Urteil des LAG Düsseldorf vom 10.12.2008

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Landesarbeitsgericht Düsseldorf, 12 Sa 1190/08
Datum:
10.12.2008
Gericht:
Landesarbeitsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
12. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
12 Sa 1190/08
Vorinstanz:
Arbeitsgericht Oberhausen, 4 Ca 178/08
Schlagworte:
Fristlose Kündigung wegen grober Beleidigung
Normen:
§ 626 BGB
Sachgebiet:
Arbeitsrecht
Leitsätze:
Entfährt einem Hausarbeiter auf die ihm durch den Gruppenleiter erteilte
Arbeitsanweisung der Satz: "Beweg doch selber Deinen Arsch, Du bist
auch ein faules Schwein", berechtigt dies nicht deshalb schon zur
außerordentlichen Kündigung, weil der Hausarbeiter in einer in
kirchlicher Trägerschaft stehenden Einrichtung beschäftigt ist.
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts
Oberhausen vom 05.06.2008 wird kostenfällig zurückgewiesen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
G R Ü N D E :
1
A. Die Parteien streiten um die Rechtswirksamkeit einer außerordentlichen
verhaltensbedingten Kündigung, zu deren Rechtfertigung die Beklagte sich auf einen
Vorfall am 22.01.2008 beruft.
2
Der Kläger, 47 Jahre alt, verheiratet, 2 Kinder, trat am 01.07.1987 als
Hausarbeiter/Hilfspfleger in die Dienste der Beklagten, die in N. ein diakonisches
Krankenhaus mit ca. 1.000 Mitarbeitern betreibt. Er war seither im Bereich "Zentrale
Transportdienste" tätig. Dort sind im Schichtdienst insgesamt ca. 20 Arbeitnehmer
eingesetzt. Vorübergehend - von Juli 2005 bis September 2006 - nahm der Kläger in
diesem Bereich auch die Funktion des Gruppenleiters wahr. Seit dem 01.02.2007 übt
der Mitarbeiter K. diese Funktion aus und ist als solcher dem Kläger vorgesetzt.
3
Die Mitarbeiter im Bereich "Zentrale Transportdienste" duzen sich. Nach Behauptung
des Klägers herrscht zwischen ihnen ein als rauh und jovial zu bezeichnender
Umgangston; nach Behauptung der Beklagten ist es nicht so, dass Vorgesetzte und
Mitarbeiter sich als Ausdruck der Jovialität mit Ausdrücken wie "Arsch" und "Faules
Schwein" belegen.
4
Der Kläger pflegte eine halbe Stunde vor Dienstbeginn (7.30 Uhr) am Arbeitsplatz zu
sein und zu frühstücken. Am 22.01.2008 erschien er erst um 7.30 Uhr, als der
Gruppenleiter K. mit den Mitarbeitern V., E. und W. bereits die Frühbesprechung in
seinem Büro im Tiefgeschoss des Krankenhauses abhielt. Der Kläger bemerkte bei
seinem Erscheinen: "So ein Scheiß, ich hab noch keinen Kaffee gehabt, weil die
Straßenbahn zu spät war." Als der Gruppenleiter K. im Hinblick auf den hohen
Krankenstand (3 von 7 Mitarbeitern fehlten) die Erschienen zur sofortigen
Arbeitsaufnahme anhielt, kam es zwischen ihm und dem Kläger zu einem lautstarken
Wortwechsel, weil der Kläger, von K. angewiesen, die Essenswagen von der Küche zu
den Stationen zu bringen, zuerst "Zeit für seinen Kaffee" reklamierte. In der Folge
äußerte der Kläger gegenüber K. "Beweg selber deinen Arsch" und fügte - nach
streitiger Behauptung der Beklagten - hinzu "Du bist ja auch ein faules Schwein",
woraufhin K. sinngemäß geantwortet habe "Das geht so nicht!". Danach verließ der
Kläger den Raum unter lautem Zuschlagen der Tür - wie die Beklagte behauptet - und
ging an die Arbeit. Ca. 2 Stunden später trafen der Kläger und K. im Aufzug aufeinander.
In der in ruhigem Ton geführten Unterhaltung fragte K. den Kläger, ob er sich beruhigt
habe, was der Kläger bejahte.
