Urteil des LAG Düsseldorf vom 10.11.2010

LArbG Düsseldorf (unwirksamkeit der kündigung, kündigung, betriebsrat, bag, kläger, arbeitnehmer, gesetzliche vermutung, stellungnahme, unwirksamkeit, beweis des gegenteils)

Landesarbeitsgericht Düsseldorf, 12 Sa 1321/10
Datum:
10.11.2010
Gericht:
Landesarbeitsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
12. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
12 Sa 1321/10
Vorinstanz:
Arbeitsgericht Solingen, 1 Ca 649/09 lev
Schlagworte:
Fehlerhafte Massenentlassungsanzeige
Normen:
§ 17, § 18 KSchG
Sachgebiet:
Arbeitsrecht
Leitsätze:
Der Verstoß gegen die Mussvorschrift des § 17 Abs. 3 Satz 2, 3 KSchG
hat die Unwirksamkeit der Kündigung zur Folge. Unerheblich ist, dass
die Agentur für Arbeit die ihr (nicht ordnungsgemäß) angezeigte
Massenentlassung nicht beanstandet hat.
Tenor:
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts
Solingen vom 24.06.2010 wird kostenfällig zurückgewiesen.
Die Revision wird zugelassen.
T A T B E S T A N D :
1
Die Parteien streiten über die Rechtswirksamkeit einer ordentlichen arbeitgeberseitigen
Kündigung vom 11.03.2009, die der Beklagte nach einem Interessenausgleich mit
Namensliste ausgesprochen hat.
2
Der Kläger bestreitet die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats. Des Weiteren
beanstandet er die Massenentlassungsanzeige. Schließlich stellt er die
Betriebsbedingtheit der Kündigung in Abrede und hält die Bildung des
auswahlrelevanten Personenkreises für grob fehlerhaft.
3
Der Beklagte beruft sich demgegenüber auf die durch § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO
begründete Vermutung der Betriebsbedingtheit der Kündigung und die auf grobe
Fehlerhaftigkeit beschränkte Sozialauswahlkontrolle. Er macht geltend, den Betriebsrat
mündlich und schriftlich zur Kündigung angehört zu haben. Schließlich verteidigt er die
Massenentlassungsanzeige als ordnungsgemäß und hält den Einwänden des Klägers
entgegen, dass die zuständige Agentur für Arbeit der Massenentlassung zugestimmt
hat.
4
Der Kläger, am 11.5.1970 geboren, ledig, trat am 23.10.1990 als Chemiefachwerker in
5
die Dienste der U. GmbH M., Rechtsvorgängerin der U. G. GmbH. Gemäß
Überleitungsvertrag vom 08.08.2007 ging das Arbeitsverhältnis auf die U. G. Services
GmbH über. Die U. G. Services GmbH ist innerhalb der U. G. Gruppe, die Bremsbeläge
für Personenkraftwagen und Nutzfahrzeuge herstellt, im Wesentlichen mit dem Vertrieb
der Produkte im Ersatzteilmarkt befasst und nimmt für die Gruppe die Aufgaben der
Forschung und Entwicklung wahr. Der Kläger war seit dem Jahr 1997 als
Versuchsfahrer in der Abteilung R&D Vehicle Testing (Fahrversuch) im Bereich
Passenger Cars tätig.
Die U. G. Services GmbH beschäftigte zuletzt ca. 544 Arbeitnehmer, davon 445 im
Betrieb M..
6
Am 08.12.2008 wurde über das Vermögen der U. G. Services GmbH (Schuldnerin) das
vorläufige Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum vorläufigen
Insolvenzverwalter bestellt. Während des vorläufigen Insolvenzverfahrens beschloss die
Schuldnerin im Zusammenwirken mit dem Beklagten ein Sanierungskonzept, das am
Standort M. einen Personalabbau von 44 Mitarbeitern vorsah. Am 23.02.2009 nahmen
der Beklagte und die Schuldnerin mit dem Betriebsrat Verhandlungen über einen
Interessenausgleich und Sozialplan auf. Am 24.02.2009 kam der Interessenausgleich
mit einer 44 Arbeitnehmer, darunter den Kläger, umfassenden Namensliste zustande.
7
Mit Formularschreiben vom 25.02.2009 zeigte die Schuldnerin bei der Agentur für Arbeit
die Massenentlassung von 37 Mitarbeitern an. In einer der Anzeige beigefügten Liste
sind die Mitarbeiter ohne Namensnennung nach Geschlecht, Staatsangehörigkeit, Alter,
Familienstand, Beschäftigungsort, Beruf, zuletzt ausgeübte Tätigkeit und
Einstellungsjahr bei Angabe des 27.02.2009 als vorgesehenem Kündigungsdatum
aufgeführt. Der Kläger ist in der Liste unter Nr. 19 erfasst.
8
Die Massenentlassungsanzeige ging bei der Agentur für Arbeit Bergisch-Gladbach
(nachfolgend: AfA) per Fax am 26.02.2009, 11:48 Uhr ein. Mit Schreiben vom
26.02.2009 an die Schuldnerin bestätigte die AfA den Eingang der Anzeige. Weiter
heißt es: "Damit beginnt die in § 18 Abs. 1 KSchG festgesetzte Frist von einem Monat
am 27.02.2009 und endet am 26.03.2009 (§§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB). Innerhalb
dieser Frist werden Kündigungen nur mit Zustimmung des in § 20 KSchG bezeichneten
Entscheidungsträgers wirksam. ..."
