Urteil des LAG Düsseldorf vom 13.09.2001

LArbG Düsseldorf: sondervergütung, leistungsprämie, bayern, tarifvertrag, gratifikation, negative feststellungsklage, auszahlung, arbeitsgericht, rechtsgrundlage, verrechnung

Landesarbeitsgericht Düsseldorf, 11 Sa 620/01
Datum:
13.09.2001
Gericht:
Landesarbeitsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
11. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
11 Sa 620/01
Vorinstanz:
Arbeitsgericht Mönchengladbach, 4 Ca 4337/00
Schlagworte:
Anrechnung betrieblicher Jahressondervergütungen auf tarifliche
Jahressondervergütungen
Normen:
BGB § 611 Gratifikation; TVG § 4 Günstigkeitsprinzip; Tarifvertrag über
die Zahlung einer Sondervergütung für das Kraftfahrzeuggewerbe im
Lande Nordrhein-Westfalen i. d. F. vom 08.02.1996; Tarifvertrag über die
betrieblichen Sonderzahlungen für die gewerblichen Arbeitnehmer und
Angestellten des Kraftfahrzeuggewerbes in Bayern i. d. F. vom
21.02.1997
Sachgebiet:
Arbeitsrecht
Leitsätze:
1. Ein Tarifvertrag kann vorsehen, dass auf die tarifliche
Jahressondervergütung ähnliche betriebliche Leistungen anrechenbar
sind (wie BAG 18.05.1994 -10 AZR 125/93 - EzA § 611 BGB
Gratifikation, Prämie Nr. 112). 2. Eine derartige Anrechnungsmöglichkeit
sieht nicht nur § 3 Nr. 5 des Tarifvertrages über die Zahlung einer
Sondervergütung für das Kraftfahrzeuggewerbe im Lande Nordrhein-
Westfalen i. d. F. vom 08.02.1996, sondern auch Nr. 9 des Tarifvertrages
über die betrieblichen Sonderzahlungen für die gewerblichen
Arbeitnehmer und Angestellten des Kraftfahrzeuggewerbes in Bayern i.
d. F. vom 21.02.1997 vor. 3. Von einer ihm tariflich eingeräumten
Anrechnungsbefugnis kann der Arbeitgeber nur Gebrauch machen,
wenn dies nach der die betriebliche Leistung begründenden
Vereinbarung zulässig ist, diese also nicht "tariffest" ausgestaltet ist (wie
BAG 18.05.1994 -10 AZR 125/93 - a. a. 0.). 4. Bei der Ausübung der
Anrechnungsbefugnis hat der Arbeitgeber die Grundsätze billigen
Ermessens (§ 315 Abs. 1 BGB) und den arbeitsrechtlichen
Gleichbehandlungsgrundsatz zu beachten.
Tenor:
1. Auf die Berufung der Kläger wird das Urteil des Arbeitsgerichts
Mönchengladbach vom 22.03.2001 4 Ca 4337/00 abgeändert:
Der Beklagte wird verurteilt, an die Kläger zu 1), 3), zu 4) und 5) jeweils
DM 1.415,-- brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 % über dem
Basiszinssatz nach § 1 des Diskontsatz Überleitungsgesetz vom
09.06.1998 seit dem 01.05.2000 zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass der Beklagte nicht berechtigt ist, die für das
Rechnungsjahr 2000 auszuschüttende Jahresprämie mit der an die
Kläger zu 1) bis 5) zu zahlenden tarifvertraglichen Sondervergütung zu
verrechnen.
2. Seine in erster Instanz entstandenen Kosten trägt der Kläger zu 2).
Die Übrigen in erster Instanz entstandenen Kosten trägt der Beklagte.
Die in zweiter Instanz entstandenen Kosten trägt der Beklagte.
3. Die Revision wird für den Beklagten zugelassen.
TATBESTAND:
1
Die Kläger sind seit mehr als 25 Jahren als Sachbearbeiter in der Pannenhilfe W. beim
Beklagten bzw. dessen Rechtsvorgänger, dem A. N. e. V., beschäftigt. Die "Pannenhilfe
W.", die sich ursprünglich in K. befand, wurde zum 01.01.1993 von dem A.N. e.V. auf
den Beklagten übertragen und nach D. verlegt.
2
In den seit 1991 für sie geltenden, damals mit dem Rechtsvorgänger des Beklagten
abgeschlossenen Arbeitsverträgen ist u. a. bestimmt:
3
§ 2 Beschäftigungsbedingungen
4
...
5
Für die vom A. N. e. V. unterhaltene Pannenhilfe-Zentrale werden die
Bestimmungen des Tarifvertrages für das Kraftfahrzeuggewerbe im Lande
Nordrhein-Westfalen angewendet.
6
Nach § 2 des Tarifvertrages über die Zahlung einer Sondervergütung für das
Kraftfahrzeuggewerbe im Lande Nordrhein-Westfalen (künftig: TV-S NW), zuletzt i. d. F.
vom 08.02.1996, gültig ab 01.01.1997, erhalten die nach § 1 Nr. 3 TV-S NW unter den
persönlichen Geltungsbereich dieses Tarifvertrages fallenden Arbeitnehmer eine
Sondervergütung, sofern sie am 01.12. des jeweiligen Kalenderjahres mehr als sechs
Monate dem Betrieb ihres Arbeitgebers ununterbrochen angehört haben und ihr
Arbeitsverhältnis bis zum 31.12. des jeweiligen Jahres fortbestanden hat. Die Höhe
dieser Sondervergütung richtet sich nach § 3 TV-S NW. Unter § 3 Ziffer 5 TV-S NW
heißt es:
7
Betriebliche Leistungen des Arbeitgebers, wie Jahresabschlussvergütungen,
Gratifikation, Jahresprämien, Ergebnisbeteiligungen, Weihnachtsgeld und
ähnliches, gelten als Sondervergütung im Sinne dieses Tarifvertrages und
können auf die nach Ziffer 1 zu erbringende Sondervergütung angerechnet
werden.
