Urteil des LAG Hamm vom 17.08.2007

LArbG Hamm: betriebsrat, beratung, seminar, besuch, zukunft, arbeitsgericht, beurteilungsspielraum, tarifvertrag, firma, zusicherung

Landesarbeitsgericht Hamm, 13 TaBV 30/07
Datum:
17.08.2007
Gericht:
Landesarbeitsgericht Hamm
Spruchkörper:
13. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
13 TaBV 30/07
Vorinstanz:
Arbeitsgericht Minden, 1 BV 34/06
Nachinstanz:
Bundesarbeitsgericht, 7 ABN 90/07 Beschwerde zurückgewiesen
19.03.2008
Schlagworte:
Schulung; Schulungsveranstaltung; Erforderlichkeit; Tarifvertrag;
aktueller Tarifvertrag; Gleichstellungsabrede;
Normen:
§ 37 Abs. 6 S. 1 BetrVG
Tenor:
Die Beschwerde der Arbeitgeberin gegen den Beschluss des
Arbeitsgerichts Minden vom 18.01.2007 - 1 BV 34/06 - wird mit der
Maßgabe zurückgewiesen, dass der Tenor wie folgt lautet:
Die Arbeitgeberin wird verpflichtet, den Betriebsratsvorsitzenden B4 von
der Verbindlichkeit in Höhe von 267,50 Euro gegenüber der ver.di
Bildung + Beratung gGmbH aus der Rechnung vom 19.05.2006, Nr.
123456, freizustellen.
Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.
Gründe
1
A.
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Die Beteiligten streiten um die Erstattung der Kosten für die Teilnahme des
Betriebsratsvorsitzenden an dem eintägigen Seminar "Tarifabschluss im Einzelhandel
NRW".
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Die Arbeitgeberin, bei der etwa 300 Arbeitnehmer beschäftigt sind, ist innerhalb der P1-
M1-Gruppe ein Unternehmen der Logistikbranche, das keinem Arbeitgeberverband
angehört.
4
Die Arbeitgeberin hat den Bereich "Logistik" zum 01.01.2003 im Wege eines
Betriebsübergangs von der P1 M1 Handelsgesellschaft GmbH & Co. KG F1 u. G3
übernommen. Diese Gesellschaft war bis zum 31.12.2001 Mitglied eines
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tarifschließenden Arbeitgeberverbandes des Einzelhandels NRW. In den bei ihr zuvor
geschlossenen Arbeitsverträgen heißt es z.B.: "Die Arbeitsbedingungen richten sich
nach den jeweiligen tariflichen Bestimmungen des Einzelhandels" (= Arbeitnehmer B5)
oder "Der jeweilige Manteltarifvertrag für den Einzelhandel sowie der Lohn- und
Gehaltstarifvertrag für den Einzelhandel sind Inhalt dieses Anstellungsvertrages" (=
Arbeitnehmer B4).
Nachdem die letzte Tarifbindung an den MTV Einzelhandel NRW mit Ablauf des
31.03.2003 entfallen war, teilte die Arbeitgeberin durch ihren damaligen Geschäftsführer
F1 dem Betriebsrat im Schreiben vom 11.04.2003 unter anderem folgendes mit:
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...
7
die P1 M1 L1 GmbH & Co.KG für Westfalen ist kein Einzelhandelsunternehmen
und unterliegt als Firma nicht dem Einzelhandelstarifvertrag.
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Unabhängig davon, ist mit den Mitarbeitern in den Arbeitsverträgen die Wirkung
des Einzelhandelstarifvertrages vereinbart worden. Für alle Mitarbeiter, die diese
Vereinbarung haben, gelten mit arbeitsrechtlicher Wirkung auch in Zukunft für den
jeweiligen Mitarbeiter die Bestimmungen des Einzelhandelstarifvertrages
Nordrhein-Westfalen. Alle zukünftigen Mitarbeiter werden eine Tarifbindung zum
Einzelhandelstarifvertrag nicht mehr besitzen.
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Die für den Einzelhandel NRW im Jahre 2003 vereinbarte Tariflohnerhöhung (1,6 % ab
01.07.2003 zuzüglich Pauschalzahlungen für die vorangegangenen drei Monate) gab
die Arbeitgeberin in vollem Umfang an ihre Mitarbeiter weiter.
