Urteil des LAG Düsseldorf vom 19.01.1997

LArbG Düsseldorf (nachtarbeit, ausgleich, arbeitnehmer, vergütung, arbeitszeit, fahrer, freiwillige leistung, abwesenheit, arbeit, nacht)

Landesarbeitsgericht Düsseldorf, 12 TaBV 97/96
Datum:
19.01.1997
Gericht:
Landesarbeitsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
12. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
12 TaBV 97/96
Vorinstanz:
Arbeitsgericht Wesel, 2 BV 30/97
Schlagworte:
Zuständigkeit der Einigungsstelle über die Einführung von
Nachtarbeitszuschlägen gemäß § 6 Abs. 5 ArbZG - Begriff der
tarifvertraglichen Ausgleichsregelung -
Normen:
§ 6 Abs. 5 ArbZG,§ 87 Abs. 1 Nr. 10BetrVG, BMTV-Güterfernverkehr
Sachgebiet:
Arbeitsrecht
Leitsätze:
Inhaltsangabe:Im Betrieb der Arbeitgeberin gilt der BMTV-
Güterfernverkehr, der für Nacht arbeit weder Vergü tungszuschläge noch
entsprechenden Freizeitausgleich vorsieht. Der Betriebsrat strebt eine
Aus gleichsregelung gemäß § 6 Abs. 5 ArbZG an und hat deshalb die
Einigungsstelle angerufen. Die Arbeitgeberin will im vorliegenden
Verfahren die Unzuständigkeit der Einigungsstelle fest gestellt
wissen.Leitsatz:Eine tarifvertragliche Ausgleichsregelung im Sinne von
§ 6 Abs. 5 ArbZG kann auch dann vorlie gen, wenn zwar keine
Vergütungszuschläge bzw. kein Freizeitausgleich für geleistete
Nachtarbeit vorgesehen ist, jedoch sich aus dem Tarifwerk ergibt, daß
nach der erkennbaren Vorstellung der Tarifver tragsparteien durch die
Gewährung anderer Leistungen und Vergünstigun gen auch die durch
typischerweise geleistete Nachtarbeit verursachte Bela stung
ausgeglichen werden soll.
Tenor:
Der Beschluß des Arbeitsgerichts Wesel vom 29.10.1996 wird
abgeändert:
Es wird festgestellt, daß die Einigungsstelle über eine
Ausgleichsregelung für Nachtarbeit gemäß § 6 Abs. 5 ArbZG nicht
zuständig ist.
Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
G R Ü N D E :
1
2
A.
3
A.
3
4
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Arbeitgeberin in einer mitbestimmten
Regelung ihren Fernfahrern für die während der Nachtzeit geleisteten
Arbeitsstunden Vergütungszuschläge oder bezahlten Freizeitausgleich zu
gewähren hat. Die Arbeitgeberin reklamiert die Unzuständigkeit der errichteten
Einigungsstelle.
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Die Arbeitgeberin (Beteiligte zu 1) befaßt sich überwiegend mit dem Transport von
Tiefkühlprodukten im Güterfernverkehr. Von ihrem Betrieb in Straelen/Ndrh. aus
werden die mit einem Fahrer besetzten Lastkraftwagen bundesweit eingesetzt. Die
Fahrten werden auch während der Nachtzeit durchgeführt.
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Die Arbeitgeberin ist Mitglied im Verband des Güterfernverkehrsgewerbes
Nordrhein. Aufgrund vertraglicher Einheitsregelung bringt sie den
Bundesmanteltarifvertrag für den Güter- und Möbelfernverkehr vom 14.07.1988
(nachfolgend: BMTV) in Anwendung. Der BMTV befindet sich seit 1992 in der
Nachwirkung.
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Nachdem die Arbeitgeberin sich dem Verlangen des Betriebsrates (Beteiligter zu 2),
gemäß § 6 Abs. 5 ArbZG den Ausgleich der Nachtarbeit zu regeln, widersetzte,
bestellte das Arbeitsgericht Wesel mit Beschluß vom 06.11.1995 auf Antrag des
Betriebsrates den Vorsitzenden der Einigungsstelle. Die Beschwerde der
Arbeitgeberin wies das Landesarbeitsgericht Düsseldorf mit Beschluß vom
27.02.1996 zurück.
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Die Arbeitgeberin ist der Auffassung, daß die Einigungsstelle unzuständig sei. Der
BMTV sehe zwar keinen speziellen Ausgleich für Nachtarbeit vor, deren Leistung
berufstypisch für die Tätigkeit eines Fernfahrers sei. Indessen stellten
Tarifregelungen wie die Gewährung zusätzlicher bezahlter Urlaubstage (§ 16),
eines unbezahlten freien Tages (§ 10), die Vergütung der Arbeitsbereitschaft und
der Kabinenzeit als Arbeitszeit (§ 14) einen Ausgleich für die von einem Fernfahrer
erwartete Nachtarbeit dar. Im übrigen sei - so meint die Arbeitgeberin - die
Einigungsstelle auch deshalb unzuständig, weil § 6 Abs. 5 ArbZG
individualvertragliche Ansprüche begründe und mangels kollektiven
Regelungstatbestandes kein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates bestehe.
9
Der Betriebsrat hält entgegen, daß der BMTV weder eine Regelung über
Nachtarbeit enthalte noch hierfür einen Ausgleich vorsehe. Daher könne sich die
Arbeitgeberin nicht unter Hinweis auf den Tarifvorbehalt des § 6 Abs. 5 ArbZG ihrer
Verpflichtung zur Gewährung eines Nachtarbeitsausgleichs entziehen.
