Urteil des LAG Hamm vom 22.01.2004

LArbG Hamm: treu und glauben, sondervergütung, erwerbsunfähigkeit, beendigung, arbeitsgericht, gratifikation, krankenkasse, arbeitsamt, kündigung, wiederaufnahme

Landesarbeitsgericht Hamm, 8 Sa 1226/03
Datum:
22.01.2004
Gericht:
Landesarbeitsgericht Hamm
Spruchkörper:
8. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
8 Sa 1226/03
Vorinstanz:
Arbeitsgericht Bochum, 3 Ca 267/03
Nachinstanz:
Bundesarbeitsgericht, 10 AZR 215/04 Revision aufgehoben 26.01.2005
Schlagworte:
Gratifikation / Arbeitsvertrag / Erwerbsunfähigkeit / Ruhen des
Arbeitsverhältnisses / ergänzende Vertragsauslegung / Regelungslücke
Normen:
BGB § 157
Leitsätze:
Vertraglich vereinbartes Weihnachtsgeld bei unbefristeter
Erwerbsunfähigkeit -
Regelungslücke
Ist der Arbeitnehmer, welcher auf arbeitsvertraglicher Grundlage ein
Weihnachtsgeld zu be-anspruchen hat, nach Bewilligung einer
unbefristeten Erwerbsunfähigkeitsrente dauerhaft nicht mehr im Betrieb
tätig, so kann, auch ohne dass die Arbeitsvertragsparteien eine Ru-
hensvereinbarung getroffen haben und unabhängig von einem Verzicht
des Arbeitgebers auf sein Direktionsrecht, der Wegfall des
Weihnachtsgeldanspruchs für diese Fälle aus den Re-geln der
ergänzenden Vertragsauslegung folgen.
Rechtskraft:
Die Revision gegen das Urteil wird zugelassen.
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Bochum
vom 03.07.2003 - 3 Ca 267/03 - wird auf Kosten des Klägers
zurückgewiesen.
Tatbestand
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Mit seiner Klage verlangt der Kläger, welcher seit dem Jahre 1993 im Arbeitsverhältnis
zur Beklagten steht, die Zahlung einer arbeitsvertraglich vereinbarten Sondervergütung
(Weihnachtsgeld) für die Jahre 2001 und 2002. Dieser Verpflichtung tritt die Beklagte,
welche auf dem Gebiet der Arbeitnehmerüberlassung tätig ist, unter Hinweis auf die
unstreitige Tatsache entgegen, dass der Kläger seine arbeitsvertragliche Tätigkeit als
Monteur aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben kann und deshalb seit dem
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31.08.1999 eine zeitlich unbefristete Erwerbsunfähigkeitsrente bezieht. Sie ist der
Auffassung, dass Arbeitsverhältnis bestehe unter diesen Umständen allein noch als
"formales Band", so dass für die Gewährung der vereinbarten Sonderzahlung die
Grundlage fehle.
Die maßgebliche vertragliche Abrede lautet wie folgt:
3
"...
4
§ 6
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Weihnachtsgeld 120 Stunden x Stundenlohn (Berechnung: Nov. bis Nov. gem.
Zugehörigkeit)
6
..."
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Durch Urteil vom 03.07.2003 (Bl. 17 ff. d.A.), auf welches wegen des weiteren
erstinstanzlichen Parteivorbringens Bezug genommen wird, hat das Arbeitsgericht die
Klage abgewiesen. Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt worden, zwar habe
zwischen den Parteien weiterhin im Anspruchszeitraum ein ungekündigtes
Arbeitsverhältnis bestanden, ohne dass der Bezug von Erwerbsunfähigkeitsrente zur
Beendigung des Arbeitsverhältnisses geführt habe. Ebenso wenig stehe dem Anspruch
des Klägers entgegen, dass er im Bemessungszeitraum keine Arbeitsleistung erbracht
habe. Gleichwohl könne der Kläger die vertraglich vereinbarte Sondervergütung nicht
verlangen. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur
Auslegung entsprechender tariflicher Regelungen müsse nämlich davon ausgegangen
werden, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis lediglich als
"formales Band" bestanden habe. Darauf, dass der Kläger sich neben dem Bezug der
Erwerbsunfähigkeitsrente nicht arbeitslos gemeldet und die Beklagte auch nicht auf ihr
Direktionsrecht verzichtet habe, komme es nicht entscheidend an. Entscheidend sei
vielmehr die Tatsache, dass der Kläger eine unbefristete Erwerbsunfähigkeitsrente
beziehe, so dass in der Tat das Arbeitsverhältnis nur noch im Sinne einer formalen
Rechtsbeziehung weiterbestehe. Eine derart gelockerte Rechtsbeziehung sei aber zur
Begründung des Anspruchs auf die vereinbarte Sonderzahlung nicht ausreichend.
