Urteil des LAG Hamm vom 24.11.2006

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Landesarbeitsgericht Hamm, 13 Sa 1100/06
Datum:
24.11.2006
Gericht:
Landesarbeitsgericht Hamm
Spruchkörper:
13. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
13 Sa 1100/06
Vorinstanz:
Arbeitsgericht Dortmund, 6 Ca 326/06
Schlagworte:
außerordentliche Kündigung; außerordentlich; fristlos; Manipulation;
Zeiterfassung; elektronisch
Normen:
§ 626 Abs. 1 BGB
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts
Dortmund vom 27.04.2006 - 6 Ca 326/06 - wird mit der Maßgabe
zurückgewiesen, dass der Tenor folgende Fassung erhält:
1. Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien begründete
Arbeitsverhältnis nicht durch die außerordentliche Kündigung der
Beklagten vom 09.01.2006 aufgelöst worden ist.
2. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger als Drucker zu unveränderten
Arbeitsbedingungen in D3xxxxxx bis zum rechtskräftigen Abschluss
dieses Rechtsstreits weiterzubeschäftigen.
3. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.
4. Der Streitwert wird auf 22.500,00 € festgesetzt.
Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer fristlosen Kündigung; der Kläger begehrt
seine Weiterbeschäftigung.
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Der am 21.11.12xx geborene, ledige Kläger trat mit Wirkung ab 01.10.1990 als Drucker
zu einer Bruttomonatsvergütung von zuletzt 4.500,00 € in die Dienste der Beklagten,
einem Betrieb mit ca. 80 Beschäftigten, in dem unter anderem eine D7xxxxxxxx
Tageszeitung gedruckt wird. Der Kläger ist Mitglied des Betriebsrates.
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Am Mittwoch, den 28.12.2005, nahm er an einer ab 20.02 Uhr stattgefundenen
Betriebsversammlung teil, bevor er um 20.58 Uhr das Zeiterfassungsgerät bediente.
Seine Schicht begann an diesem Tag um 22.00 Uhr; erst ab diesem Zeitpunkt
berücksichtigte das Zeiterfassungssystem die (vergütete) Arbeitszeit, die sich ohne
Pause bis 4.00 Uhr erstreckte.
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Der Kläger war an dem Abend an der älteren Druckmaschine "Commander" tätig, und
zwar neben zwei weiteren Druckern und drei Rotationshelfern. Alle genannten
Mitarbeiter sind grundsätzlich in den 30 Minuten zwischen Schichtbeginn und
Zeitungsandruck um 22.30 Uhr mit der Einrichtung der Maschine voll beschäftigt. Dies
galt besonders für die in Rede stehende Nacht von Mittwoch auf Donnerstag, weil die
Druckmaschine nach der vorherigen Nachtschicht nicht gereinigt worden und in der
Tagschicht ungenutzt geblieben war.
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Der Kläger brachte an diesem Abend mehrere 100 Flugblätter (Bl. 30 d. Akten) seiner
Gewerkschaft ver.di mit in den Betrieb. Er war von dieser beauftragt worden, den darin
enthaltenen Aufruf zur Teilnahme an den bevorstehenden Betriebsratswahlen an die
Zusteller zu verteilen. Zu diesem Zweck sprach er verschiedene im Gebäudekomplex
tätige Beschäftigte an und bat sie, Flugblätter zu Hause an ihre Briefkästen zu heften. Er
wandte sich unter anderem auch an die im Postversand A und B tätigen Mitarbeiter der
Firma M6 Z1xxxxxxxxxxxxxxx-G2xxxxxxxxxx mbH & Co. (im folgenden kurz: Fa. M6).
Der dort beschäftigte Arbeitnehmer M7xxx machte den Vorschlag, die Flugblätter –
gemeinsam mit den Tourenblättern – auf die zu verpackenden Zeitungen zu legen. Dem
stimmte der Kläger zu. Auf dem Rückweg berichtete er der bei der Beklagten tätigen
Mitarbeiterin A2xxx im Postversand C von der Idee, woraufhin auch dort Flugblätter den
Postsendungen beigefügt wurden.
