Urteil des LAG Hamm vom 26.06.2008

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Landesarbeitsgericht Hamm, 8 Sa 331/08
Datum:
26.06.2008
Gericht:
Landesarbeitsgericht Hamm
Spruchkörper:
8. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
8 Sa 331/08
Vorinstanz:
Arbeitsgericht Dortmund, 3 Ca 34/07
Schlagworte:
Kündigung / häufige Kurzerkrankungen / negative Zukunftsprognose /
Beweisführung durch Indiztatsachen / Sachverständigengutachten
Normen:
KSchG § 1; ZPO § 286
Leitsätze:
Nachweis der negativen Zukunftsprognose bei Kündigung wegen
häufiger Kurzerkrankung; indizielle Bedeutung der Fehlzeiten; Zweifel
des Sachverständigen an ärztlicher Diagnose
1. Bei der Kündigung wegen häufiger Kurzerkrankungen sind - von
einfachen Fallgestaltungen abgesehen - die Fehlzeiten der
Vergangenheit allein als Hilfstatsachen der Darlegung anzusehen,
mittels welcher der Arbeitgeber die behauptete Negativprognose
substanziiert, nicht hingegen genügen die Fehlzeiten der Vergangenheit
schon für sich genommen als Hilfstatsachen des Beweises zur Führung
des Vollbeweises mittels Indizien, welchen alsdann der Arbeitnehmer
durch Gegenbeweis zu widerlegen hätte.
2. Hält der gerichtlich bestellte Sachverständige bei der Beurteilung der
negativen Zukunftsprognose die vom behandelnden Arzt gestellte
Diagnose diverser somatischer Erkrankungen mangels entsprechender
Symptome und Behandlungsmaßnahmen für zweifelhaft und gelangt er
statt dessen zu der Annahme, die Erkrankungen seien "überwiegend
wahrscheinlich" psychisch bedingt, so kann, wenn nach der
Überzeugung des Gerichts aus tatsächlichen Gründen die Gefahr
diesbezüglicher weiterer Fehlzeiten ausscheidet, der Arbeitgeber nicht
mit dem Einwand durchdringen, die bloße Wahrscheinlichkeitsannahme
des Gutachters sei nicht geeignet, die durch die Fehlzeiten der
Vergangenheit indizierte Negativprognose infrage zu stellen.
3. Tritt der Arbeitgeber dem Sachverständigengutachten mit dem
Einwand entgegen, die Fehlzeiten der Vergangenheit beruhten - in
Übereinstimmung mit dem Standpunkt des behandelnden Arztes - auf
somatischen Erkrankungen mit entsprechender Wiederholungsgefahr,
so steht damit die Richtigkeit der vom Sachverständigen zu
beurteilenden Anknüpfungstatsachen im Streit. Insoweit bedarf es von
Seiten des beweisbelasteten Arbeitgebers näherer Angaben, in welcher
Hinsicht die vom Sachverständigen vorgenommene Beurteilung mit
medizinischem Erfahrungswissen nicht in Einklang steht und bei
fachlich zutreffender Beurteilung sich die ärztlich gestellte Diagnose als
zutreffend erweist. Ohne entsprechenden Vortrag scheidet die Einholung
eines weiteren Gutachtens ebenso wie eine Vernehmung des
behandelnden Arztes von Amts wegen aus.
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts
Dortmund vom 17.01.2008 - 4 Ca 34/07 - wird auf Kosten der Beklagten
zurückgewiesen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Von der Darstellung des Tatbestandes wird gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG abgesehen.
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Entscheidungsgründe
3
Die Berufung der Beklagten bleibt ohne Erfolg.
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I
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In Übereinstimmung mit dem ausführlich und überzeugend begründeten
arbeitsgerichtlichen Urteil ist das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis
durch die angegriffene Kündigung nicht beendet worden. Die Kammer teilt den
Standpunkt des Arbeitsgerichts, dass im Zuge des Verfahrens die von der Beklagten
vorgetragenen tatbestandlichen Voraussetzungen einer krankheitsbedingten
Kündigung, insbesondere die behauptete negative Gesundheitsprognose nicht bestätigt
worden ist, so dass die Voraussetzungen für die soziale Rechtfertigung der Kündigung
gemäß § 1 KSchG fehlen. Die mit der Berufung vorgetragenen Gesichtspunkte
rechtfertigen keine andere Entscheidung.