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Mit seiner rechtzeitig eingelegten und begründeten Berufung hält der Kläger an seinem
Standpunkt fest, mangels besonderer vertraglicher Abrede komme es für den verfolgten
Zahlungsanspruch allein auf den Bestand des Arbeitsverhältnisses an. Soweit das
Bundesarbeitsgericht bei der Auslegung tariflicher Vorschriften eine "Lockerung" des
Arbeitsverhältnisses für den Fall angenommen habe, dass der Arbeitnehmer nach
Aussteuerung durch die Krankenkasse Arbeitslosengeld beantrage und der Arbeitgeber
gegenüber dem Arbeitsamt auf sein Direktionsrecht verzichte, sei eine Übertragung
dieser Rechtsprechung auf vertragliche Vereinbarungen schon deshalb bedenklich, weil
die Tarifvertragsparteien in der Regel ohnehin eine Vielzahl von
Anspruchseinschränkungen vorsähen, welche bei einzelvertraglichen Abmachungen
von den Vertragsparteien nicht bedacht würden. Abgesehen davon habe der Kläger im
vorliegenden Fall weder Arbeitslosengeld beantragt noch habe die Beklagte gegenüber
dem Arbeitsamt auf ihr Direktionsrecht verzichtet. Allein die Tatsache, dass der Kläger
auf unabsehbare Zeit arbeitsunfähig sei, seine geschuldete Arbeitsleistung als
Montierer im Leiharbeitsunternehmen der Beklagten nicht mehr erbringen könne und
aus diesem Grunde eine Erwerbsunfähigkeitsrente erhalte, sei nach dem Inhalt der
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arbeitsvertraglichen Regelung ohne Belang. Im Übrigen sei nicht ausgeschlossen, dass
dem Kläger entsprechend seinem Restleistungsvermögen von der Beklagten eine
leidensgerechte Beschäftigung zugewiesen werden könne. Allein die Tatsache, dass
der Kläger nicht unbedingt auf einen derartigen Einsatz dränge und auch die Beklagte
hierauf keinen Wert lege, lasse nicht den Schluss zu, dass eine Reaktivierung des
Arbeitsverhältnisses überhaupt ausscheide. Unter diesen Umständen könne aber auch
nicht von einer stillschweigenden Ruhensvereinbarung ausgegangen werden.
Nachdem der Kläger – zuletzt mit gerichtlicher Hilfe – in den Verfahren Arbeitsgericht
Bochum 4 Ca 2910/99 und 5 Ca 3479/00 bis einschließlich 2000 eine entsprechende
Sonderleistung erhalten habe, könne auch für den Anspruchszeitraum der Jahre 2001
und 2002 nicht von einer weiteren Lockerung des Arbeitsverhältnisses ausgegangen
werden, welche dem verfolgten Anspruch entgegenstehe.
Der Kläger beantragt,
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unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Beklagte zu
verurteilen, an den Kläger 2.577,60 € brutto zuzüglich 5% Zinsen über
dem Basiszinssatz auf 1.288,80 € seit dem 04.12.2001 sowie auf
weitere 1.288,80 € ab Klagezustellung zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie verteidigt die arbeitsgerichtliche Entscheidung als zutreffend und führt aus, die
arbeitsvertragliche Sonderleistung sei nur für den Fall gedacht gewesen, dass der
Kläger auch eine entsprechende Arbeitsleistung erbringe. Hieran fehle es aber, da der
Kläger unstreitig seit mehreren Jahren arbeitsunfähig und von der Krankenkasse
ausgesteuert sei. Allein die Tatsache, dass das Arbeitsverhältnis noch als "rechtliches
Band" fortbestehe, könne die Weitergewährung der vereinbarten Sonderzahlung nicht
rechtfertigen. Unstreitig könne der Kläger seine vertraglich geschuldete Arbeitsleistung
nicht mehr erbringen. Soweit er auf ein entsprechendes "Restleistungsvermögen"
verweise, sei dies in keiner Weise nachvollziehbar, insbesondere sei die Beklagte nicht
in der Lage, den Kläger in irgendeiner Funktion im Rahmen der
Arbeitnehmerüberlassung im Industriemontagebereich einzusetzen. Dass dem Kläger
bis einschließlich zum Jahre 2000 die vertragliche Sonderleistung gewährt worden sei,
könne zur Begründung eines Anspruchs für die Jahre 2001 und 2002 keinesfalls
genügen.