5
Nachdem K. sich unmittelbar nach dem Vorfall bei seiner vorgesetzten Stelle über das
Verhalten des Klägers beschwert hatte, hörte diese die Mitarbeitervertretung zur
beabsichtigten Kündigung des Klägers an. Nach deren Widerspruch erklärte die
Beklagte mit Schreiben vom 24.01.2008 "wegen der am 22.01.2008 gegenüber Herrn K.
im Beisein von 3 weiteren Mitarbeitern gemachten Äußerungen, die wir als grobe
Beleidigung und Untergrabung der Autorität des Herrn K. sehen", die außerordentliche
Kündigung zum 29.01.2008.
6
Am 28.01.2008 hat der Kläger beim Arbeitsgericht Oberhausen Kündigungsschutz- und
Weiterbeschäftigungsklage eingereicht.
7
Im Prozess hat die Beklagte eine Abmahnung vom 13.01.1997 und eine Ermahnung
vom 16.12.2005 vorgelegt und auf eine vom Disponenten B. über das
Arbeitsleistungsverhalten des Klägers im Juli 2006 wiederholt geführte Beschwerde
verwiesen. Durch seine verbale Entgleisung am 22.01.2008 habe der Kläger - so hat sie
vorgetragen - nicht nur den Straftatbestand der Beleidigung erfüllt und die Autorität des
Gruppenleiters K. untergraben, sondern auch gegen die Verhaltenspflichten sowie das
Leitbild für die Mitarbeiter eines Evangelischen Krankenhauses verstoßen und den Ruf
des Krankenhauses massiv geschädigt.
8
Der Kläger hat seine Heftigkeit am 22.01.2008 als einmaliges Fehlverhalten bedauert.
9
Das Arbeitsgericht hat durch Urteil vom 05.06.2008 der Klage stattgegeben. Mit der
form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Berufung greift die Beklagte das
Urteil, auf das hiermit zur näheren Darstellung des Sach- und Streitstandes verwiesen
wird, in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht und unter Wiederholung und Ergänzung
ihres erstinstanzlichen Vorbringens an. Sie beantragt die Abänderung des
erstinstanzlichen Urteils und Abweisung der Klage. Der Kläger verteidigt das Urteil und
beantragt die Zurückweisung der Berufung.
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Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den Inhalt der gewechselten
Schriftsätze mit den hierzu überreichten Anlagen Bezug genommen.
11
B. Die Berufung hat keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht hat zu Recht der Klage
stattgegeben. Die Kammer macht sich gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG die zutreffenden
Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils zu eigen. Auf die Angriffe der
Berufung ist das Folgende anzufügen.
12
I. 1. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung (vgl. BAG, Urteil vom 21.01.1999, 2 AZR
665/98, AP Nr. 151 zu § 626 BGB), der die Kammer folgt (LAG Düsseldorf, Urteil vom
21.07.2004, 12 Sa 620/04, LAGE Nr. 85 zu § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung)
stellen grobe Beleidigungen von Arbeitskollegen, die nach Form und Inhalt eine
erhebliche Ehrverletzung für den Betroffenen bedeuten, einen erheblichen Verstoß des
Arbeitnehmers gegen seine Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis dar und sind an sich
geeignet, eine verhaltensbedingte außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen, wenn
diese eine ernstliche Störung des Betriebsfriedens, der betrieblichen Ordnung und des
reibungslosen Betriebsablaufes verursachen. Dabei kommt es kündigungsrechtlich
nicht ausschlaggebend darauf an, wie das inkriminierte Erklärungsverhalten
strafrechtlich einzuordnen ist, sondern ob dem Arbeitgeber wegen des Verhaltens des
Arbeitnehmers nach dem gesamten Sachverhalt die Fortsetzung des
Arbeitsverhältnisses noch zuzumuten ist (BAG, Urteil vom 10.10.2002, 2 AZR 418/0,
EzA Nr. 1 zu § 626 BGB 2002 Unkündbarkeit). Zum einen dürfen Arbeitnehmer vom
Arbeitgeber den Schutz ihrer Würde und körperlichen Unversehrtheit erwarten, so dass
der Arbeitgeber gegen Störenfriede, die Auseinandersetzungen anzetteln oder durch
(exzessive) Überreaktionen verschärfen, vorgehen und Eskalationen (Provokation,
Beleidigung, Tätlichkeit) verhindern muss. Zum anderen liegt es im eigenen
betrieblichen Interesse des Arbeitgebers, dass der Arbeitsablauf und die betriebliche
Zusammenarbeit nicht durch Beleidigungen und Tätlichkeiten beeinträchtigt werden,
dies u.U. mit der Folge von Ablaufstörungen, Arbeitsausfällen, Arbeitsversäumnissen
und Eigenkündigungen von Arbeitnehmern (vgl. BAG, Urteil vom 31.03.1993, 2 AZR
492/92, AP Nr. 32 zu § 626 BGB Ausschlussfrist). Im Kündigungsrecht im Allgemeinen
und für die Interessenabwägung im Besonderen ist dieses berechtigte Anliegen unter
dem Aspekt der Generalprävention allerdings ein nur begrenzt tragfähiger
Gesichtspunkt (BAG, Beschluss vom 16.12.2004, 2 ABR 7/04, AP Nr. 191 zu § 626
BGB).