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1. Soweit die Beklagte den Einwand erhebt, das Arbeitsgericht habe zu Unrecht ein
Sachverständigengutachten eingeholt, so dass hierauf die Entscheidung nicht gestützt
werden könne, vermögen die vorgebrachten prozessrechtlichen Erwägungen nicht zu
überzeugen.
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a) Dies gilt zunächst für die prozessuale Obliegenheit des Arbeitnehmers, sich gemäß §
138 Abs. 2 ZPO zu der vom Arbeitgeber vorgetragenen "negativen
Gesundheitsprognose" vollständig zu erklären.
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Nachdem die Beklagte die krankheitsbedingten Fehlzeiten des Klägers im Einzelnen
vorgetragen hat, um so die von ihr behauptete negative Gesundheitsprognose zu
stützen, hat der Kläger mit Schriftsatz vom 26.02.2007 zu den aus seiner Sicht
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maßgeblichen Krankheitsursachen Stellung genommen und die behandelnden Ärzte
sowie später auch die gesetzliche Krankenkasse von ihrer Schweigepflicht befreit. In
Anbetracht der Tatsache, dass der erkrankte Arbeitnehmer als medizinischer Laie in der
Regel zu näheren tatsächlichen Angaben oder der genauen Krankheitsdiagnose
außerstande ist, ihm selbst auch keine Aufzeichnungen über die Diagnose und
Behandlungsmaßnahmen vorliegen und aufgrund der erteilten
Schweigepflichtentbindung entsprechende Auskünfte bei Ärzten und Krankenkasse
durch das Gericht eingeholt werden können, kann vom Arbeitnehmer zur "vollständigen
Erklärung" im Sinne des § 138 Abs. 2 ZPO kein weiterer konkreter Gegenvortrag
gefordert werden. Sind – wie des nach dem Inhalt des Sachverständigengutachtens auf
einen Teil der Erkrankungen zutrifft – die ärztlich dokumentierten Diagnosen unklar oder
nicht nachvollziehbar, so mag dies dem Arbeitgeber im Einzelfass Anlass zu der
Behauptung geben, abweichend von der ärztlichen Dokumentation seien für die
attestierte Arbeitsunfähigkeit in Wahrheit andere, schwerwiegende und nicht
ausgeheilte Erkrankungen für die attestierte Arbeitsunfähigkeit maßgeblich gewesen.
Daran, dass der Arbeitnehmer selbst als medizinischer Laie zur konkreten
Krankheitsdiagnose nichts vortragen kann und – soweit die Vorgänge länger
zurückliegen – im Zweifel aus der Erinnerung auch nicht mehr wird angeben können,
welche konkreten Symptome ihn veranlasst haben, den behandelnden Arzt
aufzusuchen, vermögen die Unklarheiten oder Unstimmigkeiten der ärztlichen Diagnose
nichts zu ändern.
Damit ist aber festzuhalten, dass der Kläger die von der Beklagten vorgetragene
negative Gesundheitsprognose wirksam bestritten hat. Dementsprechend hat das
Arbeitsgericht zu Recht über den streitigen Vortrag der Parteien Beweis erhoben.
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b) Unabhängig hiervon verkennt die Beklagte, dass die Beweiswürdigung gemäß § 286
ZPO – von Fällen des Beweisverwertungsverbots abgesehen – sich auch auf zu
Unrecht erhobene Beweise zu beziehen hat (Zöller/Greger, § 286 ZPO Rn 2 für den Fall
der unnötigen Beweiserhebung oder der Verkennung der Beweislast). Selbst bei
Annahme unzureichenden Bestreitens kann danach das eingeholte
Sachverständigengutachten nicht einfach unberücksichtigt bleiben.