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Entscheidungsgründe
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Die Berufung des Klägers bleibt ohne Erfolg.
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I
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Dem Kläger steht der verfolgte Anspruch auf Sonderzahlung für die Jahre 2001 und
2002 nicht zu. Auch wenn man dem Standpunkt des Klägers folgt, dass die
arbeitsvertragliche Regelung keine weiteren Anspruchsvoraussetzungen nennt, ferner
die Parteien auch im Zusammenhang mit der Erwerbsunfähigkeit des Klägers keine
Ruhensvereinbarung getroffen haben und schließlich die Rechtsprechung des
Bundesarbeitsgerichts zur Auslegung tariflicher Vorschriften nicht auf die
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Vertragsauslegung übertragen werden kann, führen die Regeln der ergänzenden
Vertragsauslegung zu einer Anspruchsbeschränkung für Fälle der vorliegenden Art.
1. Der zwischen den Parteien geschlossene Arbeitsvertrag sieht zwar in § 6 die Zahlung
einer Sondervergütung in Form eines Weihnachtsgeldes vor, ohne dass dieser
Anspruch an irgendwelche weiteren Tatbestandsvoraussetzungen geknüpft ist.
Ausdrückliche Einschränkungen des Sonderzahlungsanspruchs – etwa für Zeiten
längerer Arbeitsunfähigkeit oder für den Fall des Ruhens des Arbeitsverhältnisses –
sieht der Arbeitsvertrag nicht vor. Ebenso wenig liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass
die Parteien ausdrücklich oder stillschweigend das "Ruhen" des Arbeitsverhältnisses
vereinbart und so die beiderseitigen Vertragspflichten einvernehmlich außer Kraft
gesetzt haben.
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2. Soweit das Bundesarbeitsgericht in den vom Arbeitsgericht zutreffend zitierten
Entscheidungen einen Anspruch auf Sonderzahlungen mit der Begründung verneint hat,
unter den aufgeführten Voraussetzungen seien die durch das an sich fortbestehende
Arbeitsverhältnis begründeten Bindungen zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber so
gelockert, dass "ein Arbeitsverhältnis im Tarifsinne" nicht mehr angenommnen werden
könne (BAG AP Nr. 3 zu § 1 TVG Steinkohlenbergbau; AP Nr. 168 zu § 611 BGB
Gratifikation), betrifft diese Rechtsprechung – worauf der Kläger zutreffend verweist – die
Auslegung von tariflichen Vorschriften. Die an den Regeln der Gesetzesauslegung
orientierte Tarifauslegung lässt sich nicht ohne weiteres auf die Vertragsauslegung
übertragen. Maßgeblich für die Vertragsauslegung ist vielmehr der nach außen
erkennbar gewordene, übereinstimmende Wille der Vertragsparteien unter
Berücksichtigung der Umstände von Treu und Glauben und Verkehrssitte (§§ 133, 157,
242 BGB). Während also bei der Tarifauslegung die maßgebliche Fragestellung lautet,
ob das tariflich geforderte Merkmal des (fortbestehenden) "Arbeitsverhältnisses" noch
erfüllt ist, wenn es zu einer entsprechenden "Lockerung" der Rechtsbeziehungen
gekommen ist – nach der zitierten Rechtsprechung erfüllt das bloß noch formal
fortbestehende Arbeitsverhältnis nicht das tariflich geforderte Tatbestandsmerkmal, ist
also kein "Arbeitsverhältnis im Tarifsinne" mehr – kann nach dem für die
Vertragsauslegung maßgeblichen allgemeinen Sprachverständnis nicht zweifelhaft
sein, dass auch der dauerhafte Wegfall der Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers das
Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses nicht in Frage stellt. Der Bestand des
Arbeitsverhältnisses knüpft an die Geltung des Arbeitsvertrages an. Mag auch die
tatsächliche Beziehung zwischen den Vertragsparteien weitestgehend gelockert sein,
so ändert dies nichts daran, dass nach allgemeinem Begriffsverständnis im Arbeitsleben
wie auch in der Arbeitsrechtspraxis so lange vom Bestand des Arbeitsverhältnisses
auszugehen ist, wie das formale Band des Arbeitsvertrages besteht. Unter diesem
Gesichtspunkt kann durchaus dem Standpunkt des Klägers zugestimmt werden, dass
eine Übertragung der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Tarifauslegung
auf die Vertragsauslegung ausscheiden muss.