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Der Kläger war deshalb zumindest in der Zeit von 22.10 Uhr bis kurz vor 22.30 Uhr nicht
an seinem Arbeitsplatz. Bevor pünktlich um 22.30 Uhr der Zeitungsdruck begann und
innerhalb des üblichen Zeitplans abgeschlossen wurde, waren noch die letzten aus
Aktualitätsgründen bis 22.24 Uhr belichteten Druckplatten in die Maschine eingelegt
worden. Die Zeitungen wurden pünktlich verpackt und an die Zusteller ausgeliefert.
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Mit einem fünfseitigen Schreiben vom 05.01.2006 beantragte die Beklagte beim
Betriebsrat die Zustimmung zur fristlosen Kündigung des Klägers, die daraufhin mit
Schreiben vom 06.01.2006 erteilt wurde. Hinsichtlich des Inhalts beider Schreiben wird
Bezug genommen auf die mit Klageschriftsatz vom 19.01.2006 eingereichten Kopien
(Bl. 24 – 29 der Akten).
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Daraufhin sprach die Beklagte dem Kläger mit Schreiben vom 09.01.2006 (Bl. 22 der
Akten), zugegangen am selben Tag, die "außerordentliche, fristlose" Kündigung aus.
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Gegen die Wirksamkeit dieser Kündigung wendet sich der Kläger mit der am 20.01.2006
erhobenen Klage.
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Er hat behauptet, am 28.12.2005 gemeinsam mit einem Kollegen bereits vor 22.00 Uhr
mit der Einrichtung der Druckmaschine begonnen zu haben; nach der
Betriebsversammlung seien nämlich alle bereits ca. eine Stunde vor Schichtbeginn im
Betrieb anwesend gewesen. So sei die "Commander" um 22.10 Uhr, als er seinen
Arbeitsplatz verlassen habe, komplett eingerichtet gewesen. Lediglich die Titel- und die
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Hauptsportseite seien aus Aktualitätsgründen – wie immer – erst kurz vor Andruck
eingespannt worden. Daran sei er im vollen Umfang bzgl. der in seinen
Zuständigkeitsbereich fallenden Rot- und Blauform der Titelseite beteiligt gewesen.
Zuvor sei er nach Aufenthalten im Postversand der Linie C und im Postversand A + B
gegen 22.20 Uhr zur Druckmaschine zurückgekehrt. Da keine Arbeit vorhanden
gewesen sei, habe er in Absprache mit dem Maschinenführer L4xxxxxxxxxx den
Betriebsratsvorsitzenden P1xxx aufgesucht und sei im Vorbeigehen auf den
stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden T1xxxx getroffen; beiden habe er Flugblätter
zur Weiterleitung übergeben. Deutlich vor 22.30 Uhr sei er dann wieder an die Maschine
zurückgekehrt und habe die restlichen Arbeiten ordnungsgemäß erledigt.
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Der Kläger hat die Auffassung vertreten, durch die Flugblattaktion sei der Beklagten kein
Schaden entstanden. So sei in seiner Abwesenheitszeit nichts für ihn zu tun gewesen.
Die von ihm angesprochenen Mitarbeiter habe er auch nicht von der Arbeit abgehalten.
Durch das Zupacken der Flugblätter sei es nicht zu einer Verlängerung der
Arbeitszeiten der betroffenen Mitarbeiter in den Postversandbereichen A, B und C
gekommen.
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Der Kläger hat beantragt,
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1. festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch
die Kündigung der Beklagten vom 09.01.2006 nicht aufgelöst worden ist,
2. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis auch nicht durch andere
Beendigungstatbestände endet, sondern über den 09.01.2006 hinaus fortbesteht,
3. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger zu unveränderten Bedingungen als
Drucker in D3xxxxxx über die Kündigungsfrist hinaus weiter zu beschäftigen.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hat behauptet, der Kläger habe sich am 28.12.2005 weder vor noch nach Beginn
seiner Arbeitszeit an der Einrichtung der Druckmaschine beteiligt. An seinem
Arbeitsplatz sei er frühestens um 22.30 Uhr erschienen und habe sich um 22.45 Uhr
nochmals zur Fortführung der Flugblattaktion in einer anderen Produktionshalle
aufgehalten.