9
Am 26.02.2009, 17:00 Uhr, ging der AfA per Fax ein von der Betriebsratsvorsitzenden
Frau B. unterzeichnetes Schreiben vom 26.02.2009 (Bl. 186 GA) zu, wonach "der
Betriebsrat der U. G. Services GmbH darüber informiert (wurde), dass ein Antrag auf
Entlassungen gemäß § 17 Kündigungsschutzgesetz an die Agentur für Arbeit gesendet
wurde." Ebenfalls am 26.02.2009 um 20:04 Uhr erhielt die AfA per Fax einen
"Interessenausgleich vom 23./ 24.02.2009". Dabei handelt es sich nicht um den
zwischen der Schuldnerin und dem Betriebsrat am 24.02.2009 abgeschlossenen
Interessenausgleich, sondern um den im Schwesterunternehmen U. G. GmbH mit dem
dortigen Betriebsrat geschlossenen Interessenausgleich. Weitere Unterklagen ließen
die Schuldnerin bzw. der Beklagte der AfA im Massenentlassungsanzeigeverfahren
nicht zukommen.
10
Am 01.03.2009 wurde über das Vermögen der Schuldnerin das Insolvenzverfahren
eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt.
11
Am selben Tag schlossen der Beklagte und der Betriebsrat einen Sozialplan
(Bl. 57 ff. GA), aufgrund dessen 38 Arbeitnehmer mittels eines Aufhebungsvertrages bei
der Schuldnerin ausschieden und in die errichtete Beschäftigungs- und
Qualifizierungsgesellschaft (BQG) eintraten. Der Kläger lehnte den Eintritt in die BQG ab
und wurde daraufhin ab dem 01.03.2009 von der Arbeit freigestellt.
12
Am 11.03.2009 erklärte der Beklagte gegenüber dem Kläger die ordentliche Kündigung
des Arbeitsverhältnisses zum 30.06.2009.
13
Der Kläger hat am 01.04.2010 beim Arbeitsgericht Solingen Kündigungsschutzklage
eingereicht und beantragt,
14
festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht
durch die Kündigung des Beklagten vom 11.03.2009 zum 30.06.2009 aufgelöst
worden ist.
15
Der Beklagte hat beantragt,
16
die Klage abzuweisen.
17
Der Beklagte veräußerte im Frühjahr 2009 an eine Erwerberin. Nach Umbenennung der
Schuldnerin in "T. 4 GmbH" nahm die Erwerberin ihrerseits den Namen U. G. Services
GmbH an. Sie führt den Betrieb der Schuldnerin fort. Der Kläger klagt ebenfalls gegen
die Erwerberin auf Weiterbeschäftigung und Verzugslohn.
18
Durch Urteil vom 24.06.2010 hat das Arbeitsgericht der Kündigungsschutzklage mit der
Begründung stattgegeben, dass es an einer ordnungsgemäßen
Massenentlassungsanzeige fehle, weil der Beklagte der Bundesagentur für Arbeit
37 Entlassungen statt der tatsächlich erfolgten 40 Entlassungen, nämlich 38 durch
Aufhebungsvertrag (BQG) und zwei durch Kündigung entlassene Mitarbeiter, angezeigt
habe.
19
Mit der form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Berufung greift der Beklagte
das Urteil, auf das hiermit zur näheren Darstellung des Sach- und Streitstandes
verwiesen wird, in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht und unter Wiederholung und
Ergänzung seines erstinstanzlichen Vorbringens an.
20
Der Beklagte behauptet:
21
In den Gesprächen mit dem Betriebsrat am 23.02.2009 sei das Anhörungsverfahren
nach § 102 BetrVG mit den Verhandlungen über den Interessenausgleich verbunden
worden. In der 44 Arbeitnehmer umfassenden Namensliste seien noch die Mitarbeiter
E., G., K. und O., die ihr Arbeitsverhältnis bereits selbst gekündigt hatten (was unstreitig
geworden ist) und vor dem 01.03.2009 ausgeschieden waren, enthalten gewesen. In der
Massenentlassungszeige seien diese vier Mitarbeiter und weitere drei Mitarbeiter nicht
mehr berücksichtigt worden. Dies führe - so meint der Beklagte - nicht zur
Unwirksamkeit der Kündigung.
22
Der Beklagte beantragt die Abänderung des erstinstanzlichen Urteils und Abweisung
der Klage.
23
Der Kläger verteidigt das Urteil und beantragt die Zurückweisung der Berufung.
24
Er bestreitet, dass die in der Massenentlassungsanzeige angekündigte Nachreichung
der Stellungnahme des Betriebsrats erfolgt sei.
25
Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den Inhalt der gewechselten
Schriftsätze mit den hierzu überreichten Anlagen Bezug genommen.
26
Mit Einverständnis der Parteien ist die Gerichtsakte 12 Sa 627/10 LAG Düsseldorf mit
den dort enthaltenen Zeugenaussagen und AfA-Auskünften beigezogen und zum
Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurden. Die Kammer hat in dem
Berufungsverfahren 12 Sa 627/10 LAG Düsseldorf am 04.08.2010 durch Vernehmung
der Zeugen C. und T. Beweis darüber erhoben, ob der Betriebsrat zur Kündigung der
Klägerin angehört wurde und zu der Massenentlassungsanzeige vom 25.02.2009 eine
Stellungnahme des Betriebsrats nachgereicht wurde. Des Weiteren hatte die Kammer
eine schriftliche Auskunft der AfA eingeholt. Insoweit wird auf die Antwort der AfA vom
17.08.2010 und die ergänzende Auskunft vom 08.09.2010 in dem vorgenannten
Parallelverfahren verwiesen.
27
E N T S C H E I D U N G S G R Ü N D E :
28
Die Berufung des Beklagten hat keinen Erfolg. Die Kündigung vom 11.03.2009 ist
rechtsunwirksam und hat daher das Arbeitsverhältnis nicht aufgelöst.
