der Freiwilligkeit beachtet
wird, hat der Kläger seinen Antrag zuletzt auf die Frage der Rufbereitschaft im
Anschluss an die reguläre Dienstzeit beschränkt. Mit Rücksicht auf die Tatsache, dass
der Beklagte allerdings weiterhin den Standpunkt einnimmt, aus Gründen des
Rechtsmissbrauchs könne sich der Kläger auf die Vorschrift des § 124 SGB IX nicht
berufen und sei dementsprechend arbeitszeitrechtlich ohne
schwerbehindertenrechtliche Beschränkungen auch für mehr als acht Stunden
arbeitstäglich einsetzbar, will der Kläger mit dem weiteren Feststellungsantrag die
fehlende Berechtigung des Beklagten zu einer entsprechenden Zuweisung von Arbeit
geklärt wissen.
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II
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Die so ausgelegten Klageanträge sind zulässig und – mit der aus dem Tenor
ersichtlichen Einschränkung – auch begründet.
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1. Der Kläger ist nicht verpflichtet, an den Tagen seines dienstplanmäßigen Einsatzes
im Anschluss hieran Rufbereitschaft zu leisten.
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a) Gegen die Zulässigkeit des Feststellungsantrags bestehen keine Bedenken.
Gegenstand eines Feststellungsantrags im Sinne des § 256 ZPO kann nicht nur ein
streitiges Rechtsverhältnis insgesamt sein, vielmehr können auch einzelne rechtliche
Verpflichtungen aus dem Rechtsverhältnis im Wege der Feststellungsklage geklärt
werden. Ein alsbaldiges Interesse an der begehrten Feststellung ergibt sich daraus,
dass der Beklagte für sich das Recht in Anspruch nimmt, den Kläger zur Rufbereitschaft
einzuteilen, was der Kläger für unzulässig hält.
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b) Die mangelnde Berechtigung des Beklagten, den Kläger zur Rufbereitschaft im
zeitlichen Anschluss an die reguläre Dienstzeit einzuteilen, ergibt sich aus der
Tatsache, dass im Falle der tatsächlich erforderlich werdenden Arbeitsleistung während
der Rufbereitschaft Mehrarbeit im Sinne des § 124 SGB IX anfällt, welche zu leisten der
Kläger nicht verpflichtet ist.
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(1) Zwar ist richtig, dass die Rufbereitschaft als solche keine Arbeitszeit im
arbeitszeitrechtlichen Sinne darstellt. Wird jedoch der Arbeitnehmer während der
Rufbereitschaft tatsächlich zur Arbeitsleistung herangezogen – was nach Darstellung
des Beklagten in etwa 27% der Fälle zutrifft – , so führt dies unter Einbeziehung der
zuvor geleisteten dienstplanmäßigen Arbeit schon nach einer so kurzen Zeitspanne zur
Überschreitung der gesetzlichen Arbeitszeit von acht Stunden, dass eine entsprechende
Diensteinteilung von vornherein als sinnlos und damit als Überschreitung des
Direktionsrechts angesehen werden muss.
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Nach dem übereinstimmenden Vortrag der Parteien beläuft sich die dienstplanmäßig
geleistete Arbeit auf 7 Std. 42 Minuten, so dass bis zur Grenze von acht Stunden nur
noch ein kurzer Zeitraum verbleibt, welcher zur Arbeitsleistung während der
Rufbereitschaft zur Verfügung stünde. Unter Berücksichtigung der konkreten
betrieblichen Verhältnisse erscheint aber ausgeschlossen, dass ein derart kurzer
Zeitraum für eine sinnvolle Arbeitsleistung ausreichen könnte. Wie sich aus der vom
Beklagten vorgelegten Aufstellung über die Arbeitseinsätze während der Rufbereitschaft
im Anschluss an den regulären Spätdienst auf Bl. 39 d.A. ergibt, sind ganz überwiegend
mehrstündige Arbeitseinsätze angefallen. Dass es keineswegs an jedem Tage
angeordneter Rufbereitschaft überhaupt zu Arbeitseinsätzen gekommen ist, vermag
hieran nichts zu ändern. Hieraus ergibt sich aber, dass der Kläger, sofern er zur
Rufbereitschaft eingeteilt und tatsächlich Arbeitsleistung erforderlich wird, die zu
erledigende Arbeitsaufgabe nicht ohne Überschreitung der regelmäßigen gesetzlichen
Arbeitszeit von acht Stunden erfüllt werden könnte.