8
Für etwa 2.000 andere Arbeitnehmer im gesamten Bereich des Beklagten finden die
Tarifverträge für das Kraftfahrzeuggewerbe in Bayern Anwendung. In Nr. 9 des
Tarifvertrages über die betrieblichen Sonderzahlungen für die gewerblichen
Arbeitnehmer und Angestellten des Kraftfahrzeuggewerbes in Bayern (künftig: TV-S
9
Bayern) i. d. F. vom 21.02.1997, gültig ab 01.01.1997 heißt es:
Leistungen des Arbeitgebers, wie die Jahresabschlussvergütungen,
Gratifikationen, Jahresprämien, Ergebnisbeteiligungen, Weihnachtsgeld u. ä.,
gelten als betriebliche Sonderzahlungen in vorstehendem Sinne und erfüllen
den tariflichen Anspruch. Hierfür vorhandene betriebliche Systeme bleiben
unberührt.
10
Seit 1995 erhielten die Arbeitnehmer des Beklagten in dem Bereich, indem die Kläger
tätig sind, aufgrund entsprechender Betriebsvereinbarungen Leistungsprämien. Diese
Prämien wurden zunächst quartalsweise, später halbjährlich und erstmals für 1997 in
Form einer Jahresprämie gezahlt. Die Feststellung der Höhe und die Auszahlung der
Prämie erfolgten jeweils im März/April des Folgejahres. Seit dem 01.01.1998 richtet sich
die Zahlung der Leistungsprämien nach der Betriebsvereinbarung Leistungsprämien im
Geschäftsbereich Hilfe und Technik Hilfezentralen vom 16.12.1997 (künftig: BV
Leistungsprämien 1997), die bis zum 31.12.1999 ohne Nachwirkung befristet ist. In Ziff.
1.4 BV Leistungsprämien 1997 ist bestimmt:
11
Die Abrechnung der Prämie erfolgt jährlich jeweils zum 31.12. des Jahres. Die
Auszahlung erfolgt mit der Aprilabrechnung des Folgejahres.
12
Mit Schreiben vom 19.11.1999 teilte der Beklagte den Klägern, die letztmals im April
1999 die Leistungsprämie für 1998 erhielten, mit, dass er sich vorbehalte, die zu
zahlende Leistungsprämie künftig auf die tarifliche Sondervergütung (Weihnachtsgeld)
anzurechnen. Hiergegen wendeten sich der Kläger zu 1) am 07.12.1999, der Kläger zu
3) am 04.04.2000, der Kläger zu 4) am 13.12.1999 und die Klägerin zu 5) am
08.12.1999. Der Kläger zu 2) unterließ eine schriftliche Geltendmachung gemäß § 10
Nr. 2 des Manteltarifvertrages für das Kraftfahrzeuggewerbe im Lande Nordrhein-
Westfalen (künftig: MTV NW) vom 08.11.1996, gültig ab 01.10.1996.
13
Mit gleichlautenden Schreiben vom 07.04.2000 teilte der Beklagte den Klägern
folgendes mit:
14
In obiger Angelegenheit nehmen wir Bezug auf unser Schreiben vom
19.11.1999, mit dem wir uns vorbehalten haben, die zu zahlende
Leistungsprämie gemäß der gültigen Prämienbetriebsvereinbarung für die
Hilfezentrale auf die tarifliche Sondervergütung (Weihnachtsgeld)
anzurechnen.
15
Die ersten Reaktionen auf das Angebot der Regionalleitung, mit den
betroffenen Mitarbeitern eine einvernehmliche Lösung zu suchen, waren so
wenig erfolgversprechend, dass wir uns nunmehr definitiv entschlossen
haben, die für 1999 zu zahlende Leistungsprämie auf die tarifliche
Sondervergütung anzurechnen.
16
Selbstverständlich steht es ihnen weiterhin offen, unser fortbestehendes
Angebot, in den Tarifvertrag für das Kfz-Gewerbe Bayern zu wechseln,
anzunehmen, was für Sie zur Folge hätte, dass zumindest für die
Leistungsprämie 2000 keine Anrechnung erfolgen würde.
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Die Kläger erzielten für 1999 gemäß gleichlautendem Schreiben des Beklagten vom
18
20.04.2000 eine Leistungsprämie in Höhe von DM 1.415,00 brutto. Zugleich teilte der
Beklagte den Klägern in diesem Schreiben mit, dass er gemäß dem für sie gültigen
Tarifvertrag die Prämie auf die tarifliche Sondervergütung (Weihnachtsgeld) anrechne.
Den Arbeitnehmern, die den bayerischen Tarifverträgen unterfallen, wurde die
Leistungsprämie für 1999 gemäß der BV Leistungsprämien 1997 ausgezahlt.
Mit ihrer beim Arbeitsgericht Mönchengladbach am 22.12.2000 eingereichten Klage
haben alle Kläger die Zahlung der Leistungsprämie für 1999 verlangt und die
Feststellung der Nichtberechtigung des Beklagten, die für das Rechnungsjahr 2000
auszuschüttende Jahresprämie mit der tarifvertraglichen Sondervergütung
(Weihnachtsgeld) zu verrechnen, begehrt.
19
Die Kläger haben im Wesentlichen die Auffassung vertreten:
20
Die vorbehaltlose Zahlung der Leistungsprämien seit 1995 hätten zu einer betrieblichen
Übung geführt, die einer Anrechnung auf die tarifliche Sonderzahlung entgegenstehe.
Darüber hinaus verstoße die Anrechnung gegen den arbeitsrechtlichen
Gleichbehandlungsgrundsatz, weil den Arbeitnehmern, deren Arbeitsbedingungen sich
nach den bayerischen Tarifverträgen richten würden, sowohl die Leistungsprämie als
auch die tarifliche Sondervergütung in voller Höhe ausgezahlt bekommen hätten. Die
BV Leistungsprämien 1997 als Rechtsgrundlage für die streitbefangene
Leistungsprämie sei für beide Arbeitnehmergruppen identisch, werde aber letztlich
unterschiedlich angewendet.