29
I.Die Kündigungsschutzklage ist nicht deshalb unschlüssig, weil das Arbeitsverhältnis
zwischen den Parteien zum Kündigungstermin aufgrund des noch im März 2009
erfolgten Übergangs des Betriebs der Schuldnerin ("T. 4") auf die neue und von dem
Kläger bereits mit einer Weiterbeschäftigungs- und Zahlungsklage in Anspruch
genommene "U. G. Services GmbH" nicht mehr bestanden haben könnte. In der
vorliegenden Konstellation setzt die Kündigungsschutzklage nicht den Bestand des
Arbeitsverhältnisses im Kündigungstermin voraus (Kammer 29.04.2009 - 12 Sa 1551/08
- Juris Rn. 31 ff.). Vorliegend geht es nicht um eine Betriebsaufgabe-Kündigung, deren
relative Unwirksamkeit der Kläger im Rahmen eines gegenüber dem Betriebserwerber
erhobenen Fortsetzungsanspruchs geltend machen könnte. Vielmehr wird die
Kündigung auf "andere Gründe" i. S. v. § 613 a Abs. 4 Satz 2 BGB gestützt. Da nach
§ 613 a Abs. 1 BGB die Arbeitsverhältnisse in ihrem Zustand zum Zeitpunkt des
Betriebsübergangs auf den Erwerber übergehen, also vom Veräußerer wirksam
gekündigte Arbeitsverhältnisse auch nur im gekündigten Zustand, und eine wirksame
oder eine gemäß § 7 KSchG als rechtswirksam geltende Kündigung des Beklagten dem
Rechtsschutzziel des Klägers zuwider liefe, in einem ungekündigten Arbeitsverhältnis
zum Betriebserwerber zu stehen, ist es für sie notwendig, die Kündigung durch die
Kündigungsschutzklage zu beseitigen.
30
II.Die Kündigung ist nicht nach § 102 Abs. 1 BetrVG unwirksam.
31
1.Nach § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG hat der Arbeitgeber dem Betriebsrat die Gründe für
die Kündigung mitzuteilen. Die Unterrichtung muss nicht denselben Anforderungen
genügen wie die Darlegung des Arbeitgebers im Kündigungsschutzprozess. Nach dem
Grundsatz der "subjektiven Determinierung" hat der Arbeitgeber den aus seiner Sicht
maßgeblichen Kündigungssachverhalt mitzuteilen. Was den Umfang der mitzuteilenden
Gründe anbelangt, muss nach zutreffender höchstrichterlicher Spruchpraxis "der
32
Arbeitgeber schriftlich oder mündlich dem Betriebsrat neben näheren Informationen über
die Person des betroffenen Arbeitnehmers die Art und den Zeitpunkt der Kündigung und
die seiner Ansicht nach maßgeblichen Kündigungsgründe mitteilen. Der für den
Arbeitgeber maßgebende Sachverhalt ist unter Angabe der Tatsachen, aus denen der
Kündigungsentschluss hergeleitet wird, näher so zu beschreiben, dass der Betriebsrat
ohne zusätzliche eigene Nachforschungen in die Lage versetzt wird, die Stichhaltigkeit
der Kündigungsgründe zu prüfen und sich über eine Stellungnahme schlüssig zu
werden. Kommt der Arbeitgeber diesen Anfor-derungen an seine Mitteilungspflicht nicht
oder nicht richtig nach und unterlau-fen ihm insoweit bei der Durchführung der Anhörung
Fehler, ist die Kündigung unwirksam. Allerdings ist die Mitteilungspflicht des
Arbeitgebers subjektiv determiniert. An sie sind nicht dieselben Anforderungen zu
stellen wie an die Darlegungs- und Beweislast des Arbeitgebers im
Kündigungsschutzprozess. Es müssen dem Betriebsrat also nicht alle objektiv
kündigungsrechtlich erheblichen Tatsachen, sondern vom Arbeitgeber nur die von ihm
für die Kündigung als ausschlaggebend angesehenen Umstände mitgeteilt werden.
Dagegen führt eine aus Sicht des Arbeitgebers bewusst unrichtige oder unvollständige
und damit irreführende Darstellung zu einer fehlerhaften Anhörung des Betriebsrats"
(BAG 23.10.2008 - 2 AZR 163/07 - Juris Rn. 18 f.).
Hinsichtlich der i. S. v § 102 BetrVG ordnungsgemäßen Anhörung des Betriebsrats gilt
eine abgestufte Darlegungslast (BAG, Urteil vom 23.06.2005 - 2 AZR 193/04 - Juris
Rn. 13). Hat der Arbeitgeber eine ordnungsgemäße Betriebsratsanhörung im Detail
schlüssig dargelegt, ist es Sache des Arbeitnehmers, konkret zu beanstanden, in
welchen Punkten er die Betriebsratsanhörung für fehlerhaft hält. Ergibt sich im Prozess
aus den Darlegungen des Arbeitgebers, dass die Anhörung des Betriebsrats
ordnungsgemäß erfolgt ist, darf sich der Arbeitnehmer nicht darauf beschränken, die
ordnungsgemäße Betriebsratsanhörung weiter pauschal mit Nichtwissen zu bestreiten;
vielmehr hat er seinerseits darzutun, ob der Betriebsrat entgegen der Behauptung des
Arbeitgebers überhaupt nicht angehört worden sei oder in welchen Punkten die
Betriebsratsanhörung für falsch oder für unvollständig gehalten werde (BAG 20.09.2006
- 6 AZR 219/06 - Juris Rn. 22, BAG 24.04.2008 - 8 AZR 520/07 - Juris Rn. 25).