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Nachdem im Februar 2006 im genannten Tarifbereich neue Tarifverträge
abgeschlossen worden waren, lehnte die Arbeitgeberin gegenüber dem Betriebsrat am
28.04.2006 die Übernahme ab, worüber der Betriebsrat am 11.05.2006 die Belegschaft
informierte.
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Am 18.05.2006 fasste der Betriebsrat dann den Beschluss, den Vorsitzenden zu einem
eintägigen Seminar am 01.06.2006 mit dem Thema "Tarifabschluss im Einzelhandel
NRW" zu entsenden. Wegen des genauen Inhalts und der Durchführungsmodalitäten
wird verwiesen auf das mit Antragsschriftsatz vom 18.08.2006 in Kopie eingereichte
Seminarangebot (Bl. 6 f. d. A.).
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Die Arbeitgeberin lehnte den begehrten Besuch des Seminars mit Schreiben vom
22.05.2006 ab.
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Nach erfolgter Seminarteilnahme erhielt der Betriebsratsvorsitzende eine an ihn
gerichtete Rechnung der ver.di Bildung + Beratung Gemeinnützige GmbH vom
19.05.2006 über einen Betrag in Höhe von 267,50 € (Bl. 10 d. A.).
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Nachdem die Arbeitgeberin in der Folgezeit die Erstattung ablehnte, leitete der
Betriebsrat das vorliegende Beschlussverfahren ein.
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Er hat die Auffassung vertreten, die Teilnahme an dem Seminar sei erforderlich
gewesen, weil unverändert Streit darüber bestehe, ob die Tarifregelungen des
Einzelhandels NRW im Betrieb dynamisch fortgelten würden.
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Der Betriebsrat hat beantragt,
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die Arbeitgeberin zu verpflichten, den Betriebsratsvorsitzenden B4 von den
Schulungskosten seiner Teilnahme an dem Seminar "Tarifabschluss im
Einzelhandel NRW" am 01.06.2006 in K2 gegenüber der ver.di Bildung +
Beratung gGmbH, M4 W3 123, 45678 D4, aus der Rechnung mit der Nr. 123456
vom 19.05.2006 über einen Betrag von 267,50 € freizustellen und an die ver.di
Bildung und Beratung gGmbH 267,50 € nebst Zinsen von jeweils fünf
Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 26.08.2006 zu zahlen.
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Die Arbeitgeberin hat beantragt,
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den Antrag abzuweisen.
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Sie hat zum Ausdruck gebracht, dass die neu abgeschlossenen
Einzelhandelstarifverträge in ihrem Betrieb nicht mehr gelten würden. Schon deshalb
habe keine Notwendigkeit für den Betriebsratsvorsitzenden bestanden, sich dazu über
einen Zeitraum von sieben Stunden schulen zu lassen.
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Das Arbeitsgericht hat mit Beschluss vom 18.01.2007 dem Antrag stattgegeben.
Hinsichtlich der Begründung wird Bezug genommen auf B. der Gründe der
erstinstanzlichen Entscheidung.
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Gegen diesen ihr am 09.02.2007 zugestellten Beschluss hat die Arbeitgeberin am
22.02.2007 Beschwerde eingelegt und sie am 10.04.2007, dem Dienstag nach Ostern,
begründet.
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Sie meint, es habe kein aktueller Anlass für den Besuch der Schulungsveranstaltung
bestanden, weil der Tarifabschluss im Einzelhandel aus dem Jahre 2006 für den Betrieb
keine Bedeutung mehr habe. So lasse sich weder aus den abgeschlossen Alt-
Arbeitsverträgen noch aus Aussagen des ehemaligen Geschäftsführers F1 eine
dynamische Weitergeltung der Tarifverträge des Einzelhandels NRW ableiten.
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Selbst wenn die aktuellen tariflichen Vergütungsregelungen weiter einschlägig seien,
rechtfertige das nicht den Besuch eines siebenstündigen Seminars.
25
Der Arbeitgeber beantragt,
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den Beschluss des Arbeitsgerichts Minden vom 18.01.2007 – 1 BV 34/06 –
abzuändern und den Antrag abzuweisen.
27
Der Betriebsrat beantragt,
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die Beschwerde zurückzuweisen.
29
Er vertritt die Auffassung, die Alt-Arbeitsverträge beinhalteten dynamische
Verweisungen. Davon abgesehen lasse sich dem Schreiben des ehemaligen
Geschäftsführers F1 vom 11.04.2003 eine entsprechende Zusicherung entnehmen.
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Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze nebst
31
Anlagen ergänzend Bezug genommen.
B.