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Die Abwesenheit des Klägers jedenfalls ab 22.10 Uhr sei nicht hinnehmbar, weil es aus
Aktualitätsgründen jederzeit zu einem Arbeitsanfall kommen könne; im Übrigen fielen an
der alten Druckmaschine immer Pflege- und Wartungsarbeiten von kurzer Dauer an.
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Was die Verteilung von Flugblättern angehe, habe der Kläger in der sensibelsten
Produktionsphase von 21.30 Uhr – 2.30 Uhr die Arbeit behindert, indem er Mitarbeiter
mit betriebsfremden Arbeiten befasst habe. Durch das Einstecken der Flugblätter seien
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ihr, der Beklagten, etwa 1,5 Arbeitsstunden entgangen – mit einem Schaden in Höhe
von 22,50 €.
Durch die Flugblattaktion sei der Vertrieb empfindlich gestört worden. Deshalb habe
sich die Firma V2xxxx L1xxxxx- W1xxx GmbH & Co.KG (im folgenden kurz: Verlag) mit
Schreiben vom 04.01.2006 die Geltendmachung einer Vertragsstrafe von bis zu
50.000,00 € vorbehalten.
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Das Arbeitsgericht hat mir Urteil vom 27.04.2006 der Klage stattgegeben. Zur
Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, selbst bei einer unterstellten
3/4stündigen Abwesenheit des Klägers am 28.12.2005 ab 22.00 Uhr rechtfertige dieser
Pflichtverstoß keine fristlose Kündigung, weil in der Produktion kein Schaden
entstanden sei und die Beklagte ihre geschuldeten Leistungen gegenüber Dritten im
Ergebnis ordnungsgemäß erbracht habe. Selbst bei Annahme eines wirtschaftlichen
Nachteil in Höhe von 22,50 € stehe dem die Beanstandungsfreie Tätigkeit des Klägers
über mehr als 15 Jahre gegenüber.
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Gegen dieses der Beklagten am 01.06.2006 zugestellte Urteil hat sie am 30.06.2006
Berufung eingelegt und das Rechtsmittel zugleich auch begründet.
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Sie ist der Ansicht, der Kläger habe sich eines die fristlose Kündigung rechtfertigenden
Betruges strafbar gemacht, als er am 28.12.2005 trotz Betätigung des
Zeiterfassungsgeräts seine Arbeit zu Schichtbeginn nicht aufgenommen habe.
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So habe er die erforderlichen laufenden und vielfältigen Reinigungs-, Wartungs- und
Kontrollarbeiten unterlassen und damit die Störanfälligkeit der älteren Druckmaschine
"Commander" erhöht.
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Im Übrigen habe er sich von seinem Arbeitsplatz unerlaubt entfernt, um Flugblätter zu
verteilen. In dem Zusammenhang habe er unzulässigerweise Betriebsmittel zu eigenen
Zwecken in Anspruch genommen und den Ablauf im Versandbereich gestört. Dadurch
sei sie gezwungen gewesen, Ende Januar 2006 an den Verlag wegen einer Verletzung
des Geschäftsbesorgungsvertrages vom 11.11.2004 (Bl. 286 ff. der Akten) eine
Vertragsstrafe in Höhe von 40.000,00 € zu zahlen. Hinsichtlich der weiteren
Einzelheiten wird insoweit verwiesen auf die Ausführungen im Beklagtenschriftsatz vom
31.07.2006 nebst Anlagen (Bl. 283 ff. der Akten).
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Die Beklagte beantragt,
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das Urteil des Arbeitsgerichts Dortmund vom 27.04.2006 – 6 Ca 326/06 –
abzuändern und die Klage abzuweisen.
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Der Kläger beantragt,
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die Berufung mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass Ziffer 2 des
arbeitsgerichtlichen Tenors entfällt und die Weiterbeschäftigung bis zum
rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreits verlangt wird.
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Er behauptet, am Abend des 28.12.2005 ab 22.10 Uhr nach ordnungsgemäßem
Abschluss der Maschineneinrichtung lediglich im Umfang von 10 Minuten für die
Weitergabe von etwa 300 Flugblättern an Zeitungszusteller gesorgt zu haben. Der
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fristgerechte Andruck und die pünktliche Fertigstellung des Druckauftrages seien
dadurch nicht beeinträchtigt worden.