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3. Ebenso wenig liegen Anhaltspunkte für eine konkludente Ruhensvereinbarung vor.
Der Kläger hat – anders als etwa der Kläger im Fall der Entscheidung des
Bundesarbeitsgerichts vom 09.08.1995 (AP Nr. 181 zu § 611 BGB Gratifikation) von der
Beklagten keine Arbeitsbescheinigung zum Bezug von Arbeitslosengeld verlangt,
ebenso wenig hat die Beklagte auf ihr Direktionsrecht verzichtet. Irgendwelche
Erklärungen oder Handlungen der Parteien, welche für eine Ruhensregelung im
Zusammenhang mit der Bewilligung der Erwerbsunfähigkeitsrente sprechen könnten,
sind nicht ersichtlich.
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4. Gleichwohl erweist sich das Klagebegehren als unbegründet.
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a) Die in § 6 des Arbeitsvertrages getroffene Regelung über die Zahlung einer
Sondervergütung nennt keine besonderen Anspruchsvoraussetzungen, welche erfüllt
sein müssen, um den Anspruch auf Weihnachtsgeld zu begründen. Allein die Höhe der
Leistung ist mit 120 Stundenlöhnen angegeben, ferner ist der Berechnungszeitraum
festgelegt. Weder setzt der Anspruch auf Weihnachtsgeld danach eine bestimmte Dauer
der Betriebszugehörigkeit im Sinne eine Stichtagsregelung voraus, noch wird vom
Arbeitnehmer die Einhaltung einer nachträglichen Bindungsdauer in der Weise verlangt,
dass das gezahlte Weihnachtsgeld im Falle vorzeitiger Kündigung zurückzugewähren
ist. Einziger Anhaltspunkt dafür, dass es sich um eine Gratifikationsleistung handeln
könnte, ist danach der Begriff "Weihnachtsgeld". Weder liegt indessen ein allgemeiner
Sprachgebrauch in dem Sinne vor, dass allein der begriffliche Bezug zum
Weihnachtsfest der Leistung Gratifikationscharakter verleiht (vgl. LAG Hamm, Urteil vom
18.04.2002 – 8 Sa 1164/01 – EzA-SD Nr. 16, 5-6; BAG Urt. v. 21.05.2003 – 10 AZR
408/02 - EzA § 611 BGB 2002 Gratifikation, Prämie Nr. 8), noch kann allein die
Tatsache, dass das Weihnachtsgeld systematisch nicht in § 5 des Arbeitsvertrages
("Vergütung/Zahlungsweise") erfasst, sondern in § 6 als "Sondervergütung" bezeichnet
wird, als hinreichender Anhaltspunkt für eine Vertragsauslegung im Sinne einer
Gratifikationsleistung genügen. Aus dem Fehlen sonstiger Anspruchsvoraussetzungen
muss vielmehr gefolgert werden, dass sich die Sondervergütung – nicht anders als die
reguläre Vergütung – als Gegenleistung für geleistete Arbeit versteht. Das bedeutet
zwar nicht, dass damit ohne weiteres jede krankheitsbedingte Fehlzeit den Arbeitgeber
zu einer Kürzung der Leistung berechtigt. Hat jedoch der Arbeitnehmer wegen fehlender
Arbeitsleistung kein Arbeitsentgelt (mehr) zu beanspruchen, so lässt dies auch den
Anspruch auf die Sondervergütung entfallen, ohne dass es hierzu einer Regelung im
Arbeitsvertrag bedarf.
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b) Selbst wenn man aber zu Gunsten des Klägers annimmt, bei der vereinbarten
Sondervergütung handele es sich um eine Gratifikationsleistung, welche nicht im
Gegenseitigkeitsverhältnis zur geschuldeten Arbeitsleistung stehe, ergibt sich im
Ergebnis nichts anderes.