21
Die Kläger haben beantragt,
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1. den Beklagten zu verurteilen, an sie jeweils DM 1.415,00 brutto zu
zahlen zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem Basiszinssatz
nach § 1 des Diskontsatz-Überleitungs-gesetzes vom 09.06.1998 seit dem
01.05.2000;
23
2. festzustellen, dass der Beklagte nicht berechtigt ist, die für das
Rechnungsjahr 2000 auszuschüttende Jahresprämie mit der
tarifvertraglichen Sondervergütung (Weihnachtsgeld) zu verrechnen.
24
Der Beklagte hat beantragt,
25
die Klage abzuweisen.
26
Der Beklagte hat im Wesentlichen geltend gemacht:
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Eine betriebliche Übung könne frühestens nach dreimaliger vorbehaltloser Zahlung
entstehen. Die erst im Jahre 1997 eingeführte Jahresleistungsprämie sei dagegen erst
in zwei Jahren nicht auf die tarifliche Sondervergütung angerechnet worden. Die
unterschiedliche Behandlung der Arbeitnehmer, je nach dem ob sie den nordrhein-
westfälischen oder den bayerischen Tarifverträgen für das Kraftfahrzeuggewerbe
unterfallen würden, verstoße deshalb nicht gegen den arbeitsrechtlichen
Gleichbehandlungsgrundsatz, weil beide Tarifverträge nicht vergleichbar seien. Eine
Anrechnung komme nur nach dem bayerischen TV-S NW in Betracht.
28
Mit seinem am 22.03.2001 verkündeten Urteil hat das Arbeitsgericht die Klage
29
abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt:
Eine betriebliche Übung des Inhalts, dass der Beklagte von der Anrechnungsbefugnis
des § 3 Nr. 5 TV-S NW keinen Gebrauch machen könne, sei nicht entstanden. Der
Beklagte habe eine Anrechnung in der Vergangenheit lediglich zweimal unterlassen.
Erstmalig hätte die Leistungsprämie für das Jahr 1997 angerechnet werden können, da
zuvor keine Jahresprämien gewährt worden seien. Darüber hinaus würden
grundsätzliche Bedenken gegen die Annahme bestehen, die mehrfache vorbehaltlose
Zahlung der Leistungsprämie neben der tariflichen Sondervergütung könne eine
entsprechende betriebliche Übung begründet haben. Im vergleichbaren Fall der
Verrechnung von übertariflichen Zulagen mit Tariflohnerhöhungen entspreche es der
Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, dass eine Verrechnung auch dann
stattfinden könne, wenn übertarifliche Lohnbestandteile bisher jahrelang vorbehaltlos
zusätzlich zu tariflichen Leistungen gewährt worden seien. Schließlich könnten die
Kläger eine Auszahlung der Leistungsprämie ohne Anrechnung auf die tarifliche
Sonderzahlung auch nicht unter dem Gesichtspunkt des arbeitsrechtlichen
Gleichbehandlungsgrundsatzes verlangen. Die Anwendung dieses Grundsatzes zu
Gunsten der Kläger scheide aus, weil sie mit den Arbeitnehmern, deren
Arbeitsbedingungen sich nach den bayerischen Tarifverträgen richten würden, nicht
vergleichbar seien. Eine Befugnis zur Anrechnung von Leistungsprämien, die auf der
Grundlage von Betriebsvereinbarungen gewährt würden, auf die tarifvertragliche
Sondervergütung ergebe sich nur aus dem TV-S NW. Der TV-S Bayern lasse eine
solche Anrechnung, wie sich aus der Auslegung der Nr. 9 Satz 2 des TV-S Bayern
ergebe, gerade nicht zu. Zu Unrecht würden die Kläger darauf hinweisen, es gehe
letztlich nicht um den Inhalt der Tarifverträge, sondern um eine unterschiedliche
Anwendung der identischen Betriebsvereinbarung. Daran sei nur richtig, dass
Rechtsgrundlage der Leistungsprämie für beide Arbeitnehmergruppen dieselbe
Betriebsvereinbarung sei. Allerdings sei der Anspruch auf die Leistungsprämie in
unterschiedlicher Weise tariffest .
30
Gegen das ihnen am 10.04.2001 zugestellte Urteil des Arbeitsgerichts haben die Kläger
mit einem bei dem Landesarbeitsgericht am 08.05.2001 eingegangenen Schriftsatz
Berufung eingelegt und diese mit einem bei Gericht am 08.06.2001 eingereichten
Schriftsatz begründet.
31
Die Kläger haben unter teilweiser Wiederholung ihres erstinstanzlichen Vorbringens im
Wesentlichen geltend gemacht:
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Die Anwendung des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes könne nicht
daran scheitern, dass die Altmitarbeiter schlechter gestellt würden als die
Neumitarbeiter , nur weil beide Gruppen einen unterschiedlichen Manteltarifvertrag
vereinbart hätten. Die Regelung in Nr. 9 Satz 2 TV-S Bayern könne dieser Annahme
entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht entgegen stehen. Wenn diese Reglung
von System bzw. betrieblichen System spreche, müsse dies etwas anderes sein, als
lediglich eine Betriebsvereinbarung, die selbst eine Anrechnung oder Nichtanrechnung
gar nicht regele. Dieser Auffassung sei letztlich auch der Beklagte, wenn er in seinem
Schreiben vom 07.04.200 klarstelle, dass bei ihrem Wechsel zu den Tarifverträgen für
das Kraftfahrzeuggewerbe in Bayern zumindest für die Leistungsprämie 2000 keine
Anrechnung erfolgen würde.
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Die Kläger beantragen,
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das Urteil des Arbeitsgerichts Mönchengladbach vom 22.03.2001 4 Ca
4337/00 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, an sie die Kläger zu
1), zu 3), zu 4) und 5) - jeweils DM 1.415,00 brutto zuzüglich Zinsen in Höhe
von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz nach § 1 des Diskontsatz-
Überleitungsgesetzes vom 09.06.1998 seit dem 01.05.2000 zu zahlen, sowie
festzustellen, dass der Beklagte nicht berechtigt ist, die für das Rechnungsjahr
2000 auszuschüttende Jahresprämie mit der an sie zu zahlenden
tarifvertraglichen Sondervergütung (Weihnachtsgeld) zu verrechnen.