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2. In Übereinstimmung mit den Ausführungen im arbeitsgerichtlichen Urteil kann auf der
Grundlage des eingeholten Sachverständigengutachtens die von der Beklagten
behauptete negative Zukunftsprognose nicht als bewiesen erachtet werden.
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a) Soweit die Beklagte einen Mangel des eingeholten Sachverständigengutachtens
darin sieht, dass der Gutachter im Hinblick auf die Unklarheiten der ärztlich
dokumentierten Diagnosen mehr oder minder spekulativ von einer depressiven
Symptomatik ausgeht, kann hierin kein fachlicher Mangel oder eine Unvollständigkeit
des Gutachtens gesehen werden, vielmehr beruhen die verbleibenden Unwägbarkeiten
auf Unklarheiten hinsichtlich der maßgeblichen Anknüpfungstatsachen. Eben aus
diesem Grunde ist auch nicht ersichtlich, inwiefern das von der Beklagten beantragte
weitere Sachverständigengutachten die bestehenden Unsicherheiten ausräumen
könnte. Die Beklagte hält dem Gutachter nicht etwa fehlende Sachkunde oder einen
Verstoß gegen medizinisches Erfahrungswissen vor, sondern will ersichtlich
verbleibende Unklarheiten zu Lasten des Klägers gewürdigt wissen. Wenn die Beklagte
in der Berufungsbegründung ausführt, es sei nicht nachvollziehbar, wie man bei
Nichtkenntnis der Diagnose der Erkrankung zu der Feststellung gelangen könnte, dass
eine Krankheit ausgeheilt sei, so ist dies zweifellos richtig. Ebenso richtig ist aber auch
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die nachfolgende Passage der Berufungsbegründung, dass dann, wenn die Diagnose
nicht bekannt ist, keine Aussage darüber getroffen werden kann, ob die Erkrankung
ausgeheilt ist oder nicht. Folgt man also der Einschätzung der Beklagten, dass im
Hinblick auf die unklaren ärztlichen Diagnosen der Sachverständige keine brauchbaren
Aussagen über die negative Gesundheitsprognose machen konnte, und berücksichtigt
man weiter, dass auf derselben Tatsachengrundlage auch ein weiteres Gutachten die
Beweisfrage nicht mit höherer Richtigkeitsgewähr beantworten könnte, so geht dies
nach der gesetzlichen Beweislastverteilung des § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG zu Lasten der
Beklagten.
b) Die Beklagte hat auch nicht etwa konkret die Unrichtigkeit der einzelnen
ärztlicherseits dokumentierten Diagnosen behauptet und etwa geltend gemacht, der
Kläger habe in Wahrheit an anderweitigen Erkrankungen gelitten, welche mangels
entsprechender Behandlung auch nicht ausgeheilt seien. Selbst wenn man aber den
Vortrag der Beklagten in diesem Sinne deuten wollte, steht die Richtigkeit dieser
Behauptung weder fest, noch liegt insoweit ein geeigneter Beweisantritt vor.
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c) Geht man demgegenüber in Übereinstimmung mit der Annahme des
Sachverständigen davon aus, dass die unklar gebliebenen Krankheitsursachen am
ehesten im Sinne einer depressiven Symptomatik zu deuten sind, so bleibt festzuhalten,
dass mit der veränderten Lebenssituation des Klägers die krankheitsauslösenden
Ursachen entfallen sind. Eine negative Gesundheitsprognose kann hierauf nicht gestützt
werden. Die Beklagte hat zwar noch in der Berufung den vom Kläger angeführten
"erbitterten Scheidungskrieg" bestritten. Jedenfalls nachdem der Kläger aber in der
Berufungserwiderung hierzu Angaben zu den einzelnen gerichtlichen Verfahren
gemacht hat, teilt die Kammer den vom Arbeitsgericht eingenommenen Standpunkt,
dass die Konfliktsituation nun behoben und damit die Grundlage für die behauptete
negative Zukunftsprognose entfallen ist. Soweit demgegenüber die Beklagte meint,
auch im Falle künftiger Konflikte müsse mit einer entsprechenden Krankheitsanfälligkeit
des Klägers gerechnet werden, weil sich der Kläger bislang einer Therapie nicht
unterzogen habe, greift dieser Einwand nicht durch. Allein die abstrakte Möglichkeit,
dass es im Leben des Klägers zu einer erneuten schweren Krisensituation mit
entsprechenden Krankheitsfolgen kommen könnte, kann für die Entscheidung des
Rechtsstreits nicht maßgeblich sein. Träfe die Überlegung der Beklagten zu, so müsste
auch die abstrakte Gefahr eines wiederholten Beinbruchs genügen, um eine
diesbezügliche negative Gesundheitsprognose zu begründen. Nur bei einer spezifisch
begründeten, z.B. anlagebedingten "Unfallneigung" oder "Krankheitsanfälligkeit" kann
von einer konkreten Wiederholungsgefahr ausgegangen werden. Dass der Kläger
bereits in der Vergangenheit wiederholt in Konfliktsituationen mit psychischen oder
psychosomatischen Erkrankungen auffällig geworden sei, lässt sich indessen hier nicht
feststellen.