33
In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass es einer näheren Darlegung der
Kündigungsgründe durch den Arbeitgeber nicht bedarf, wenn der Betriebsrat bei
Einleitung des Anhörungsverfahrens bereits über den erforderlichen Kenntnisstand
verfügt, um zu der konkret beabsichtigten Kündigung eine sachgerechte Stellungnahme
abgeben zu können (BAG 23.10.2008 - 2 AZR 163/07 - Juris Rn. 21). So pflegen dem
Abschluss eines Interessenausgleichs, der mit einer Namensliste der zu kündigenden
Arbeitnehmer verbunden ist, längere Verhandlungen voranzugehen, auf Grund derer
beim Betriebsrat erhebliche Vorkenntnisse über die vom Arbeitgeber geltend gemachten
Kündigungsgründe und auch die vielleicht mit dem Betriebsrat zusammen
vorgenommene Sozialauswahl vorhanden sein können. Die dem Betriebsrat aus diesen
Verhandlungen bekannten Tatsachen muss der Arbeitgeber im Anhörungsverfahren
nicht erneut vortragen (BAG 28.08.2003 - 2 AZR 377/02 - Juris Rn. 31, BAG 21.02.2002
- 2 AZR 581/00 - Juris Rn. 77, BAG 22.01.2004 - 2 AZR 111/02 - Juris Rn. 71; vgl. BAG
06.09.2007 - 2 AZR 715/06 - Juris Rn. 40 unter Hinweis auf das vorinstanzliche Urteil
des LAG Rheinland-Pfalz 02.02.2006 - 1 Sa 676/05 - Juris Rn. 86 ff.). Allerdings muss
der Arbeitgeber dabei klarstellen, das Anhörungsverfahren nach § 102 BetrVG einleiten
zu wollen (BAG 20.05.1999 - 2 AZR 532/98 - Juris Rn. 11); die im Interessenausgleich
enthaltene Erklärung, dass das Anhörungsverfahren nach § 102 BetrVG hinsichtlich
sämtlicher auszusprechender Kündigungen ordnungsgemäß durchgeführt und
34
abgeschlossen sei, ersetzt nicht den erforderlichen Einleitungsakt (LAG Düsseldorf 23.
03.2006 - 11 Sa 1616/05 - , 27.03.2006 - 14 Sa 1618/05 - n. v.).
2.Nach der Aussage der Zeugin B. im Parallelverfahren 12 Sa 627/10 ging es im
Rahmen der Verhandlungen über den Interessenausgleich gleichzeitig um die
Anhörung des Betriebsrats zu den beabsichtigten Kündigungen der in der Namensliste
aufgeführten Arbeitnehmer. Die Zeugin hat zwar nicht präzisieren können, wer, wie und
wann von Seiten des Arbeitgebers dem Betriebsrat mitteilte, dass gemäß der
Namensliste gleichzeitig nach § 102 Abs. 1 BetrVG die Anhörung zu den beabsichtigten
Kündigungen erfolge und mit der Zustimmung des Betriebsrats zum Interessenausgleich
mit Namensliste das Anhörungsverfahren abgeschlossen sei. Sie ließ jedoch keinen
Zweifel daran, dass der Betriebsrat die Gespräche, in den jeder einzelne in der
Namensliste aufgeführte Mitarbeiter behandelt wurden, als Anhörung i. S. v § 102
Abs. 1 BetrVG verstand und dies in V. Abs. 2 des Interessenausgleichs vom 24.02.2009
bestätigte. Nach dem Zeitablauf und angesichts des komplexen Geschehens am
23.02.2009 und an den Folgetagen ist das Erinnerungsdefizit der Zeugin erklärlich, so
dass ihre lebensnahe Aussage in diesem Punkt glaubhaft ist. Die Kammer erachtet die
Aussagen der Zeugin für glaubwürdig. Weil für die Zeugin kein Anlass bestand, sich
den Verhandlungsablauf mit konkreten Daten zu merken, spricht es für die
Glaubwürdigkeit der Aussage, wenn sie sich in einzelnen Punkten nicht definitiv
festlegen konnte und auf die Wiedergabe der Umstände beschränkte, die für sie
wesentlich waren. Nach allem steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass die
Schuldnerin das Anhörungsverfahren eingeleitet hatte.
35
III.Die Kündigung ist nicht gemäß § 1 Abs. 2 KSchG unwirksam. Sie ist durch dringende
betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Klägers entgegenstehen,
bedingt. Dies wird auf Grund der namentlichen Benennung des Klägers in der
Namensliste des Interessenausgleichs nach § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO vermutet.
36
1.Die Voraussetzungen des § 125 Abs. 1 InsO sind erfüllt. Es liegt eine
Betriebsänderung vor, derentwegen ein wirksamer Interessenausgleich zwischen dem
Beklagten und dem Betriebsrat abgeschlossen wurde und in dem die Klägerin
namentlich als zu kündigende Arbeitnehmerin aufgeführt ist. Der Interessenausgleich
(Seite 7) sieht die Reduzierung der Projekte und Tests und den Abbau u. a. des
Arbeitsplatzes des Klägers vor (Bl. 95 GA). Damit ist der Kläger von den im
Interessenausgleich genannten Maßnahmen betroffen. Die daraus folgende gesetzliche
Vermutung, die Kündigung sei aus betriebs-bedingten Gründen gerechtfertigt, hat der
Kläger nicht widerlegt.