Durch die Flugblattaktion sei kein materieller Schaden entstanden. Namentlich liege
keine Rufschädigung vor, weil die Flugblätter nur den Zustellern ausgehändigt worden
seien.
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Wegen des weiteren Vorbringens beider Parteien wird auf den Inhalt der gewechselten
Schriftsätze nebst deren Anlagen ergänzend Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe
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Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet.
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Denn das Arbeitsgericht hat zu Recht festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der
Parteien nicht durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 09.01.2006
aufgelöst worden ist, und die Beklagte zur Weiterbeschäftigung verurteilt.
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I.
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Nach § 626 Abs. 1 BGB ist die außerordentliche Kündigung eines Arbeitsverhältnisses
durch den Arbeitgeber nur dann gerechtfertigt, wenn Tatsachen gegeben sind, aufgrund
derer diesem unter Berücksichtung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung
der beiderseitigen Interessen nicht mehr zumutbar ist, das Vertragsverhältnis bis zum
Ablauf der Kündigungsfrist fortzusetzen.
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1. In diesem Zusammenhang entspricht es allgemeiner Meinung, dass Manipulationen
im Zusammenhang mit der elektronischen Erfassung von Arbeitszeiten wegen des
damit verbundenen schweren Vertrauensbruchs die sofortige Beendigung eines
Arbeitsverhältnisses rechtfertigen können (vgl. z.B. BAG AP SGB IX § 91 Nr. 4; AP BGB
§ 123 Nr. 51; AP BetrVG 1972 § 103 Nr. 7; LAG Hamm DB 1986, 1338; LAG Köln LAGE
BGB § 626 Nr. 153; ErfK/Müller-Glöge, 7. Aufl., § 626 Rdnr. 158; KR/Fischermeier, 7.
Aufl., § 626 BGB Rdnr. 444).
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Die genannten Voraussetzungen sind hier aber nicht erfüllt.
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So bleibt auch in der von der Beklagten in Auftrag gegebenen gutachterlichen
Stellungnahme von Prof. Dr. N2xxxx ausweislich des unter II. des Gutachtens
wiedergegebenen Sachverhaltes der für die Gesamtbeurteilung wesentliche
Gesichtspunkt unberücksichtigt, dass der Kläger vorträgt, er habe am 28.12.2005 bereits
vor 22.00 Uhr den größten Teil der von ihm bis 22.30 Uhr geschuldeten Arbeit erbracht.
In dem Zusammenhang führt die Beklagte in dem umfangreichen Berufungsschriftsatz
vom 30.06.2006 auf Seite 18 "lediglich" aus, dafür gebe es keine Anhaltspunkte,
jedenfalls sei dem Schichtführer K3xxxx nichts aufgefallen. Dabei verkennt sie, dass sie
für den kündigungsrelevanten Sachverhalt in vollem Umfang darlegungspflichtig ist.
Dazu gehört hier ein Vortrag, der es ausschließt, dass der Kläger bereits vor 22.00 Uhr
einen Großteil der von ihm eigentlich erst nach 22.00 Uhr geschuldeten Arbeitsleistung
erbracht hat. Denn nur im Falle einer ganz unterlassenen Arbeitsleistung kann der für
einen Betrug relevante Schaden und der damit einhergehende gravierende
Vertrauensbruch eintreten (vgl. gutachterliche Stellungnahme, Seite 13 f. B. IV. 1. e).
Anderenfalls liegt "nur" ein Verstoß gegen den mit dem Betriebsrat im Rahmen des § 87
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Abs 1 Nr. 2 BetrVG vereinbarten Beginn der Arbeitszeit erst ab 22.00 Uhr vor. Diese
Verletzung der betrieblichen Ordnung könnte allenfalls dann kündigungsrelevant sein,
wenn die Beklagte dargelegt hätte, dass der Produktionsprozess in der Nacht vom 28.
zum 29.12.2005 durch eine eigenmächtige Verlagerung der Arbeitszeit seitens des
Klägers konkret beeinträchtigt worden ist, beispielsweise durch Störungen, die durch die
Druckmaschine "Commander" hervorgerufen worden sind.