32
Die zulässige Beschwerde der Arbeitgeberin ist unbegründet.
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Zu Recht und mit zutreffender Begründung ist das Arbeitsgericht zu dem Ergebnis
gelangt, dass die Arbeitgeberin den Betriebsratsvorsitzenden B4 von den
Schulungskosten gemäß Rechnung der ver.di Bildung + Beratung gGmbH vom
19.05.2006 in Höhe von 267,50 € freizustellen hat.
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Ein entsprechender Anspruch des Betriebsrates ergibt sich aus § 40 Abs. 1 i. V. m. § 37
Abs. 6 S. 1 BetrVG.
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Nach § 40 Abs. 1 BetrVG hat der Arbeitgeber für die durch die Tätigkeit des
Betriebsrates entstandenen Kosten aufzukommen. Dazu gehören auch die Kosten, die
anlässlich der Teilnahme eines Betriebsratsmitglieds an einer Schulungsveranstaltung
nach § 37 Abs. 6 S. 1 BetrVG entstandenen sind, sofern das dort vermittelte Wissen für
die Betriebsratsarbeit erforderlich ist. Davon ist auszugehen, wenn die erworbenen
Kenntnisse unter Berücksichtigung der konkreten Verhältnisse im Betrieb und im
Betriebsrat notwendig sind, damit der Betriebsrat seine gegenwärtigen oder in naher
Zukunft anstehenden Aufgaben sach- und fachgerecht erfüllen kann (zuletzt BAG AP
BetrVG 1972 § 37 Nr. 136).
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Bei dem Merkmal der Erforderlichkeit handelt es sich um einen unbestimmten
Rechtsbegriff, bei dessen Ausfüllung dem Betriebsrat, abgestellt auf den Zeitpunkt der
Beschlussfassung, ein gewisser Beurteilungsspielraum zusteht, innerhalb dessen die
Entscheidung so oder so ausfallen kann. Dabei hat der Betriebsrat sich allerdings nicht
nach seinen subjektiven Vorstellungen zu richten; vielmehr muss er sich auf den
Standpunkt eines verständigen Dritten stellen, der die Interessen des Betriebs einerseits
und die des Betriebsrates und der Arbeitnehmerschaft andererseits gegeneinander
abzuwägen hat (BAG AP BetrVG 1972 § 37 Nr. 58, 67).
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Gemessen an diesen Maßstäben war die Teilnahme des Betriebsratsvorsitzenden an
der eintägigen Schulung zu den tarifvertraglichen Neuerungen im Einzelhandel NRW
erforderlich.
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Dabei ist vorauszuschicken, dass es allgemein zumindest für ein Betriebsratsmitglied
notwendig ist, sich jeweils aktuell Kenntnisse über den (geänderten) Inhalt von
Tarifverträgen zu verschaffen, sofern diese im Betrieb, wenn auch "nur" auf
arbeitsvertraglicher Grundlage (vgl. BAG AP BetrVG 1972 § 80 Nr. 61), zur Anwendung
gelangen (vgl. BAG AP BetrVG 1972 § 37 Nr. 4; LAG Hamm DB 1981, 1678; ArbG
Aachen ARST 1975, 163; Fitting, 23. Aufl., § 37 Rdnr. 149; GK-BetrVG/Weber, 8. Aufl., §
37 Rdnr. 169). Denn nur dann ist es dem Betriebsrat möglich, im Rahmen des § 80 Abs.
1 Nr. 1 BetrVG über deren ordnungsgemäße Durchführung zu wachen. Er benötigt
dieses Wissen auch, um zum Beispiel im Rahmen seiner Mitbestimmungsrechte gemäß
§ 87 Abs. 1 Nr. 10, 11 BetrVG abschätzen zu können, ob und gegebenenfalls in
welchem Umfang ein Tarifvorrang (§ 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG) besteht und ob
bei personellen Einzelmaßnahmen eine tarifvertragliche Bestimmung tangiert ist (vgl. §
99 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG).