37
Zwar ist nicht zu übersehen, dass in der Praxis die Veräußerung eines insolventen
Betriebs dadurch ermöglicht bzw. gefördert wird, dass durch weitreichenden und
gezielten Personalabbau der Betrieb für potentielle Erwerber "interessant" gemacht wird
und das Instrumentarium des § 125 InsO gelegentlich recht forsch eingesetzt wird, um
einen anschließenden, u. U. bereits vorher abgesprochenen Betriebsübergang in Szene
zu setzen. Das ist jedoch nach höchstrichterlicher Rechtsprechung (vgl. BAG
20.09.2006 - 6 AZR 249/05 - Juris 26 ff./33, [zu § 1 Abs. 5 KSchG] BAG 06.09.2007 - 2
AZR 715/06 - Juris Rn. 25 ff.) im Ansatz weder einfach- noch verfassungsrechtlich zu
beanstanden. Denn gegen die gesetzliche Vermutung des § 125 Abs. 1 Satz 1
InsO bleibt der Beweis des Gegenteils zulässig (BAG 23.10.2008 - 2 AZR 163/07 - Juris
Rn. 38, 26.04.2007 - 8 AZR 695/05 - Juris Rn. 58). Wenn dazu substantiierter
Tatsachenvortrag gefordert wird, der den gesetzlich vermuteten Umstand nicht nur in
38
Zweifel zieht, sondern ausschließt, so kommen dem Arbeitnehmer doch bei der Führung
des Gegenbeweises Erleichterungen zugute, wenn es sich um Geschehnisse aus dem
Bereich des Arbeitgebers handelt. Hier mindert sich die Darlegungslast des
Arbeitnehmers durch eine sich aus § 138 Abs. 1 und 2 ZPO ergebende
Mitwirkungspflicht des Arbeitgebers. Die Vermutung der Betriebsbedingtheit der
Kündigung ist als widerlegt anzusehen, wenn, was unter den vorerwähnten
Erleichterungen darzulegen und zu beweisen ist, der nach dem Interessenausgleich in
Betracht kommende betriebsbedingte Grund nicht vorliegt, weil das
Beschäftigungsbedürfnis in Wirklichkeit nicht weggefallen ist. Das kann etwa der Fall
sein, wenn die Arbeit nach wie vor vorhanden ist, gekündigte Arbeitnehmer durch
andere Arbeitnehmer, beispielsweise durch Leiharbeitnehmer ersetzt werden (BAG
12.03.2009 - 2 AZR 418/07 - Juris Rn. 23 f., 28, APS/Dörner, 3. Aufl., § 125 InsO Rn. 22
ff.).
Solcher Vortrag ist im Streitfall vom Kläger nicht gekommen.
39
2.Der Beklagte braucht zur Rechtfertigung der Kündigung keine weiteren Tatsachen
vorzutragen. Der Kläger hat seinerseits auch nicht näher dargetan, dass ein für ihn
geeigneter und freier Arbeitsplatz vorhanden gewesen wäre.
40
IV.Die Kündigung ist nicht nach § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG i. V. m. § 125 Abs. 1 Satz 1
Nr. 2 InsO wegen fehlerhafter Sozialauswahl sozial ungerechtfertigt.
41
1.Grob fehlerhaft i. S. d. § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO ist eine soziale Auswahl nur,
wenn ein evidenter, ins Auge springender schwerer Fehler vorliegt und der
Interessenausgleich, insbesondere bei der Gewichtung der Auswahlkriterien, jede
Ausgewogenheit vermissen lässt. Dies gilt auch für die Bestimmung des Kreises der
vergleichbaren Arbeitnehmer: Sie ist dann grob fehlerhaft, wenn bei der für die Bildung
der auswahlrelevanten Gruppen die Austauschbarkeit offensichtlich verkannt worden ist
oder bei der Anwendung des Ausnahmetatbestandes des § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG die
betrieblichen Interessen augenfällig überdehnt worden ist (BAG 20.09.2006 - 6 AZR
249/05 - Juris Rn. 47).
42
2.Seit 1997 war der Kläger als Versuchsfahrer in der Abteilung R&D Vehicle Testing
(Fahrversuch) im Bereich Passenger Cars tätig. Nach der ausgeübten Tätigkeit ist er nur
mit den anderen Versuchsfahrern Passenger Cars und nicht mit den Versuchsfahrern im
LKW-Bereich vergleichbar. Ihm fehlt zudem die Fahrerlaubnis für Lkw. Die
Betriebsparteien handelten nicht "grob fehlerhaft", wenn sie deshalb die
Vergleichbarkeit des Klägers nur mit den Versuchsfahrern im Bereich Passenger Cars
annahmen. Zwar hat der Kläger unter Hinweis behauptet, in einer Vielzahl anderer
Abteilungen einsetzbar zu sein, und in diesem Zusammenhang auf seine frühere
Beschäftigung und Einstellung als Chemiefachwerker verwiesen. Sein - vom Beklagten
bestrittener - Vortrag ist jedoch ohne nähere Konkretisierung und Substantiierung
unzureichend und lässt nicht auf eine sowohl arbeitsvertragliche als auch
qualifikationsmäßige Austauschbarkeit schließen. Insbesondere indiziert der Umstand,
dass der Kläger jahrelang im Betrieb eine völlig andere Tätigkeit ausgeübt hatte,
fehlende Austauschbarkeit im Sinne alsbaldiger Substituierbarkeit.
43
V.Die Kündigung ist gemäß § 17 Abs. 3 Satz 2 u. 3 KSchG i. V. m. § 134 BGB
unwirksam.
44
1.Das Arbeitsgericht hat die Unwirksamkeit aus § 17 Abs. 3 Satz 4 KSchG und dem
arbeitsmarktpolitischen Zweck der Vorschrift hergeleitet.