13
Ob eine grobe Beleidigung eine verhaltensbedingte Kündigung rechtfertigt, ist nach
einer umfassenden Interessenabwägung unter Berücksichtigung der Einzelfallumstände
zu klären (Schmitz-Scholemann, BB 2000, 926 ff.). Die einmalige grobe Beleidigung von
Arbeitskollegen wird vor allem nach einem langjährig und ungestört verlaufenen
Arbeitsverhältnis eher selten als an sich wichtiger Grund oder als Ergebnis der
Interessenabwägung nach § 626 Abs. 1 BGB zur Rechtfertigung einer
außerordentlichen Kündigung ausreichen. Vielmehr bedarf es vor Ausspruch einer
Kündigung meist einer Abmahnung. Anders liegen die Dinge bei vielfachen und/oder
besonders groben (schwersten) Beleidigungen. In solchen Fällen kann der
Arbeitnehmer auch dann, wenn ein rauher Umgangston herrscht, nicht ernsthaft damit
rechnen, dass der Arbeitgeber sein Verhalten tolerieren werde (BAG, Urteil vom
10.10.2002, 2 AZR 418/01, AP Nr. 180 zu § 626 BGB, vgl. Urteil vom 30.09.1993, 2 AZR
188/93, EzA Nr. 152 zu § 626 n. F. BGB).
14
2. Nach diesen Maßstäben sind in der Rechtsprechung grobe Beleidigungen von
Arbeitskollegen oder Vorgesetzten einzelfallabhängig als Kündigungsgrund anerkannt
oder abgelehnt worden (z.B. Thüringer LAG, Urteil vom 13.02.2001, 5 Sa 27/2000,
"arrogantes Schwein", "ein paar in die Fresse hauen", LAG Köln, Urteil vom 18.04.2006
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"arrogantes Schwein", "ein paar in die Fresse hauen", LAG Köln, Urteil vom 18.04.2006
9 Sa 1623/05, "als Chef ein Ass, aber als Mensch ein Arschloch", LAG Rheinland-Pfalz,
Urteil 08.11.2000 9 Sa 967/00, "Du bist ein Arschloch" (Äußerung einer sich belästigt
fühlenden Arbeitnehmerin in der Probezeit), LAG Niedersachsen, Beschluss vom
25.10.2004, 5 TaBV 96/03, "Arschlöcher" (Betriebsratsvorsitzender über anwesende
Marktleiter), LAG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 27.01.2000, 9 Sa 473/99, "dummes
Schwein", "faules Schwein", Hessisches LAG, Urteil vom 02.10.2001, 2 Sa 879/01,
"Fauler Sack, faules Biest, faule Sau … », Hessisches LAG, Urteil vom 13.02.1984, 11
Sa 1509/83, und LAG München, Urteil vom 20.12.1967, 5 Sa 280/67 N, "Leck mich am
Arsch" (Götzzitat), Hessisches LAG, Urteil vom 10.11.2006, 3 Sa 1495/05, "keinen Arsch
in der Hose").