35
Der Beklagte beantragt,
36
die Berufung zurückzuweisen.
37
Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil und führt unter teilweiser Wiederholung
seines erstinstanzlichen Vorbringens ergänzend aus:
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Entgegen der Auffassung der Kläger liege in der Verrechnung der Leistungsprämie mit
der tariflichen Sondervergütung bei den dem MTV-NW unterliegenden Mitarbeitern kein
Verstoß gegen den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz gegenüber den
dem MTV-Bayern unterliegenden Mitarbeitern. In der Geltung verschiedener
Tarifvertragssysteme würde für beide Arbeitnehmergruppen ein sachlicher Grund
bestehen. Im Hinblick darauf, dass mit der die Leistungsprämie gewährenden
Betriebsvereinbarung ein betriebliches System i. S. von Nr. 9 Satz 2 TV-S Bayern
geschaffen sei, sei nach dieser Tarifbestimmung die Anrechnung der Leistungsprämie
auf die tarifliche Sondervergütung untersagt, während nach § 3 Nr. 9 TV-S NW eine
Anrechnungsmöglichkeit bestehe. Da die Kläger ausdrücklich und unbedingt nach den
Tarifvertragswerken des Landes Nordrhein-Westfalen hätten behandelt werden wollen,
sei es nicht willkürlich, wenn er eine Anrechnungsmöglichkeit wahrnehme, die der TV-S
NW im Gegensatz zum TV-S Bayern biete. Mit seinem Schreiben vom 07.04.2000 habe
er lediglich zum Ausdruck bringen wollen, dass zumindest für die Leistungsprämie 2000
unter Geltung der bayerischen Tarifverträge keine Anrechnung erfolgen könne. Im April
2000 habe er nicht ersehen können, ob für spätere Zeitpunkte weiterhin eine
entsprechende Betriebsvereinbarung besteht und der Tarifvertrag unverändert bleibe.
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Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien in beiden Rechtszügen wird auf den
vorgetragenen Inhalt der zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze verwiesen.
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ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
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A. Die Berufung ist zulässig. Sie ist an sich statthaft (§ 64 Abs. 1 ArbGG), nach dem Wert
des Beschwerdegegenstandes zulässig (§ 64 Abs. 2 ArbGG) sowie in gesetzlicher Form
(§ 518 Abs. 2 und Abs. 3 ZPO, § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG) und Frist (§ 66 Abs. 1 Satz 1
ArbGG) eingelegt und innerhalb der First (§ 519 Abs. 2 Satz 2 2. Halbs. ZPO i. V. m. §
64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG, § 66 Abs. 1 Satz 1 ArbGG) begründet worden.
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B. Die Berufung ist auch begründet.
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I. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz steht den Klägern zu 1), 3), 4) und 5) jeweils
ein Anspruch auf Zahlung einer Leistungsprämie für 1999 in Höhe von DM 1.415,00
brutto nebst Zinsen zu.
44
1. Die vorgenannten Kläger können ihren Anspruch auf Zahlung von jeweils DM 1.415,--
brutto auf § 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG i. V. m. der BV Leistungsprämien 1997 stützen.
Zwischen den Parteien besteht kein Streit, dass die in dieser Betriebsvereinbarung
geregelten Anspruchsvoraussetzungen dem Grunde und der Höhe nach vorliegen.
Dieser Anspruch ist jedoch nicht durch die von dem Beklagten gem. §§ 2, 3 Nr. 1 TV-S
NW an die Kläger gezahlte Sondervergütung für 1999 i. V. m. der in seinem Schreiben
vom 20.04.2000 enthaltenen Anrechnungserklärung erfüllt worden und damit nicht
gemäß § 362 Abs. 1 BGB erloschen.
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2. Zunächst ist festzustellen, dass der Beklagte die Anrechnung der Leistungsprämie für
1999 auf die tarifliche Sondervergütung für dieses Jahr auf § 3 Nr. 5 TV-S NW stützen
konnte.
46
a) Die in § 3 Nr. 5 TV-S NW enthaltene Anrechnungsklausel ist rechtlich zulässig. Sie
bedeutet, dass betriebliche Regelungen, die der tariflichen Sondervergütung ähnliche
Leistungen vorsehen, zu einer Erfüllung des tariflichen Anspruches führen. Dies
verstößt nicht gegen das Günstigkeitsprinzip i. S. von § 4 Abs. 3 TVG. Der Tarifvertrag
greift insoweit nicht in Ansprüche ein, die durch Betriebsvereinbarung begründet worden
sind. Vielmehr wird ein tariflicher Anspruch von vornherein nur bedingt durch die
Kürzung um bestimmte, anderweitig betrieblich begründete Ansprüche gewährt (BAG
03.03.1993 10 AZR 42/92 EzA § 611 Gratifikation, Prämie Nr. 101; BAG 18.05.1994 10
AZR 125/93 EzA § 611 BGB Gratifikation, Prämie Nr. 112). Die Anrechenbarkeit führt
somit dazu, dass bei einer geringeren betrieblichen Leistung ein höherer tariflicher
Anspruch unberührt bleibt. Ist die betriebliche Leistung höher als die tarifliche Leistung,
wird der tarifliche Anspruch durch die betriebliche Leistung erfüllt (vgl. Klischan, NZA
1985, 653, 656).
47
b) Zugunsten des Beklagten soll davon ausgegangen werden, dass die in der BV
Leistungsprämie 1997 geregelte Prämie eine ähnliche Leistung i. S. von § 3 Nr. 5 TV-S
NW ist und dem Beklagten es somit grundsätzlich möglich war, diese Prämie mit der
tariflichen Sondervergütung für 1999 zu verrechnen und damit den Anspruch auf diese
Sondervergütung zu erfüllen.
48
c) Der Anrechnung der Leistungsprämie für 1999 auf die den Klägern zu 1), 3), 4) und 5)
für dieses Jahr nach §§ 2,3 Nr. 1 TV-S NW zustehende tarifliche Sondervergütung stand
die BV Leistungsprämien 1997 nicht entgegen.