45
Richtig ist, dass der Beklagte entgegen der in der Massenentlassungsanzeige
angezeigten 37 Entlassungen tatsächlich 40 Entlassungen vornahm. Allerdings fiel der
Kläger nach der beigefügten Liste als Nr. 13 unter die 37 zu entlassenden Arbeitnehmer,
so dass die AfA insoweit durch die falsche Angabe der zu entlassenden Arbeitnehmer
nicht in ihrer sachlichen Prüfung beeinflusst wurde, ob vorausschauend
Arbeitsvermittlungs- und andere arbeitsmarktpolitische Maßnahmen im Hinblick auf die
mögliche Arbeitslosigkeit des Klägers und der weiteren 36 Arbeitnehmer einzuleiten
seien (vgl. BAG 28.05.2009 - 8 AZR 273/08 - Juris Rn. 62 ff., LAG Rheinland-Pfalz
15.01.2008 - 3 Sa 634/07 - Juris Rn. 79).
46
Fehler und Unvollständigkeiten bei den Mussangaben nach § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG
führen nach richtiger Auffassung (Reinhard, RdA 2007, 207 ff. APS/Moll, 3. Aufl.,
§ 17 KSchG Rn. 100 f.) zwar grundsätzlich zur Unwirksamkeit der
Massenentlassungsanzeige. Wenn sich die zu niedrig angegebene Zahl der zur
Entlassung vorgesehenen Mitarbeiter jedoch nicht auf die angezeigten Kündigungen
auswirkt, kann jedoch ein Ausnahmefall mit der Folge anzunehmen sein, dass lediglich
die zusätzlich vorgenommenen Entlassungen für unwirksam zu erachten sind (vgl. BAG
22.03.2001 - 8 AZR 565/00 - Juris Rn. 140, LAG Rheinland-Pfalz 15.01.2008 - 3 Sa
634/007 - Juris Rn. 79, Küttner/Kreitner, Personalbuch 2010, 300 ‚Massenentlassung’,
Rn. 24, SPV/ Vossen, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, 10. Aufl.,
Rn. 1654, vgl. ErfK/Kiel, § 17 KSchG Rn. 29).
47
Die Kammer braucht diese Rechtsfrage hier nicht zu entscheiden, weil die
Massenentlassungsanzeige mangels beigefügter oder nachgereichter Stellungnahme
des Betriebsrats gemäß § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG unwirksam ist. Die Unwirksamkeit
der Anzeige hat die Unwirksamkeit der streitbefangenen Kündigung zur Konsequenz.
48
2.Bei § 17 Abs. 3 Satz 2 und 3 KSchG handelt es sich um Muss-Vorschriften. Das ergibt
sich aus dem Gesetzeswortlaut und dem Rückschluss aus § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG,
wonach die Massenentlassungsanzeige nicht wirksam ist, wenn ihr weder die
Stellungnahme des Betriebsrats beigefügt war (Satz 2) noch - bei fehlendem Vorliegen
einer Stellungnahme - die Glaubhaftmachung der Unterrichtung des Betriebsrates und
Darlegung des Standes der Beratungen nachgereicht wurde. Der gesetzliche
Zusammenhang bestätigt den Muss-Charakter der Regelung des § 17 Abs. 3 Satz 2 und
3 KSchG, die eingebettet ist in die Muss-Vorschriften des Satzes 1 und des Satzes 4.
49
a)Der Beklagte legte mit oder nach der Massenentlassungsanzeige vom 25.02.2009 der
AfA keine Stellungnahme des Betriebsrats vor und unterließ auch die Angabe und
Glaubhaftmachung von nach § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG maßgeblichen Vorgängen. Die
Kündigung vom 11.03.2009 erfolgte daher aufgrund einer nicht ordnungsgemäß
angezeigten Massenentlassung.
50
b)Der Betriebsrat hatte mit seiner Zustimmung zu dem Interessenausgleich vom
24.02.2009 zwar die gesetzlich geforderte "Stellungnahme" abgegeben und unter V.
Abs. 4 Satz 2 bestätigt, gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG informiert worden zu sein. Der
Beklagte reichte indessen nicht den Interessenausgleich vom 24.02.2009, sondern den
"falschen" Interessenausgleich der U. G. GmbH vom 23./24.02.2009 ein.
51
c) Da der Interessenausgleich nicht nachgereicht wurde, braucht in diesem
Zusammenhang nicht vertieft zu werden, inwieweit das Nachholen von Muss-Angaben
zulässig ist (APS/Moll, 3. Aufl., § 17 KSchG Rn. 100) und ob nach Vorliegen einer AfA-
Entscheidung gemäß § 20 Abs. 1 KSchG (die hier offenbar im Laufe des 26.02.2009
ergangen ist) ein neues und dann ordnungsgemäßes Anzeigeverfahren durchzuführen
ist.
52
d)Das Schreiben des Betriebsrats vom 26.02.2009 ist keine "Stellungnahme" i. S. v.
§ 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG (vgl. KR/Weigand, 9. Aufl., § 17 KSchG Rn. 93-95). Es mag
der Schuldnerin als Glaubhafthaftmachung dafür gedient haben, dass sie den
Betriebsrat vor Erstattung der Anzeige nach Abs. 2 Satz 1 KSchG unterrichtet habe
(Abs. 3 Satz 3) bzw. ihm eine Abschrift der Massenentlassungsanzeige zugeleitet habe
(Abs. 5 Satz 6). Es enthält aber weder eine inhaltliche Stellungnahme zu der
vorgesehenen Massenentlassung oder dem Stand der Konsultationen noch die
Erklärung des Verzichts des Betriebsrats auf Abgabe einer Stellungnahme. Im Übrigen
stellte die Schuldnerin durch das vorgelegte Schreiben des Betriebsrats vom
26.02.2009 nicht dar, dass der Betriebsrat mindestens zwei Wochen vor
Anzeigeerstattung, also vor Vollständigkeit der Anzeige nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG,
unterrichtet wurde (vgl. BAG 20.05.1999 - 2 AZR 532/98 - Juris Rn. 44). Dies war auch
tatsächlich nicht der Fall gewesen.