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Vorliegend ist allerdings zwischen den Beteiligten umstritten, ob das Tarifwerk des
Einzelhandels NRW weiterhin dynamisch im Betrieb zur Anwendung kommt. Es fällt
aber in den bestehenden gesetzlichen Beurteilungsspielraum, wenn der Betriebsrat bei
seiner Beschlussfassung am 18.05.2006 davon ausging, die eintägige Schulung eines
Betriebsratsmitgliedes zu den tarifvertraglichen Änderungen im Einzelhandel sei
erforderlich. Aus der maßgeblichen Sicht eines verständigen Dritten war nämlich die
juristisch umstrittene Frage der dynamischen Weitergeltung des gesamten Tarifwerks im
Betrieb der Arbeitgeberin nicht ohne weiteres zu entscheiden. Dazu hat die
Arbeitgeberin selbst mit beigetragen, indem sie zum Beispiel, ohne aus ihrer Sicht dazu
verpflichtet zu sein, im Jahre 2003 die vereinbarten Tariflohnerhöhungen
einschränkungslos an ihre Arbeitnehmer weitergab. Auch die Aussagen in dem an den
Betriebsrat am 11.04.2003 gerichteten Schreiben zur "Tarifzugehörigkeit" geben nicht
unmissverständlich wieder, dass bei einzelvertraglicher Inbezugnahme die Tarifverträge
in Zukunft nur statisch weitergelten sollten. Davon abgesehen wird zum Beispiel im
Arbeitsvertrag des Beteiligten B4 in § 1 "nur" Bezug genommen auf den MTV
Einzelhandel und den Lohn- und Gehaltstarifvertrag, während man sich bei dem
Arbeitnehmer B5 unter Ziffer 2 des Arbeitsvertrages auf die "jeweiligen tariflichen
Bestimmungen des Einzelhandels" bezieht, also zum Beispiel unter Einschluss des
Tarifvertrages über Sonderzahlungen.
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Hinzu kommt, dass das Bundesarbeitsgericht ein halbes Jahr vor der Beschlussfassung
des Betriebsrates in seiner Entscheidung vom 14.12.2005 (4 AZR 536/04 – NZA 2006,
607) für die ab 01.01.2002 abgeschlossenen Arbeitsverträge eine Änderung der
Rechtsprechung zur Auslegung der arbeitsvertraglichen Gleichstellungsabrede
angekündigt hatte; danach sollen dynamische Verweisungen in Arbeitsverträgen auf
einschlägige Tarifverträge und Tarifwerke fortan nicht mehr stets als bloße
Gleichstellungsklauseln zu verstehen sein. Allerdings hat der Senat – im Widerspruch
zur Regelung des Übergangsrechts in Artikel 229 § 5 S. 2 EGBGB (vgl Giesen, NZA
2006, 625, 628) – für die vor dem 01.01.2002 geschlossenen sogenannten Altverträge
aus Gründen des Vertrauensschutzes angekündigt, die alte Auslegungsregel, wonach
die vertragliche Einbindung in die (dynamische) Tarifentwicklung mit dem Wegfall der
Tarifbindung auf Arbeitgeberseite endet, weiterhin anzuwenden.
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Wenn in dieser Situation der Betriebsrat, ohne im Einzelnen über die einschlägige
Ausgestaltung der bei der Arbeitgeberin ab dem 01.01.2002 abgeschlossenen
Arbeitsverträge orientiert zu sein, in Kenntnis des am 11.04.2003 verfassten, nicht ganz
klaren arbeitgeberseitigen Schreibens am 18.05.2006 zu der Entscheidung gelangt ist,
den Vorsitzenden zu einer eintägigen Schulung über die Ergebnisse des aktuellen
Tarifabschlusses im Einzelhandel NRW zu entsenden, hat er sich dabei im Rahmen des
ihm gesetzlich eingeräumten Beurteilgungsspielraumes gehalten. Denn wegen des "in
seinen Folgen noch nicht vollständig klaren Rechtsprechungswandels" (so
ErfK/Franzen, 7. Aufl., § 3 TVG Rdnr. 36) war es sachgerecht, wenn der Betriebsrat sich
über die Fortentwicklung des Tarifwerks im nordrhein-westfälischen Einzelhandel auf
dem Laufenden hielt, um gegebenenfalls seinen Pflichten zum Beispiel gemäß § 80
Abs. 1 Nr. 1 BetrVG jederzeit kompetent nachkommen zu können. Dies wäre von
vornherein unmöglich, wenn man ihm einen Schulungsbedarf versagen würde, sich
aber irgendwann in laufenden gerichtlichen Urteilsverfahren herausstellen würde, dass
das genannte Tarifwerk (ganz oder zum Teil) weiterhin zumindest für einen Teil der
Arbeitnehmer dynamisch weitergegolten hat.
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Gründe für die Zulassung der Rechtsbeschwerde sind nicht gegeben.
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Dr. Müller Sandbothe Tillmann
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