49
aa) Die Anrechenbarkeit betrieblicher Leistungen ist nach § 3 Nr. 5 TV-S NW als Kann-
Vorschrift ausgestaltet. Der Arbeitgeber erhält dadurch ein Entscheidungs- und
Gestaltungsrecht. Je nach seinen sozialpolitischen Vorstellungen und finanziellen
Möglichkeiten bleibt es ihm überlassen, ob er eine in einer Betriebsvereinbarung
geregelte Leistungsprämie uneingeschränkt neben der tariflichen Sondervergütung
aufrechterhalten oder aber eine Kürzung der unter § 3 Nr. 5 TV-S NW fallenden
betrieblichen Leistungen bis zur Höhe der tariflichen Sondervergütung vornehmen will
(vgl. BAG 19.07.1983 3 AZR 250/81 AP Nr. 1 zu § 1 BetrAVG
Zusatzversorgungskassen). Von dieser Anrechnungs-möglichkeit kann der Arbeitgeber
allerdings im Hinblick auf das Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG nur dann
Gebrauch machen, wenn dies nach den die betriebliche Leistung begründenden
Vereinbarungen zulässig ist, wenn also die betriebliche Leistung nicht tariffest
ausgestaltet worden ist (BAG 03.03.1993 10 AZR 42/92 a. a. O.; BAG 18.05.1994 10
50
AZR 125/93
a. a. O.).
51
bb) Dies ist vorliegend nicht der Fall. Aus der BV Leistungsprämien 1997 lässt sich nicht
entnehmen, dass die Leistungsprämie neben der jeweiligen tariflichen Sondervergütung
zu zahlen ist. Eine Tariffestigkeit ergibt sich auch nicht daraus, dass der Beklagte in der
Vergangenheit bei der tariflichen Sondervergütung eine Anrechnung der
Leistungsprämie nicht vorgenommen hat. Über- oder außertarifliche Lohnbestandteile
können auch dann auf tarifliche Leistungen angerechnet werden, wenn sie jahrelang
vorbehaltlos zusätzlich zur tariflichen Leistung gewährt wurden (vgl. BAG 03.03.1993 10
AZR 42/92
52
a. a. O.).
53
3. Im Streitfall ist dem Beklagten die Anrechnung der Leistungsprämie für 1999 auf die
tarifliche Sondervergütung für dieses Jahr aber zunächst deshalb versagt, weil die
Ausübung seiner ihm nach § 3 Nr. 5 TV-S NW zustehenden Anrechnungsbefugnis nicht
billigem Ermessen i. S. des § 315 Abs. 1 BGB entsprach.
54
a) Da es sich bei der dem Arbeitgeber in § 3 Nr. 5 TV-S NW eingeräumten
Anrechnungsbefugnis, wie bereits in anderem Zusammenhang dargestellt, um ein
Entscheidungs- und Gestaltungsrecht handelt, muss ihre Ausübung den Grundsätzen
billigen Ermessens (§ 315 Abs. 1 BGB) genügen (vgl. BAG 19.01.1995 - 6 AZR 545/94 -
EzA § 4 TVG Bestimmungsklausel Nr. 2; D. Gaul, Anm. zu BAG EzA § 87 BetrVG 1972
Betriebliche Lohngestaltung Nr. 30 unter 6 c). Eine Leistungsbestimmung entspricht
billigem Ermessen, wenn die wesentlichen Umstände des Falles abgewogen und die
beiderseitigen Interessen angemessen berücksichtigt worden sind (st. Rspr., z. B. BAG
11.10.1995 - 5 AZR 1009/94 - EzA § 611 BGB Direktionsrecht Nr. 16; BAG 07.12.2000 -
6 AZR 444/99 - EzA § 611 BGB Direktionsrecht Nr. 22). Ob die beiderseitigen
Interessen angemessen berücksichtigt worden sind, unterliegt der gerichtlichen
Kontrolle (§ 315 Abs. 3 Satz 2 BGB).
55
b) Die von dem Beklagten mit Schreiben vom 20.04.2000 erklärte Anrechnung der
Leistungsprämie für 1999 auf die tarifliche Sondervergütung für dieses Jahr hält diesem
Prüfungsmaßstab nicht stand.
56
aa) Mit dem dem Arbeitgeber in § 3 Nr. 5 TV-S NW eingeräumten Entscheidungsrecht,
eine betriebliche Sonderzahlung auf die tarifliche Sondervergütung anzurechnen, erhält
er lediglich die Möglichkeit, eine seinen sozialpolitischen und finanziellen Möglichkeiten
entsprechende Entscheidung zu treffen (vgl. schon oben unter B I 2 c aa) . Die
Anrechnungsbefugnis räumt dem Arbeitgeber dagegen nicht das Recht ein,
unterschiedliche Arbeitsbedingungen zwischen zwei Arbeitnehmergruppen zu
beseitigen. Dies hat aber der Beklagte, wie das seiner Anrechnungserklärung im
Schreiben vom 20.04.2000 unmittelbar vorausgegangene Schreiben vom 07.04.2000
beweist, versucht.
57
bb) Auf die hier vorzunehmende Billigkeitskontrolle hat es keinen Einfluss, dass die
Bezugnahmeklausel in § 2 der Arbeitsverträge zwischen den Klägern und dem
Rechtsvorgänger des Beklagten vereinbart worden ist. Zwar mögen die in § 613 a Abs.
1 Satz 2 - 4 BGB enthaltenen Regelungen erkennen lassen, dass die
58
Ungleichbehandlung infolge einer Betriebsübernahme nach Ablauf des
Bindungszeitraumes eine Angleichung der Vertragsabreden der übernommen wie der
bereits beschäftigten Mitarbeiter erwünscht ist (ErfK/Ascheid, 2. Aufl. 2001, § 2 KSchG
Rz. 67; APS/Künzl, 2000, § 2 KSchG Rz. 243). Dies kann jedoch, wenn ein
Arbeitnehmer, wie im Streitfall, nicht mit dem Abschluss eines entsprechenden
Änderungsvertrages einverstanden ist, allenfalls über eine Änderungskündigung
erreicht werden (vgl. APS/Künzl, § 2 KSchG Rz. 243; vgl. aber auch LAG Rheinland-
Pfalz 14.12.2000 - 6 Sa 973/00 - bisher unveröffentlicht).