53
Danach kann dahinstehen, ob dann, wenn - wie hier in Form des Interessenausgleichs
vom 24.02.2009 - eine Stellungnahme des Betriebsrats bereits vorliegt, für die
(nachholende) Glaubhaftmachung nach § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG überhaupt Raum ist
(vgl. BVerfG 25.02.2010 - 1 BvR 230/09 - Rn. 31, BAG 28.05.2009 - 8 AZR 273/08 -
Juris Rn. 61 f.).
54
3.Die Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige schlägt auf die Kündigung vom
11.03.2009 durch.
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a)Zwar sind unionsrechtlich die Rechtsfolgen einer nicht ordnungsgemäßen
Massenentlassungsanzeige nach der Junk-Entscheidung des EuGH vom 27.01.2005 -
C-188/03 - noch nicht abschließend geklärt (BVerfG 25.02.2010 - 1 BvR 230/09 - Rn. 35;
vgl. EuGH 16.07.2009 - C 12/08 Mono Car Styling - Rn. 34 ff.). Insbesondere erscheint
im Licht von Art. 3 Satz 3 i. V. m. Art. 2 EGRL 98/59 (sog. Masseentlassungsrichtlinie =
MERL) als nicht gesichert, ob fehlende Angaben des Arbeitgebers zu den
Konsultationen der Arbeitnehmervertreter und einer von diesen abgegebenen
Stellungnahme unionsrechtlich die Unwirksamkeit der Kündigung nach sich ziehen.
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b)Nach Auffassung der Kammer kommt es hierauf jedoch nicht an. Denn die
Unwirksamkeit der Kündigung ergibt sich aus nationalem Recht. Dass dieses über den
durch die MERL intendierten Schutz hinausgehen kann, ist zweifelsfrei. Zwar ist
§ 17 KSchG in der Vergangenheit so verstanden worden, dass die unterlassene,
unvollständige oder fehlerhafte Massenentlassungsanzeige nicht zur Unwirksamkeit der
nachfolgenden Kündigung führt (vgl. BAG 18.09.2003 - 2 AZR 79/02 - Juris Rn. 61 ff.).
Mit dem Junk-Urteil des EuGH vom 27.01.2005 ist dieses Verständnis jedoch obsolet
geworden. Indem die arbeitsmarktpolitischen Zwecke der MERL und der
§§ 17 ff. KSchG eine Verstärkung des individuellen Kündigungsschutzes bewirken (LAG
Sachsen-Anhalt 18.11.2009 - 5 Sa 179/09 - Juris Rn. 66) und der Gesetzgeber
§ 17 KSchG unverändert gelassen hat, ist eine restriktive Gesetzesauslegung
dergestalt, dass trotz Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige die nachfolgende
57
Kündigung ihre Wirksamkeit behalte, nicht mehr vertretbar.
c)Der Beklagte beruft sich ohne Erfolg darauf, dass die AfA unter dem 26.02.2009 die
angezeigte Massenentlassung bei Einhaltung der Sperrfrist des § 18 Abs. 1 KSchG
nicht beanstandet habe.
58
(11)Inwieweit ein bestandskräftiger Verwaltungsakt gemäß § 20 i. V. m. § 18 KSchG die
Arbeitsgerichte hinsichtlich der Frage hindert, ob eine wirksame
Massenentlassungsanzeige vorgelegen hat, ist in Rechtsprechung und Literatur
umstritten (LAG Rheinland-Pfalz 15.01.2008 - 3 Sa 634/07 - Juris Rn. 79, SPV/Vossen,
Rn. 1654, Küttner/Kreitner, Personalbuch 2010, 300 ‚Massenentlassung’, Rn. 24., vgl.
Koehler/Niklas, NZA 2010, 913, krit. Reinhard RdA 2007, 214, KR/Weigand, 9. Aufl.,
§ 20 KSchG Rn. 72 f.). Nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts kommt dem
Verwaltungsverfahren "erhebliche Bedeutung" zu, wenn sich offensichtlich die AFA
durch die fehlende Darlegung des "Standes der Beratungen" nicht von einer sachlichen
Prüfung der Massenentlassungsanzeige habe abhalten lassen, was ebenfalls gegen die
Annahme spreche, die Anzeige sei unwirksam (BAG 28.05.2009 - 8 AZR 273/08 - Juris
Rn. 63 f.).
59
(22)Die letztgenannte Überlegung erscheint der Kammer als eher spekulativ. Sie wird
tatsächlich vielfach und im Streitfall widerlegt durch die Oberflächlichkeit und Hast, mit
der die AfA Massenentlassungsanzeigen von Arbeitgebern zu billigen pflegt.