So ist zugunsten des Klägers davon auszugehen, dass er in möglicherweise
abmahnwürdiger Art und Weise am 28.12.2005 bis kurz vor 22.30 Uhr die Lage seiner
Arbeitszeit eigenmächtig verändert hat. Da aber eine messbare Beeinträchtigung der
betrieblichen und/oder wirtschaftlichen Interessen der Beklagten nicht feststellbar ist,
scheidet unter diesem Gesichtspunkt der Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung
aus.
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2. Auch die vom Kläger durchgeführte Flugblattaktion kann die außerordentliche
Kündigung nicht rechtfertigen.
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a) In dem Zusammenhang ist vorauszuschicken, dass er am Abend des 28.12.2005
erkennbar als Vertreter der Gewerkschaft ver.di Flugblätter verteilt hat und insoweit für
sich den verfassungsrechtlichen Schutz in Anspruch nehmen kann, den Art. 9 Abs. 3 GG
der Werbung für seine Gewerkschaft angedeihen lässt, und zwar auch während der
Arbeitszeit (vgl. BVerfG AP Art. 9 GG Nr. 80). Dem gegenüber steht die durch Art. 2 Abs.
1 GG gewährleistete wirtschaftliche Betätigungsfreiheit des Arbeitgebers, die
insbesondere bei einer Störung des Arbeitsablaufs und des Betriebsfriedens tangiert ist
(BverfG, a.a.O.).
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Unter Berücksichtigung dieser grundrechtlich geschützten Positionen beider
Vertragspartner kann nicht festgestellt werden, dass der Kläger, als er während der
Arbeitszeit die Flugblätter zum Anbringen an Briefkästen und zum Versand mit den
Zeitungen verteilte, in kündigungsrelevanter Art gegen seine arbeitsvertraglichen
Pflichten verstoßen hat.
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So lässt sich weder bei ihm selbst noch bei den von ihm kontaktierten Personen
feststellen, dass sie dadurch in nennenswertem Umfang von der Verrichtung ihrer
geschuldeten Arbeitsleistung abgehalten worden sind; vielmehr hat der Kläger
unwidersprochen vorgetragen, dass die Produktion und Auslieferung der Zeitung auch
in der Nacht vom 28. zum 29.12.2005 ungehindert und ohne Verzögerung vonstatten
gegangen ist.
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b) Was den Gesichtspunkt angeht, dass der Vertriebsweg unzulässigerweise genutzt
wurde, um kostenlos gewerkschaftliche Flugblätter an Zeitungszusteller zu verteilen, ist
zunächst einmal zu bemerken, dass dies nicht die Idee des Klägers war, sondern auf
einen Vorschlag des M6-Mitarbeiters M7xxx zurückgeht. Dieser wurde deshalb
bemerkenswerterweise von seinem Arbeitgeber bei einer zum damaligen Zeitpunkt
bestehenden Personenidentität auf Geschäftsführerebene nicht mit einer Kündigung
belegt.
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Es bleibt allerdings festzuhalten, dass der Kläger sich den unrechtmäßigen Vorschlag
des Arbeitnehmers M7xxx zu eigen gemacht hat und anschließend seine Kollegin
A2xxx im Postversand C dazu gebracht hat, entsprechend zu verfahren.
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Dieses weder mit der Beklagten noch mit der Firma M6 abgestimmte Verhalten ist zwar
arbeitsvertragswidrig, kann aber namentlich angesichts eines im Kündigungszeitpunkt
über 15 Jahre beanstandungsfrei bestandenen Arbeitsverhältnisses allenfalls den
Ausspruch einer Abmahnung rechtfertigen, nicht aber die sofortige Beendigung des
Vertragsverhältnisses.