II. In Anwendung dieser Grundsätze gilt folgendes:
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1. Mit dem Arbeitsgericht kann zugunsten der Beklagten unterstellt werden, dass der
Kläger es nicht bei der Äußerung "Beweg selber deinen Arsch" beließ, sondern
gleichzeitig den Gruppenleiter K. als "auch ein faules Schwein" bezeichnete, wobei er -
unstreitig - die Verbalinjurie lautstark "vor versammelter Mannschaft" tätigte. Hiernach ist
von einer groben Beleidigung auszugehen. Die Mitarbeiter in der Abteilung "Zentrale
Transportdienste", die sich untereinander duzen, mögen zwar einen rauhen und
lockeren Umgangston pflegen. Damit entfällt jedoch nicht der Befund, dass der Kläger
am Morgen des 22.01.2008 den K. beleidigte. Denn als er ausfallend wurde, geschah
dies nicht in einer Situation arbeitstypischer Lockerheit, sondern in deutlich zum
Ausdruck gebrachter starker Verärgerung darüber, dass K. ihm, der sich wegen
Verspätung der Straßenbahn schon um das gewohnte Frühstück vor Dienstbeginn
gebracht sah, die Einnahme eines Kaffees vor der eigentlichen Arbeitsaufnahme
verweigerte und ihn aufforderte, sofort damit zu beginnen, die Essenswagen von der
Küche zu den Stationen zu bringen.
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Indem die Arbeitsordnung des K. zweifelsfrei im Rahmen des arbeitgeberseitigen
Weisungsrechts (§ 106 GewO) lag, wirkten die vom Kläger verwendeten Kraftausdrücke
schon als grobe Beleidigung. Sie gingen indessen nicht darüber hinaus, waren
insbesondere nicht Glied einer vielfachen Beleidigungskette und nach der Wortwahl
und den Begleitumständen keine besonders grobe, schwerste Beleidigung. Da der
Kläger sich unstreitig der Anordnung des K. fügte, wurde dessen Autorität auch nicht
nachhaltig untergraben.
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2. Das Arbeitsgericht hat zutreffend erkannt, dass unter Berücksichtigung der konkreten
Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile das
Bestandsinteresse des Klägers das Beendigungsinteresse der Beklagten überwiegt und
es dieser zuzumuten ist, das Arbeitsverhältnis auf unbestimmte Zeit fortzusetzen.
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a) Die bei der gebotenen Interessenabwägung zu berücksichtigenden Umstände lassen
sich nicht abschließend für alle Fälle festlegen (BAG, Urteil vom 27.04.2006, 2 AZR
415/05, AP Nr. 203 zu § 626 BGB). Bezogen auf die Person des Arbeitnehmers kommt
zunächst der Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen beanstandungsfreiem
Bestand ein besonderes Gewicht zu (BAG, Beschluss vom 16.12.2004, 2 ABR 7/04, AP
Nr. 191 zu § 626 BGB). Außerdem kann das Lebensalter des Arbeitnehmers zu
berücksichtigen sein, insbes. dann, wenn eine Beziehung zum Kündigungsvorwurf
erkennbar ist und es seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt beeinflusst. Die
Unterhaltspflichten und der Familienstand haben bei einer verhaltensbedingten
außerordentlichen Kündigung eher marginale Bedeutung, sind jedoch von der
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Einbeziehung in die Interessenabwägung nicht generell ausgeschlossen, weil sie das
Gewicht des Arbeitnehmerinteresses an der Erhaltung seines Arbeitsplatzes mit prägen
(BAG, Beschluss vom 16.12.2004, 2 ABR 7/04, AP Nr. 191 zu § 626 BGB).
Bezogen auf das betriebliche Beendigungsinteresse des Arbeitgebers sind in erster
Linie die Schwere der begangenen Pflichtverletzung, das Bestehen einer
Wiederholungsgefahr und auch das Maß der dem Arbeitgeber entstandenen
Schädigung von Bedeutung. Weiterhin ist in Betracht zu ziehen, ob dem Verhalten des
Arbeitnehmers eine besondere Verwerflichkeit und ein hoher Verschuldensgrad inne
wohnt.