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(33)Die Annahme, dass die Arbeitsgerichte an den AfA-Bescheid nach § 20 KSchG und
die inzidente Feststellung der Wirksamkeit der Massenentlassungsanzeige gebunden
seien, verträgt sich nicht mit dem unionsrechtlichen und grundrechtlichen
Effektivitätsprinzip. Hiernach darf der durch die Massenentlassungsrichtlinie und
§ 17 KSchG gewährte individuelle Kündigungsschutz nicht dadurch faktisch
aufgehoben werden, dass Arbeitnehmer eine fehlerhafte Entscheidung der AfA nach
§ 20 KSchG sich entgegenhalten lassen müssen. Indem Art. 3 MERL und § 17 KSchG
die Wirksamkeit der Kündigung von einer vorherigen ordnungsgemäßen
Massenentlassungsanzeige abhängig machen, scheidet es von vornherein aus, der
behördlichen Akzeptanz der Anzeige eine wie auch immer geartete Bindungswirkung
beizumessen. Hinzu kommt, dass, worauf Reinhard (RdA 2007, 214) zu Recht hinweist,
die betroffenen Arbeitnehmer am Anzeigeverfahren nicht beteiligt sind und keine
Möglichkeit haben, gegen die Verwaltungsentscheidung, die keinen drittbelastenden
Verwaltungsakt darstelle, Rechtsmittel einzulegen. Des Weiteren prüft die AfA nicht die
Voraussetzungen der Massenentlassung unter dem Gesichtspunkt der Zulässigkeit der
einzelnen Kündigungen, sondern legte den Fokus auf die öffentlich-rechtliche Frage der
Abkürzung oder Verlängerung der Sperrfrist fokussiert (Reinhard RdA 2007, 214). Die
ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige ist nur Vorfrage, so dass deren Bejahung
durch die AfA grundsätzlich nicht an der Bindungswirkung des Bescheides teilnimmt.
Der Bescheid ist - bezogen auf § 17 KSchG - auch kein gestaltender Verwaltungsakt mit
belastender oder begünstigender Wirkung gegenüber der Klägerin und entfaltet auch
aus diesem Grund keine Bindungswirkung der Arbeitsgerichte. Diese haben im Rahmen
ihrer Vorfragenkompetenz vielmehr selbst die Massenentlassungsanzeige auf ihre
Vollständigkeit und Korrektheit zu überprüfen (vgl. Zöller/Lückemann, ZPO, 28. Aufl.,
§ 13 GVG Rz. 34).
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Daher sind die Arbeitsgerichte nicht an den Bescheid und die daraus ersichtliche
Auffassung der AfA gebunden (ErfK/Kiel, 10. Aufl., § 20 KSchG, Rn. 6, von Hoyningen-
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Huene/Linck, KSchG, 14. Aufl., § 20 Rn. 26).
(44)Der Beklagte reklamiert erfolglos, dass ihm Vertrauensschutz zu gewähren sei, weil
die AfA im Bescheid nach § 20 KSchG die unzulängliche Massenentlassungsanzeige
unbeanstandet gelassen habe. Er übersieht, dass er selbst die Anforderungen des § 17
Abs. 3 KSchG missachtet hat und schon deshalb keinen Vertrauensschutz verdient (vgl.
APS/Moll, 3. Aufl., § 17 KSchG Rn. 136). Zudem muss ein Arbeitgeber damit rechnen,
dass bei der Prüfung der AfA die etwaige Verkürzung oder Verlängerung der Sperrfrist
des § 18 KSchG im Vordergrund steht, während die Ordnungsgemäßheit der
Massenentlassungsanzeige nur kursorisch und anhand notorisch defizitärer Vorlagen
und Anweisungen geprüft wird (vgl. BAG 18.09.2003, Juris Rn. 64).
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Nebenentscheidungen
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Die Kosten der Berufung hat nach § 97 Abs. 1 ZPO der Beklagte zu tragen.
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Die Kammer hat der entscheidungserheblichen Rechtsfrage, ob eine gemäß § 17 Abs. 3
Satz 2 u. 3 KSchG unzureichende und von der AfA im Bescheid nach § 20 KSchG nicht
beanstandete Massenentlassungsanzeige zur Unwirksamkeit der nachfolgenden
Kündigung führt, grundsätzliche Bedeutung beigemessen und daher für den Beklagten
die Revision an das Bundesarbeitsgericht zugelassen, § 72 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 1 ArbGG.
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RECHTSMITTELBELEHRUNG
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Gegen dieses Urteil kann von der beklagten Partei
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R E V I S I O N
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eingelegt werden.
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Für die klagende Partei ist gegen dieses Urteil kein Rechtsmittel gegeben.
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Die Revision muss innerhalb einer Notfrist* von einem Monat schriftlich beim
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Bundesarbeitsgericht
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Hugo-Preuß-Platz 1
74
99084 Erfurt
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Fax: 0361-2636 2000
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eingelegt werden.
77
Die Notfrist beginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils,
spätestens mit Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung.
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Die Revisionsschrift muss von einem Bevollmächtigten unterzeichnet sein. Als
Bevollmächtigte sind nur zugelassen:
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1.Rechtsanwälte,
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2.Gewerkschaften und Vereinigungen von Arbeitgebern sowie Zusammenschlüsse
solcher Verbände für ihre Mitglieder oder für andere Verbände oder Zusammenschlüsse
mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder,
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3.Juristische Personen, deren Anteile sämtlich im wirtschaftlichen Eigentum einer der in
Nummer 2 bezeichneten Organisationen stehen, wenn die juristische Person
ausschließlich die Rechtsberatung und Prozessvertretung dieser Organisation und ihrer
Mitglieder oder anderer Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer
Ausrichtung und deren Mitglieder entsprechend deren Satzung durchführt und wenn die
Organisation für die Tätigkeit der Bevollmächtigten haftet.
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In den Fällen der Ziffern 2 und 3 müssen die Personen, die die Revisionsschrift
unterzeichnen, die Befähigung zum Richteramt haben.
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Eine Partei, die als Bevollmächtigter zugelassen ist, kann sich selbst vertreten.
84
* eine Notfrist ist unabänderlich und kann nicht verlängert werden.
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Dr. Plüm Geisen Urbaniak
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