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d) Insgesamt ist damit festzuhalten, dass das eingeholte Sachverständigengutachten die
Behauptung der Beklagten zur negativen Gesundheitsprognose nicht bestätigt hat.
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3. Die Beklagte kann den ihr obliegenden Beweis auch nicht mit Hilfe von Indizien
führen. Allein die hohe Anzahl der krankheitsbedingten Fehltage des Klägers in der
Vergangenheit stellt unter den vorliegenden Umständen kein überzeugungskräftiges
Indiz dafür dar, dass mit weiteren Fehlzeiten im entsprechenden Umfang künftig zu
rechnen ist. Dementsprechend ist es nicht Sache des Klägers, einen Gegenbeweis zu
führen und die anhand von Indiztatsachen dargelegte negative Zukunftsprognose zu
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widerlegen.
a) Mit der Darstellung der Fehlzeiten der Vergangenheit liefert der Arbeitgeber zwar
einen schlüssigen Sachvortrag zur behaupteten negativen Gesundheitsprognose; ohne
entsprechende Tatsachengrundlage wäre der Vortrag einer negativen
Gesundheitsprognose eine "Behauptung ins Blaue hinein". Hat der Arbeitnehmer im
Rahmen des Möglichen und Zumutbaren (§ 138 Abs. 2 ZPO) den schlüssigen
Arbeitgebervortrag wirksam bestritten, so kann zwar je nach Art der Erkrankung und
unter Berücksichtigung medizinischen Erfahrungswissens im Einzelfall schon aus
Häufigkeit und Dauer der Fehlzeiten mit hinreichender Sicherheit auf eine
entsprechende Wiederholungsgefahr zu schließen sein, so dass der Arbeitgeber den
ihm obliegenden Beweis auch ohne Sachverständigengutachten führen kann. Als
beweiskräftige Indizien genügen indessen auch in einem solchen Fall nicht Art und
Dauer krankheitsbedingter Fehlzeiten, vielmehr folgt erst aus dem konkreten
Krankheitsbild und entsprechendem Erfahrungswissen die Eignung der genannten
Indiztatsachen zur Beweisführung.
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b) Die vorliegende Fallgestaltung mit diversen, selbst bei fachkundiger Beurteilung nicht
eindeutig zuzuordnenden Krankheitsbildern eignet sich demgegenüber für einen reinen
Indizienbeweis im vorstehenden Sinne nicht. Dementsprechend hat der Kläger hier
nicht den Gegenbeweis zur Widerlegung einer durch Indizien hinreichend gestützten
Behauptung zu führen, vielmehr bleibt festzuhalten, dass die Beklagte den ihr
obliegenden Beweis weder mit Hilfe des eingeholten Sachverständigengutachtens noch
mittels beweiskräftiger Indizien hat führen können.
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II
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Die Kosten der erfolglosen Berufung hat die Beklagte zu tragen, da sie unterlegen ist.
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III
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Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision gemäß § 72 ArbGG liegen nicht
vor.
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Dr. Dudenbostel
Feldkamp
Krystofiak
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