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Bei der gebotenen umfassenden Interessenabwägung ist schließlich zu prüfen, ob
anstelle der außerordentlichen Kündigung eine mildere Maßnahme, z.B. eine
Ermahnung, Abmahnung, eine Änderungs- oder ordentliche Beendigungskündigung,
als Reaktion des Arbeitgebers angemessen und ausreichend gewesen wäre (vgl. BAG,
Urteil vom 18.10.2000, 2 AZR 131/00, AP Nr. 169 zu § 626 BGB, Urteil vom 15.08.2002,
2 AZR 514/01, AP Nr. 42 zu § 1 KSchG 1969 Verhaltensbedingte Kündigung). In
diesem Zusammenhang hat der Arbeitgeber vor einer Kündigung auch Umsetzungs-
und Versetzungsmöglichkeiten zu prüfen (BAG, Urteil vom 31.03.1993, a.a.O.).
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Die Abmahnung ist regelmäßig Voraussetzung für die Kündigung wegen einer
Vertragspflichtverletzung, es sei denn, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft trotz
Abmahnung nicht erwartet werden kann oder dass es sich um eine schwere
Pflichtverletzung handelt, deren Rechtswidrigkeit dem Arbeitnehmer ohne weiteres
erkennbar ist und bei der die Hinnahme des Verhaltens durch den Arbeitgeber
offensichtlich ausgeschlossen ist (vgl. BAG, Urteil vom 19.04.2007, 2 AZR 180/06,
AP Nr. 20 zu § 174 BGB, BAG, Urteil vom 05.04.2001, 2 AZR 159/00, AP Nr. 171 zu §
626 BGB, Beschluss vom 10.02.1999, 2 ABR 31/98, AP Nr. 42 zu § 15 KSchG 1969,
Kammerurteil vom 21.07.2004, LAGE Nr. 85 zu § 1 KSchG Verhaltensbedingte
Kündigung).
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b) Die lange Dauer des Arbeitsverhältnisses, dessen weitgehend beanstandungsfrei
gebliebener Bestand, aber auch das Lebensalter, das die Chancen des Klägers auf dem
Arbeitsmarkt beschneidet, sowie sein Familienstand und seine Unterhaltspflichten
begründen ein erhebliches Bestandsinteresse. Das Beendigungsinteresse der
Beklagten tritt dahinter signifikant zurück. Das Gewicht der Beleidigung und des
Schuldvorwurfs gegen den Kläger relativiert sich angesichts der psychischen
Ausnahmesituation, in die der Kläger sich am Morgen des 22.01.2008 hineintreiben
ließ. Es handelte sich um ein erst- und einmaliges Augenblicksversagen; weder die
Abmahnung vom 13.01.1997 noch die Ermahnung vom 16.12.2005 oder die
Beschwerde des Disponenten B. betreffen einschlägige Pflichtverletzungen (vgl. BAG,
Urteil vom 13.12.2007, 2 AZR 818/06, AP Nr. 64 zu § 4 KSchG 1969), und lagen
überdies geraume Zeit zurück. Der Beklagten entstanden aufgrund des Vorfalls keine
wesentlichen Nachteile. Eine konkrete Rufschädigung ist nicht vorgetragen und auch
nicht ersichtlich. Auswirkungen ergaben sich gerade und nur hinsichtlich der künftigen
Zusammenarbeit zwischen dem Kläger und dem Gruppenleiter K. und hinsichtlich der
Irritationen, die bei den übrigen Teilnehmern der Frühbesprechung, evtl. noch bei
Mitarbeitern in Nachbarräumen, die den Wortwechsel akustisch mitbekommen hatten,
entstehen konnten.
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Daraus resultiert zwar ein berechtigtes betriebliches Interesse der Beklagten, die
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Autorität des Gruppenleiters K. und dessen berufliche und persönliche Ehre zu
schützen. Nach Lage der Dinge war indessen eine Abmahnung die angemessene und
ausreichende Reaktion auf das Fehlverhalten des Klägers. Frühestens nach einer
erfolglos gebliebenen einschlägigen Abmahnung wäre die (negative) Prognose
gerechtfertigt gewesen, dass der Kläger auch zukünftig seine vertraglichen Pflichten in
gleicher oder ähnlicher Weise verletzen werde. Nicht zuletzt indiziert der von der
Mitarbeitervertretung gegen die Kündigung erhobene Widerspruch, dass der
Betriebsfrieden nicht auf Dauer und unheilbar gestört war.