4. Des weiteren war die Anrechnungserklärung des Beklagten in seinem Schreiben vom
20.04.2000 unwirksam, weil sie gegen den arbeitsrechtlichen
Gleichbehandlungsgrundsatz verstieß.
59
a) Der Beklagte hatte bei der an sich nach § 3 Nr. 5 TV-S NW zulässigen Anrechnung
der Prämie nach der BV Leistungsprämien 1997 auf die tarifliche Sondervergütung, da
es sich insoweit um die Ausübung eines ihm zustehenden Gestaltungsrechts handelt,
den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz zu beachten (vgl. BAG 26.11.1998
- 6 AZR 335/97 - AP Nr. 11 zu § 1 BAT-O; vgl. auch BAG 22.08.1979 - 5 AZR 769/77 -
EzA § 4 TVG Tariflohnerhöhung Nr. 3). Der arbeitsrechtliche
Gleichbehandlungsgrundsatz verlangt vom Arbeitgeber die Gleichbehandlung der
Arbeitnehmer in vergleichbarer Lage. Er verbietet nicht nur die willkürliche
Schlechterstellung einzelner Arbeitnehmer in der Gruppe, sondern auch eine
sachfremde Gruppenbildung (BAG 26.11.1998 6 AZR 335/97 AP Nr. 11 zu § 1 BAT-O;
BAG 21.03.2001 10 AZR 444/00 EzA § 242 BGB Gleichbehandlung Nr. 84). Der
arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz ist daher verletzt, wenn der Arbeitgeber
einzelne Arbeitnehmer gegenüber anderen Arbeitnehmern in vergleichbarer Lage
sachfremd schlechter stellt. Bildet der Arbeitgeber Gruppen von begünstigten und
benachteiligten Arbeitnehmern, muss diese Gruppenbildung sachlichen Kriterien
entsprechen. Dabei kommt es darauf an, ob sich nach dem Zweck der Leistung Gründe
ergeben, die es unter Berücksichtigung aller Umstände rechtfertigen, der einen
Arbeitnehmergruppe Leistungen vorzuenthalten, die der anderen Gruppe eingeräumt
worden sind. Eine unterschiedliche Behandlung der Arbeitnehmer ist dann mit dem
Gleichbehandlungsgrundsatz vereinbar, wenn die Unterscheidung gerade nach dem
Zweck der Leistung gerechtfertigt ist (BAG 23.04.1997 10 AZR 603/96 EzA § 242 BGB
Gleichbehandlung Nr. 72; BAG 21.03.2001 10 AZR 444/00 a. a. O.). Ist dies nicht der
Fall, kann die übergangene Arbeitnehmergruppe verlangen, nach Maßgabe der
begünstigten Arbeitnehmergruppe behandelt zu werden (BAG 10.03.1998 1 AZR
509/97 EzA § 242 BGB Betriebliche Übung Nr. 40; BAG 21.03.2001 10 AZR 444/00 a.
a. O.).
60
b) Im Streitfall entsprach die von dem Beklagten bei der Ausübung seiner
Anrechnungsbefugnis gemäß § 3 Nr. 5 TV-S NW gebildete Gruppeneinteilung zwischen
Arbeitnehmern, auf die der TV-S NW und denjenigen, auf die der TV-S Bayern
anzuwenden ist, keinen sachlichen Kriterien. Das gilt insbesondere für den vom
Beklagten allein angeführten Gesichtspunkt, dass es ihm nach Nr. 9 Satz 2 TV-S Bayern
untersagt sei, die Anrechnung der Leistungsprämie auf die tarifliche Sondervergütung
vorzunehmen.
61
aa) Zunächst bestimmt Nr. 9 Satz 1 TV-S Bayern ausdrücklich, dass die dort beispielhaft
genannten Leistungen des Arbeitgebers als betriebliche Sonderzahlungen i. S. der Nr. 2
TV-S Bayern gelten und damit den tariflichen Anspruch erfüllen. Insofern handelt es sich
62
auch bei dieser Regelung, wie in § 3 Nr. 5 TV-S NW, um eine Anrechnungsklausel (vgl.
BAG 14.05.1975 - 5 AZR 197/74 - EzA § 611 BGB Gratifikation, Prämie Nr. 44; LAG
Berlin 29.09.1995
- 16 Sa 79/95 - LAGE § 611 BGB Gratifikation, Prämie Nr. 27 zu insoweit wortgleichen
anderen Tarifverträgen). Seinem Wortlaut nach handelt es sich in Nr. 9 Satz 1 TV-S
Bayern sogar um eine umfassendere Anrechnungsbestimmung als nach § 3 Nr. 5 TV-S
NW. Denn auch ohne eine gestaltende Willenserklärung, die nach § 3 Nr. 5 TV-S NW
für die Ausübung des Anrechnungsrechts notwendig ist (vgl. BAG 19.07.1983 3 AZR
250/81 AP Nr. 1 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen, zu I 2 a der Gründe), wird
durch die Zahlung der Leistungsprämie die tarifliche Sonderzahlung erfüllt.
63
bb) Allerdings folgt aus der Auslegung von Nr. 9 Satz 2 TV-S Bayern, wonach von der in
Nr. 9 Satz 2 TV-S Bayern geregelten Anrechnungsklausel hierfür vorhandene
betriebliche Systeme unberührt bleiben, dass die in Nr. 9 Satz 1 TV-S Bayern
vorgesehene automatische Anrechnung nicht zwingend ist.
64
(1.) Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages folgt nach ständiger
Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts den für die Auslegung von Gesetzen
geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der
maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei
nicht eindeutigem Tarifwortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu
berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat.
Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser
Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so der
Sinn und der Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden können. Lässt dies
zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, dann können die Gerichte für
Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die
Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages, gegebenenfalls auch die praktische
Tarifübung, ergänzend hinzuziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer
Auslegungsergebnisse gilt es zu berücksichtigen. Im Zweifel gebührt derjenigen
Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen sachgerechten, zweckorientierten
und praktisch brauchbaren Regelung führt (zuletzt wieder BAG 04.04.2001 - 4 AZR
180/00 -; BAG 04.04.2001 - 4 AZR 242/00 beide noch unveröff.).
65
(2.) Zunächst haben die Parteien des TV-S Bayern durch die in Nr. 9 Satz 1 dieses
Tarifvertrages enthaltene Anrechnungsklausel klargestellt, dass sie eine
Tariföffnungsklausel i. S. von § 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG schaffen wollten. Zwar regelt
diese Tarifbestimmung nicht wörtlich, dass sie den Abschluss einer ergänzenden
Betriebsvereinbarung zulassen will. Dieses Ziel kommt aber deutlich in ihr zum
Ausdruck (vgl. auch BAG 18.05.1994 - 10 AZR 125/93 - a.a.O.; Kasseler
Handbuch/Lipke, 2. Aufl. 2000, 2. 3. Rz. 100). Erkennbar wollten die Parteien des TV-S
Bayern mit diesem Tarifvertrag eine zusätzliche zur normalen , regelmäßigen Vergütung
hinzutretende Arbeitgeberleistung einführen. Mit Nr. 9 Satz 2 TV-S Bayern wird
klargestellt, dass insbesondere zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des TV-S Bayern schon
vorhandene betriebliche Systeme - z. B. Betriebsvereinbarungen, -, die betriebliche
Leistungen regeln, nicht geändert werden müssen. Die Anspruchsvoraussetzungen der
betrieblichen Leistungen können von denen des Tarifvertrages abweichen. Aber auch in
den Fällen, in denen ein Arbeitgeber ein neues betriebliches System für die Zahlung
von betrieblichen Leistungen einführt, braucht er sich hinsichtlich der
Anspruchsvoraussetzungen gemäß Nr. 9 Satz 2 TV-S Bayern nicht an diesem
66
Tarifvertrag zu orientieren. Gleichwohl können diese betrieblichen Leistungen, einmal
im Jahr gezahlt, nach Nr. 9 Satz 1 TV-S Bayern auf die tarifliche Sonderzahlung
angerechnet werden (vgl. Klischan, Kommentar zum Tarifvertrag über die tarifliche
Absicherung eines Teiles eines 13. Monatseinkommens vom 30.10.1976 nach dem
Stand vom 03.07.1984 in der Eisen-, Metall-, Elektro- und Zentralheizungsindustrie
Nordrhein-Westfalen, zu § 4 Anm. 5).
(3.) Bleiben nach der in Nr. 9 Satz 2 TV-S Bayern demnach enthaltenen
Tariföffnungsklausel vorhandene betriebliche Systeme , wie eine Betriebsvereinbarung,
in Bezug auf ihre inhaltliche Ausgestaltung unberührt, unterliegt eine
Arbeitgeberleistung i. S. von Nr. 9 Satz 1 TV-S Bayern nur dann der Anrechnung auf die
in Nr. 2 TV-S Bayern geregelte Sonderzahlung, wenn dies nach den die betriebliche
Leistung begründenden Vereinbarungen zulässig ist, wenn also die betriebliche
Leistung nicht tariffest ausgestaltet worden ist (BAG 18.05.1994 - 10 AZR 125/93 - EzA
§ 611 BGB Gratifikation, Prämie Nr. 112 unter Hinweis auf BAG 03.03.1993 - 10 AZR
42/92 - EzA § 611 BGB Gratifikation Prämie Nr. 101). Mit dieser Regelung bleibt es den
Betriebspartnern überlassen, die in einer Betriebsvereinbarung begründete
Sondervergütung tariffest zu gestalten und sie somit vor der in Nr. 9 Satz. 1 TV-S Bayern
vorgesehenen automatischen Anrechnung zu bewahren.
67
cc) Im Streitfall enthält die BV Leistungsprämien 1997 keinen Ausschluss der
Anrechnung der streitbefangenen Prämie auf die tarifliche Sonderzahlung. Entgegen
der Auffassung beider Parteien und der Vorinstanz war die vom Beklagten nicht in
Betracht gezogene Anrechnung der Leistungsprämie für 1999 auf die den
Arbeitnehmern, für die der TV-S Bayern gilt, gewährte tarifliche Sonderzahlung für das
genannte Bezugsjahr nicht durch Nr. 9 Satz 2 TV-S Bayern ausgeschlossen.
68
II. Das Zinsverlangen der Kläger ist gemäß § 288 Abs. 1 Satz 1 BGB gerechtfertigt. Der
Beklagte ist mit der Zahlung von DM 1.415 brutto an jeden Kläger seit dem 01.05.2000
in Verzug gemäß § 284 Abs. 1 Satz 1 BGB. Eine Mahnung war nach § 284 Abs. 2 Satz
1 BGB entbehrlich, da die BV Leistungsprämien 1997 in Ziffer 1.4 Satz 2 für die Leistung
der Prämie eine Zeit nach dem Kalender vorsieht. Die Auszahlung der Prämie für ein
Bezugsjahr soll danach mit der Aprilabrechnung des Folgejahres, d. h. am 30.04. des
betreffenden Jahres (vgl. § 614 Satz 2 BGB) erfolgen.
69
III. Auch die negative Feststellungsklage aller Kläger ist entgegen der Auffassung der
Vorinstanz erfolgreich.
70
1. Das Feststellungsbegehren der Kläger ist gemäß § 256 Abs. 1 ZPO, der nach § 46
Abs. 2 Satz 1 ArbGG auf das arbeitsgerichtliche Urteilsverfahren Anwendung findet,
zulässig.