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(2) In Übereinstimmung mit der den Parteien bekannten Rechtsprechung des
Bundesarbeitsgerichts (Urt. v. 03.12.2003 – 9 AZR 462/01 – AP § 124 SGB IX Nr. 1)
knüpft die Vorschrift des § 124 SGB IX an die gesetzliche Arbeitszeit von acht Stunden
an. Allein die Tatsache, dass das Arbeitszeitgesetz unter bestimmten Voraussetzungen
eine Verlängerung der Regel-Höchstarbeitszeit erlaubt, ist für die Anwendung des § 124
SGB IX nicht maßgeblich. Dementsprechend kommt es nicht auf die Besonderheiten der
Arbeitszeitregelung in Krankenanstalten an. Nach Sinn und Zweck des § 124 SGB IX
liegt vielmehr Mehrarbeit bereits ab Überschreitung der gesetzlichen regelmäßigen
Arbeitszeit von acht Stunden vor.
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c) Entgegen dem Standpunkt des Beklagten handelt es sich bei den im Einzelfall
erforderlichen Arbeitseinsätzen während der Rufbereitschaft auch nicht um
Anwendungsfälle des § 14 ArbZG. Auch wenn man davon ausgeht, dass es sich bei
den während der Rufbereitschaft anfallenden Tätigkeiten um Notfälle im Sinne des § 14
Abs. 1 ArbZG oder um unaufschiebbare Arbeiten zur Behandlung, Pflege und
Betreuung von Personen im Sinne des § 14 Abs. 2 Ziff. 2 ArbZG handelt, ist zu
beachten, dass die für diesen Fall gesetzlich vorgesehene Durchbrechung
arbeitszeitrechtlicher Vorschriften nur in Frage kommt, wenn "deren Folge nicht auf
andere Weise zu beseitigen sind" bzw. "wenn dem Arbeitgeber andere Vorkehrungen
nicht zugemutet werden können". Eben die Einführung von Rufbereitschaft stellt sich
aber als entsprechende geeignete Vorkehrung zur Bekämpfung von Notlagen dar. Dass
der Kläger – wie jeder andere Arbeitnehmer – in nicht vorhersehbaren Notfällen zur
Arbeitsleistung herangezogen werden könnte, welche mittels der eingerichteten
Rufbereitschaft nicht abgedeckt sind, bedeutet nicht, dass auch solche Fallgestaltungen,
die nach der eigenen Darstellung des Beklagten mit einer gewissen Regelmäßigkeit
anfallen, eine allgemeine Ausnahme von arbeitszeitrechtlichen Regeln nach § 14
ArbZG begründen können. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der zitierten
Fundstelle bei Neumann/Pahlen, § 124 SGB IX Rz 4. Soweit es dort heißt, in
außergewöhnlichen Fällen, insbesondere in Notfällen ... müsse die notwendige Arbeit
durchgeführt werden, § 14 ArbZG sei auch hier sinngemäß auf den Fall des § 124 SGB
IX anzuwenden, so steht dies mit den vorstehenden Ausführungen durchaus im
Einklang, bedeutet aber nicht, dass im vorliegenden Zusammenhang von den
tatbestandlichen Voraussetzungen des § 14 ArbZG überhaupt abgesehen werden kann.
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d) Schließlich greift auch nicht der Einwand des Beklagten durch, der Kläger berufe sich
rechtsmissbräuchlich auf die Vorschrift des § 124 SGB IX, nachdem das im
Berufungsrechtszuge eingeholte Sachverständigengutachten die vom Kläger zunächst
geltend gemachten gesundheitlichen Bedenken nicht bestätigt habe. Die Vorschrift des
§ 124 SGB IX knüpft nicht an einen Zusammenhang zwischen gesundheitlich bedingten
Leistungseinschränkungen und konkreten Arbeitsbedingungen an, sondern räumt ganz
allgemein den Schwerbehinderten und den ihnen gleichgestellten Personen das Recht
ein, von Mehrarbeit freigestellt zu werden. Wie das Bundesarbeitsgericht in der bereits
zitierten Entscheidung ausgeführt hat, verfolgt das Gesetz auf diese Weise das Ziel,
dem schwerbehinderten Arbeitnehmer eine vergleichbare Teilhabe am Leben in der
Gesellschaft wie einem Nichtbehinderten zu verschaffen, wozu die Gewährung
ausreichender arbeitsfreier Zeit nach Maßgabe der gesetzlichen Arbeitszeitbegrenzung
auf acht Stunden arbeitstäglich gehört. Auf einen konkreten Zusammenhang mit den der
anerkannten Behinderung zugrunde liegenden Erkrankungen kommt es hierbei nicht an,
vielmehr gilt nach dem Gesetz ein abstrakter Maßstab für die Anerkennung der
Schwerbehinderung bzw. behördliche Gleichstellungsentscheidung. Dementsprechend
sind die von dem Beklagten vorgetragenen Gesichtspunkte nicht geeignet, eine
Durchbrechung der Vorschrift des § 124 SGB IX aus Gründen eines angeblichen
Rechtsmissbrauchs zu rechtfertigen.