Soweit die Beklagte durch die überzogene und unverhältnismäßige Reaktion, dem
Kläger fristlos zu kündigen, selbst eine Belastung des Arbeitsverhältnisses herbeiführte,
kann sie hieraus kein schutzwertes Auflösungsinteresse ableiten.
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c) Ohne Erfolg verweist die Beklagte auf die Präambel zum BAT-KF, nach der das
Verhalten der Mitarbeiter der Verantwortung zu entsprechen habe, die sie als
Mitarbeitende im Dienst der Kirche übernommen haben. Auch ihr Hinweis auf das
entwickelte Leitbild, dass die Mitarbeitenden im Evangelischen Krankenhaus jeden
Menschen so behandeln, wie sie selbst behandelt werden wollen, ist
kündigungsrechtlich nicht zielführend.
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(11) In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass, wenn die Kirchen sich in karitativen
Einrichtungen der Privatautonomie zur Begründung von Arbeitsverhältnissen bedienen,
zwar das staatliche Arbeitsrecht Anwendung findet, jedoch das kirchliche
Selbstbestimmungsrecht wesentlich bleibt. Welche kirchlichen Grundverpflichtungen als
Gegenstand des Arbeitsverhältnisses bedeutsam sein können, richtet sich dabei nach
den von der verfassten Kirche anerkannten Maßstäben, hingegen nicht nach der
Auffassung oder dem Leitbild der einzelnen betroffenen kirchlichen Einrichtung. Unter
dieser Prämisse ist der Umstand, dass die Kirchen bei der arbeitsvertraglichen
Gestaltung des kirchlichen Dienstes das Leitbild einer christlichen Dienstgemeinschaft
zugrunde legen und die Verbindlichkeit kirchlicher Grundpflichten bestimmen können,
bei der Anwendung des Kündigungsschutzrechts auf Kündigungen von
Arbeitsverhältnissen wegen der Verletzung der sich daraus für die Arbeitnehmer
ergebenden Loyalitätsobliegenheiten aus verfassungsrechtlichen Gründen zu
berücksichtigen. Liegt eine Verletzung von Loyalitätspflichten vor, so ist die weitere
Frage, ob sie eine Kündigung des kirchlichen Arbeitsverhältnisses sachlich rechtfertigt,
nach den kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften des § 1 KSchG, § 626 BGB zu
beantworten. Diese unterliegen als für alle geltendes Gesetz im Sinne der Art 137 Abs.
3 Satz 1 WRV umfassender arbeitsgerichtlicher Anwendungen (BVerfG, Beschluss vom
04.06.1985, AP Nr. 24 zu Art 140 GG, BAG, Urteil vom 25.10.2001, 2 AZR 216/00,
EzA Nr. 2 zu § 626 BGB).
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(22) Aus den von der Evangelischen Kirche anerkannten Maßstäben lassen sich keine
Loyalitätsobliegenheiten entwickeln, wonach eine Beleidigung zwischen den in der
christlichen Dienstgemeinschaft Mitarbeitenden stets gegen tragende Grundsätze der
kirchlichen Glaubens- und Sittenlehre verstieße. Es ist weiterhin nicht von der Beklagten
vorgetragen, dass nach christlichen Maßstäben eine grobe Beleidigung zur Kündigung
des kirchlichen Arbeitsverhältnisses berechtigt. Die Kammer vermag solches auch nicht
der Verkündung im Neuen Testament (Matthäus 5, 44, Lukas 6, 28) zu entnehmen.
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III. Eine ordentliche Kündigung steht nicht im Raum (§ 14 Abs. 5, § 15 Abs. 1 u. 2 AVR).
Es ist auch nicht vorgetragen, dass die Mitarbeitervertretung hierzu angehört worden
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wäre (§ 30 Abs. 5 MAVO). Schließlich wäre sie nach Lage der Dinge ebenso materiell
unberechtigt wie eine außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist.
C. Die Kosten der Berufung hat nach § 97 Abs. 1 ZPO die Beklagte zu tragen.
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Für die Zulassung der Revision an das Bundesarbeitsgericht besteht keine
Veranlassung, da Zulassungsgründe i.S.v. § 72 Abs. 2 ArbGG nicht ersichtlich sind.
Hinsichtlich der Einzelheiten der Nichtzulassungsbeschwerde wird die Beklagte auf §
72 a ArbGG hingewiesen.
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