71
a) Das von § 256 Abs. 1 ZPO geforderte Rechtsverhältnis, das Gegenstand einer
Feststellungsklage ist, ist dann gegeben, wenn zwischen mehreren Personen oder
zwischen Personen und Sachen rechtliche Beziehungen bestehen BAG 24.06.1999 - 6
AZR 605/97 - AP Nr. 5 zu § 611 BGB Nebentätigkeit; BAG 05.10.2000 - 1 ABR 52/99 -
EzA § 256 ZPO Nr. 54). Die Feststellungsklage muss sich nicht notwendig auf das
Rechtsverhältnis im Ganzen erstrecken. Sie kann auch einzelne Beziehungen oder
Folgen aus einem Rechtsverhältnis betreffen, wie bestimmte Ansprüche oder
Verpflichtungen oder den Umfang der Leistungspflicht (BAG, 16.09.1998 - 5 AZR 183/97
- AP Nr. 2 zu § 24 BAT-O; BAG 30.09.1998 - 5 AZR 18/98 - EzA § 2 BeschFG 1985 Nr.
72
58).
b) Der mit dem Grundsatz der Prozesswirtschaftlichkeit begründete Vorrang der
Leistungsklage (vgl. BAG 10.04.1957 - 4 AZR 384/54 - AP Nr. 6 zu § 256 ZPO; BAG
12.10.1961 - 5 AZR 294/60 - AP Nr. 83 zu § 611 BGB Urlaubsrecht) steht der Annahme
eines Feststellungsinteresses der Kläger nicht entgegen. Zwar hätten diese im Zeitpunkt
der Einreichung der Feststellungsklage beim Arbeitsgericht am 22.12.2000 die Zahlung
der erst im April 2001 fälligen Prämie für 2000 - sofern man Ziff. 1.4 Satz 2 BV
Leistungsprämien 1997 zu Grunde legt - als künftige Leistung nach § 259 ZPO
einklagen können. Die Möglichkeit einer solchen Klage steht der Erhebung einer
Feststellungsklage jedoch nicht entgegen. Wie sich aus dem Wort kann in § 259 ZPO
ergibt, steht den Klägern ein Wahlrecht zu (vgl. BGH 07.02.1986 - V ZR 201/84 - NJW
1986, 2507; BAG 29.10.1997 - 5 AZR 573/96 - EzA § 611 BGB Direktionsrecht Nr. 19).
73
c) Die Kläger haben auch ein rechtliches Interesse an einer alsbaldigen gerichtlichen
Feststellung, dass der Beklagte auch hinsichtlich der Prämie für 2000 nicht berechtigt
ist, diese auf die tarifliche Sondervergütung anzurechnen.
74
Das von § 256 Abs. 1 ZPO geforderte rechtliche Interesse an einer alsbaldigen
gerichtlichen Feststellung besteht, wenn dem von den Klägern geltend gemachten
Recht (hier: Anspruch auf Prämienzahlung aufgrund einer Betriebsvereinbarung) eine
gegenwärtige Gefahr oder Unsicherheit droht und das von ihnen erstrebte Urteil infolge
seiner Rechtskraft geeignet ist, diese Gefahr zu beseitigen (vgl. BAG 02.12.1999 - 8
AZR 796/98 - EzA § 613 a BGB Nr. 188). Der Beklagte ist dem Anspruch der Kläger auf
ungekürzte Auszahlung der Leistungsprämie für 2000 mit dem Hinweis auf seine
Anrechnungsbefugnis entgegengetreten. Das Feststellungsurteil ist demgemäß
geeignet, das Bestehen bzw. Nichtbestehen dieses Anspruchs endgültig zu klären.
75
2. Das Feststellungsbegehren der Kläger ist zumindest gemäß dem arbeitsrechtlichen
Gleichbehandlungsgrundsatz begründet.
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Zwar ist die Rechtsgrundlage der Leistungsprämie für 2000 nicht klar erkennbar,
nachdem die BV Leistungsprämien 1997 gemäß ihrer Ziff. 5 bis zum 31.12.1999 ohne
Nachwirkung befristet war. Jedoch ergibt sich aus dem Schreiben des Beklagten an die
Kläger vom 07.04.2000 und aus seiner Berufungserwiderung, dass auch für die
Leistungsprämie für 2000, zahlbar im Jahre 2001, eine entsprechende
Betriebsvereinbarung zur Anwendung kommt. Da weiterhin dem letzten Absatz des
Schreibens des Beklagten vom 07.04.2000 zu entnehmen ist, dass auch die
Leistungsprämie für das Jahr 2000 nicht auf die Sonderzahlung angerechnet wird, die
den dem TV-S Bayern unterliegenden Arbeitnehmern gemäß Nr. 2 TV-S Bayern für
2000 zusteht, bleibt es auch in diesem Bezugsjahr bei der sachlich nicht gerechtfertigten
Ungleichbehandlung zwischen Arbeitnehmern, für die der TV-S NW gilt, und
denjenigen, auf deren Arbeitsverhältnis der TV-S Bayern zur Anwendung kommt. Diese
sachwidrige Ungleichbehandlung ist dadurch zu beseitigen, dass dem Beklagten die
Berechtigung der Anrechnung der Leistungsprämie für 2000 auf die tarifliche
Sondervergütung zu versagen ist.
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C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO i. V. m. § 64 Abs. 6 Satz 1
ArbGG.
78
D. Die Kammer hat der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung zugemessen und
79
deshalb die Revision an das Bundesarbeitsgericht zugelassen (§ 72 Abs. 2 Nr. 1
ArbGG).
RECHTSMITTELBELEHRUNG:
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Gegen dieses Urteil kann von dem Beklagten
81
REVISION
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eingelegt werden.
83
Für die Kläger ist gegen dieses Urteil kein Rechtsmittel gegeben.
84
Die Revision muss
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innerhalb einer Notfrist von einem Monat
86
nach der Zustellung dieses Urteils schriftlich beim
87
Bundesarbeitsgericht,
88
Hugo-Preuß-Platz 1,
89
99084 Erfurt,
90
eingelegt werden.
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Die Revision ist gleichzeitig oder
92
innerhalb eines Monats nach ihrer Einlegung
93
schriftlich zu begründen.
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Die Revisionsschrift und die Revisionsbegründung müssen von einem bei einem
deutschen Gericht zugelassenen Rechtsanwalt unterzeichnet sein.
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gez.: Dr. Vossen gez.: Ollesch gez.: Faber
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