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Vielmehr müsste nämlich auch für diesen Fall nach den Regeln der ergänzenden und
lückenschließenden Vertragsauslegung davon ausgegangen werden, dass ein
Anspruch auf Gratifikationszahlung unter den hier gegebenen Umständen ausscheidet.
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(1) Auch ohne dass die Parteien eine ausdrückliche Regelung über das Schicksal der
vertragliche zugesagten Sonderzahlung getroffen haben, kann sich aus den Umständen
eine Anspruchsbeschränkung für erkennbar nicht bedachte Sonderfälle ergeben. So ist
nach der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 24.09.2003 (5 AZR 591/02 -
NZA 1993, 1387) bei einer einzelvertraglichen Zusage eines Weihnachtsgeldes in
einem Kleinbetrieb nicht ohne weiteres davon auszugehen, dass ein Zahlungsanspruch
auch dann bestehen soll, wenn der Arbeitnehmer im ganzen Kalenderjahr (mangels
Leistungswillens) keine Arbeitsvergütung erhalten hat und nach Aussteuerung durch die
Krankenkasse Leistungen des Arbeitsamtes bezieht. Vielmehr ist es nach der zitierten
Entscheidung Sache des Arbeitnehmers vorzutragen, ein Weihnachtsgeld sei auch
dann zu bezahlen, wenn im gesamten Kalenderjahr kein Anspruch auf Arbeitsvergütung
bestanden habe.
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(2) Ersichtlich haben die Parteien nämlich bei Abschluss des Arbeitsvertrages den
Sonderfall nicht bedacht, dass der Arbeitnehmer nicht nur vorübergehend – z.B. wegen
Krankheit, Erziehungsurlaubs oder wegen einer Ruhensvereinbarung – keine
Arbeitsleistungen erbringt, sondern auf Dauer leistungsunfähig wird, ohne dass jemals
mit einer Fortführung der Arbeit gerechnet werden kann. Anders als bei einer
vorübergehenden, hinsichtlich der Dauer ungewissen Störung des Arbeitsverhältnisses
durch Langzeiterkrankung oder befristete Rentengewährung geht es bei der zeitlich
unbefristeten Bewilligung einer Erwerbsunfähigkeitsrente um einen Sachverhalt, der
ganz typischerweise einer Wiederaufnahme der Arbeit – gleich zu welchen
Bedingungen – dauerhaft entgegensteht. Dies lässt aber unter Einbeziehung der
Lebenserfahrung ohne weiteres den Schluss zu, dass die Vertragsparteien, wenn sie
eine derartige Fallgestaltung bedacht und hierbei die Möglichkeit ins Auge gefasst
hätten, dass das Arbeitsverhältnis – gleich aus welchem Grunde – ungekündigt
fortbesteht, einen entsprechenden Ausschlusstatbestand in die Vertragsbedingungen
aufgenommen hätten. Auch wenn nach dem Inhalt der Vertragsbedingungen die
vereinbarte Sonderzahlung nicht im unmittelbaren Verhältnis von Leistung und
Gegenleistung steht, liegt doch der innere Grund dafür, dass der Arbeitgeber dem
Arbeitnehmer über die laufende Arbeitsleistung hinaus eine zusätzliche Sonderleistung
gewährt, in der aktuellen oder jedenfalls aktualisierbaren, also praktisch durchführbaren
Arbeitsvertragsbeziehung. Aus welchem Grunde demgegenüber der Arbeitgeber dem
Arbeitnehmer eine zusätzliche Sonderzahlung gewähren soll, obgleich ein tatsächlicher
Vollzug des Arbeitsverhältnisses dauerhaft ausscheidet und ansonsten keinerlei
reguläre Zahlungen oder sonstige Leistungen zu erbringen sind, ist nicht ersichtlich. Die
tatsächliche Durchführbarkeit des Arbeitsvertrages kann zwar nicht als
Geschäftsgrundlage im Rechtssinne angesehen werden mit der Folge, dass mit deren
Wegfall ohne weiteres der Bestand des Arbeitsverhältnisses in Frage gestellt ist. Dies
schließt aber nicht die Berücksichtigung derartiger Umstände bei der Vertragsauslegung
und der Feststellung der Unvollständigkeit der vertraglichen Regelung aus.
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Die so begründete Vertragslücke ist damit durch eine ergänzende Regelung aufzufüllen,
nach welcher der vereinbarte Sonderzahlungsanspruch entfällt, wenn eine tatsächliche
Durchführung des Arbeitsverhältnisses dauerhaft unmöglich und eine Wiederaufnahme
der Arbeit ausgeschlossen ist.