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2. Auch der weiter vom Kläger verfolgte Feststellungsantrag, mit welchem er geltend
macht, nicht zur Arbeitsleistung von mehr als acht Stunden arbeitstäglich verpflichtet zu
sein, ist zulässig und im Wesentlichen begründet.
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a) Der Zulässigkeit des Antrages steht nicht entgegen, dass sich die gewünschte
Rechtsfolge bereits aus dem Gesetz herleiten lässt, welches mit den Vorschriften des §
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3 Satz 1 ArbZG und § 124 SGB IX entsprechend klare Vorgaben enthält. Schon die
Tatsache, dass der Beklagte dem Kläger das Recht abspricht, sich auf die Vorschrift des
§ 124 SGB IX zu berufen, lässt erkennen, dass es dem Kläger vorliegend nicht um die
Klärung einer abstrakten Rechtsfrage geht. Die Fragestellung gewinnt insbesondere
Bedeutung für den Fall, dass der Kläger zur Rufbereitschaft an Tagen eingeteilt wird, an
welchen er nicht dienstplanmäßig zu arbeiten hat.
b) Der vom Kläger verfolgte Feststellungsantrag ist auch in der Sache im Wesentlichen
begründet. Auch an denjenigen Tagen, an welchen der Beklagte den Kläger – unter
Beachtung von Freiwilligkeitsvorrang und Gleichbehandlung – außerhalb der regulären
Schichteinteilung zur Rufbereitschaft heranzieht und der Kläger gegebenenfalls
tatsächlich zur Arbeitsleistung herangezogen wird, ist die aus § 3 Abs. 1 ArbZG
ersichtliche regelmäßige Arbeitszeit von acht Stunden einzuhalten. Ausnahmen können
sich nur ergeben, soweit die Voraussetzungen des § 14 ArbZG einen längeren
Arbeitseinsatz als acht Stunden während der Rufbereitschaft erfordern und die weiteren
im Gesetz genannten Voraussetzungen vorliegen. Auch wenn derartige
Fallgestaltungen als eher unrealistisch erscheinen, kann der Kläger doch im Hinblick
auf den abweichenden Rechtsstandpunkt des Beklagten eine entsprechende
gerichtliche Feststellung verlangen, wobei allerdings mit Rücksicht auf die weite
Fassung des Klageantrags eine entsprechende Einschränkung in den Urteilstenor
aufzunehmen und der zu weit gefasste Klageantrag insoweit abzuweisen war.
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III
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92, 96, 97 ZPO i.V.m. § 46 Abs. 2 ArbGG.
Danach waren die durch die Beweisaufnahme veranlassten Kosten gemäß § 96 ZPO
dem Kläger allein aufzuerlegen. Auf der Grundlage des im ersten Rechtszuge verfolgten
weitgefassten Klageantrags waren die Kosten des ersten Rechtszuges gegeneinander
aufzuheben. Mit Rücksicht auf die nachfolgende Beschränkung des Klagebegehrens
ergibt sich für den zweiten Rechtszug die aus dem Tenor ersichtliche Quotelung.
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IV
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Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision gemäß § 72 Abs. 2 ArbGG liegen
nicht vor. Bei der Auslegung der Vorschrift des § 124 SGB IX folgt das
Landesarbeitsgericht der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts.
Weder der Einwand des Beklagten, der Kläger berufe sich rechtsmissbräuchlich auf die
genannte Vorschrift, noch die Anwendung des § 315 BGB bei der rechtlichen
Überprüfung der Zuweisung von Rufbereitschaft im Anschluss an die dienstplangemäße
Arbeitsleistung erfordern die Zulassung der Revision.
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Dr. Dudenbostel
Basista
Stangier
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En.
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