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c) Was schließlich die von Seiten des Verlages mit Schreiben vom 04.01.2006 geltend
gemachte und erst rund drei Wochen nach Anhörung des Betriebsrates und Ausspruch
der streitbefangenen Kündigung gezahlte Vertragsstrafe in Höhe von 40.000,00 €
angeht, kann dieser Gesichtspunkt ebenfalls die streitbefangene Kündigung nicht
rechtsfertigen. Es handelt sich nämlich um eine der Höhe nach weit überzogene und
damit insgesamt unwirksame Sanktionierung einer Verletzung des
Geschäftsbesorgungsvertrages vom 11.11.2004, wobei bemerkenswerterweise
wiederum innerhalb des "Medienhauses L1xxxxx" sowohl auf Seiten der Beklagten wie
auch auf Seiten des anspruchstellenden Verlages Herr L3xxxxx L1xxxxx-W1xxx als
damaliger jeweiliger Mitgeschäftsführer tätig geworden ist.
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Auslöser für die Beanspruchung der Vertragsstrafe war ein Schreiben der Firma
L1xxxxx-W1xxx Pressevertriebsgesellschaft mbH & Co. KG vom 03.01.2006, in dem
diese darauf hinwies, sie müsse fortan bis zur Betriebsratswahl, also über eine Zeitraum
von nur maximal fünf Monaten bis Ende Mai 2006, Stichproben durchführen, wodurch es
zu Verzögerungen bei der Zeitungsauslieferung kommen könne. Wenn in einer solchen
Konstellation der Verlag sich mit Schreiben vom 04.01.2006 an die Beklagte gewandt
hat mit der Erwartung, dass geeignete Maßnahmen ergriffen werden, um
Wiederholungsfälle zu vermeiden, war dies eine angemessene Reaktion auf die vom
Kläger (mit)veranlasste Flugblattaktion und des damit einhergegangenen Verstoßes
gegen den Geschäftsbesorgungsvertrag vom 11.11.2004. Zur "Absicherung der
Gewährleistung einer höchstmöglichen Produktions- und Terminierungssicherheit"
bedurfte es nicht zusätzlich der Verhängung einer Vertragsstrafe "für den Fall
entsprechender Gefährdungen" und bei Gefahren für "das gute Ansehen der
Zeitungstitel" (vgl. § 3 des Vertrages).
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Die geschilderten Gefahrenlagen, sollten sie angesichts der Aushändigung der
Flugblätter nur an die Zeitungszusteller überhaupt entstanden seien, konnten vielmehr
durch entsprechende Anweisungen an alle betroffenen Arbeitnehmer, zukünftig den
Zeitungssendungen keine ungenehmigten Flugblätter beizulegen, ohne weiteres
ausgeräumt werden.
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Nach alledem ist die außerordentliche Kündigung unwirksam.
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II.
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Der Anspruch des Klägers gegenüber der Beklagten auf Fortbeschäftigung zu
unveränderten Arbeitsbedingungen ergibt sich aus den §§ 611, 613, 242 BGB i.V.m.
Artikel 1, 2 Abs. 1 GG.
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Nach der zutreffenden Rechtsprechung des Großen Senats des BAG (AP BGB § 611
Beschäftigungspflicht Nr. 14) kann der gekündigte Arbeitnehmer die
arbeitsvertragsgemäße Beschäftigung über den Zeitpunkt des Zugangs der
streitbefangenen Kündigung hinaus verlangen, wenn diese unwirksam ist und
überwiegende schutzwerte Interessen des Arbeitgebers nicht entgegenstehen.
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In Fällen wie hier, wo die Kündigungen, wie unter I. der Gründe festgestellt,
rechtsunwirksam sind, überwiegt in aller Regel das Beschäftigungsinteresse des
Arbeitnehmers. In einer solchen Situation ist es die Aufgabe des Arbeitgebers,
zusätzliche Umstände darzulegen, aus denen sich im Einzelfall ein fortdauerndes
vorrangiges Interesse ergibt, den Arbeitnehmer trotzdem nicht zu beschäftigen (BAG AP
BGB § 611 Beschäftigungspflicht Nr. 14, Bl. 13 R f.).
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Solche besonderen Umstände sind vorliegend von der Beklagten nicht dargelegt
worden. So war auch dem Beschäftigungsbegehren des Klägers stattzugeben.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
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Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht gegeben.
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Dr. Müller
Holtmann
Bögershausen
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