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(3) Gegen eine solche ergänzende Vertragsauslegung lässt sich auch nicht einwenden,
für einen derartigen Fall stehe dem Arbeitgeber ohne weiteres das Recht zur
Beendigung des Arbeitsverhältnisses zur Verfügung, so dass die Vertragsparteien,
wenn sie die fragliche Problematik erkannt hätten, gleichwohl von einer
anspruchseinschränkenden Regelung abgesehen hätten in der Überzeugung, dieser
Fall sei wegen der bestehenden Kündigungsmöglichkeit ohnehin unrealistisch.
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Sowohl die Realität des Arbeitslebens wie auch die arbeitsrechtliche Praxis zeigen
indessen, dass auch die Beendigung einer bloß noch "formellen" Vertragsbeziehung
nicht stets problemlos möglich ist. Dies zeigt sich anschaulich auch am vorliegenden
Fall. Nachdem die Beklagte zwischenzeitlich eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses
ausgesprochen hat, hat der Kläger sich hiergegen sowohl unter formellen
Gesichtspunkten (§ 174 BGB) als auch mit materiellrechtlichen Einwendungen zur Wehr
gesetzt. Berücksichtigt man weiter die Hürden behördlicher Zustimmungserfordernisse –
als Gleichgestellter kann der Kläger nur mit Zustimmung des Integrationsamtes
entlassen werden –, so erklärt sich unschwer, dass Arbeitgeber vielfach von einer
formellen Beendigung des Arbeitsverhältnisses trotz der feststehenden
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"Sinnentleerung" aus plausiblen Gründen absehen. Dann kann aber der vorstehend
dargestellten ergänzenden Vertragsauslegung nicht entgegengehalten werden, für
derartige Fälle fehle von vornherein jeder Regelungsbedarf.
(4) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Tatsache, dass der Kläger
möglicherweise im Rahmen seines "Restleistungsvermögens" die früher ausgeübte
Tätigkeit oder auch irgendeine andere Tätigkeit in zeitlich untergeordnetem,
sozialrechtlich unschädlichem Maße ausüben könnte. Arbeitsvertraglich war der Kläger
als Vollzeitkraft beschäftigt. Richtig ist zwar, dass dem schwerbehinderten oder
gleichgestellten Arbeitnehmer ein Anspruch auf Reduzierung der Arbeitszeit oder
Zuweisung einer leidensgerechten Tätigkeit zustehen kann. Einer Vertiefung in dieser
Hinsicht bedarf es jedoch nicht. Abgesehen davon, dass der Vortrag des Klägers zu
seinem "Restleistungsvermögen" als vollkommen unsubstantiiert angesehen werden
muss, scheidet jedenfalls unter den vorliegenden Umständen die Fortführung der Arbeit
in entsprechend zeitlich reduziertem Umfang schon deshalb aus, weil ein Einsatz als
Leiharbeitnehmer im Montagebereich für z.B. eine oder zwei Stunden täglich als
vollkommen unrealistisch anzusehen wäre. Ob anderes für einen Betrieb gelten würde,
in welchem durchweg Teilzeitkräfte auch mit geringfügigem Arbeitseinsatz beschäftigt
sind, so dass trotz dauerhafter Erwerbsunfähigkeit ein Einsatz denkbar wäre, bedarf hier
keiner Entscheidung. Im Übrigen spricht die Tatsache, dass der Kläger von der
genannten theoretischen Möglichkeit, der Beklagten ein Restleistungsvermögen
anzubieten, seit Bezug der unbefristeten Erwerbsunfähigkeitsrente mit dem 31.08.1999
keinen Gebrauch gemacht hat, dafür, dass jedenfalls tatsächlich im Anspruchszeitraum
(2001 und 2002) die tatbestandlichen Voraussetzungen der – durch ergänzende
Vertragsauslegung ermittelten – Anspruchsbeschränkung verwirklicht waren. Die
abstrakte Möglichkeit, dass der Kläger künftig an eine Reaktivierung des
Arbeitsverhältnisses denken könnte, vermag hieran nichts zu ändern.
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II
32
Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen, da er unterlegen ist.
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III
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Die Kammer hat die Revision gegen das Urteil gemäß § 72 ArbGG zugelassen.
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Dr. Dudenbostel
Dr. Gödde
Hölker
36
En.
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