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Das Arbeitsgericht hat durch Beschluß vom 29.10.1996 die Anträge der
Arbeitgeberin zurückgewiesen. Mit der form- und fristgerecht eingelegten und
begründeten Beschwerde greift die Arbeitgeberin den Beschluß, auf den hiermit zur
weiteren Darstellung des Sach- und Streitstandes verwiesen wird, in rechtlicher
Hinsicht an. Sie beantragt,
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unter Abänderung des Beschlusses des Arbeitsgerichts Wesel vom 29.10.1996
festzustellen, daß die Einigungsstelle über eine Ausgleichsregelung für
12
Nachtarbeit gemäß § 6 Abs. 5 ArbZG nicht zuständig ist.
13
Der Betriebsrat beantragt,
14
die Beschwerde zurückzuweisen.
15
16
Er verteidigt den angefochtenen Beschluß mit Rechtsausführungen.
17
B.
18
19
Die Beschwerde der Arbeitgeberin ist begründet. Die angerufene Einigungsstelle ist
nicht zuständig, eine Ausgleichsregelung für Nachtarbeit gemäß § 6 Abs. 5 ArbZG
einzuführen.
20
I.
21
22
Zwar sieht der BMTV für Nachtarbeit weder einen Anspruch auf Lohnzuschläge
noch auf bezahlten Freizeitausgleich entsprechend der zur Nacht geleisteten
Arbeitsstunden vor. Nachtarbeit wird im BMTV überhaupt nicht angesprochen.
Indessen kommt in dem Regelungssystem des BMTV der Wille der
Tarifvertragsparteien erkennbar zum Ausdruck, daß insbesondere durch die
Vergütung der Arbeitszeit und die Gewährung von unbezahlten freien Tagen sowie
bezahlten Zusatzurlaubstagen auch die Erschwernisse der Nachtarbeit
ausgeglichen werden sollen.
23
1. Der BMTV enthält, soweit hier von Interesse, folgende Bestimmungen:
24
§ 2
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Arbeitszeit
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Die Arbeitszeit umfaßt die Zeiten des reinen Dienstes am Steuer (Lenkzeit), der
Be- und Entladearbeiten, Reparaturarbeiten, Vor- und Abschlußarbeiten,
sonstigen Arbeiten sowie die Arbeitsbereitschaftszeiten.
27
§ 3
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Höchstzulässige Zeiten
29
(1) ...
30
(2) Zu der in Absatz 1 vereinbarten Arbeitszeit können
31
a) in der Doppelwoche 34 Stunden Kabinenzeit
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oder
33
b) im Kalendermonat 74 Stunden Kabinenzeit hinzutreten.
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(3) Ist das Fahrzeug nur mit einem Fahrer besetzt oder ist das Fahrzeug nicht
mit einer Schlafkabine oder einer gleichwertigen Einrichtung im Führerhaus
ausgestattet, so entfällt die in Absatz (2) genannte Kabinenzeit.
35
§ 10
36
Freizeit
37
...
38
(4) Auf Verlangen des Arbeitnehmers ist diesem grundsätzlich ein freier
unbezahlter Tag pro Monat zu gewähren.
39
§ 12
40
Mehrarbeit
41
...
42
§ 13
43
Sonn- und Feiertagsarbeit
44
...
45
§ 14
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Entlohnung
47
(1) Die Arbeitnehmer erhalten bezirklich vereinbarte, zeitlich gestaffelte Löhne.
Die jeweils maßgebende Staffelzeit einschließlich Kabinenzeit ist voll zu
bezahlen. Die vereinbarten Löhne sind Mindestlöhne und unabdingbar.
48
(2) Mitglieder des Fahrpersonals dürfen als Arbeitnehmer nicht nach den
zurückgelegten Fahrstrecken oder der Menge der beförderten Güter entlohnt
werden, auch nicht in Form von Prämien oder Zuschlägen für diese
Fahrstrecken oder Gütermengen...
49
...
50
§ 15
51
Spesen
52
...
53
(2) Kraftfahrer und Beifahrer im Fernverkehr erhalten für die Zeit, in der sie vom
Sitz des Betriebes oder vom Standort des Fahrzeugen abwesend sind, folgende
Spesensätze:
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Bei einer Abwesenheit von über 5 - 7 Stunden DM 10,30
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bei einer Abwesenheit von über 7 - 12 Stunden DM 16,50
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bei einer Abwesenheit von über 12 - 18 Stunden DM 28,00
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bei einer Abwesenheit von über 18 Stunden DM 32,50.
58
...
59
(3) Als Reisetag ist jeweils der einzelne Kalendertag anzusehen. Dauert die
Abwesenheit länger als 1 Kalendertag, so sind ab der 5. Stunde des neuen
Kalendertages erneut Spesen nach den vorstehenden Sätzen zu zahlen.
Erstreckt sich die Abwesenheit auf 2 Kalendertage, ohne daß eine
Übernachtung stattfindet ...
60
§ 16
61
Urlaub
62
...
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(5) Der Urlaubsanspruch entfällt bei verschuldeter fristloser Entlassung oder
unberechtigter Auflösung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitnehmer,
soweit er 1,5 Werktage für jeden vollen Beschäftigungsmonat überschreitet.
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(6) Die Dauer des Urlaubs richtet sich nach den bezirklichen Tarifverträgen.
Nach einer ununterbrochenen Betriebszugehörigkeit von 6 Monaten wird ein
Zusatzurlaub von 2 Tagen, nach einer ununterbrochenen Betriebszugehörigkeit
von 6 Jahren ein Zusatzurlaub von 3 weiteren Tagen gewährt.
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Der Bezirksmanteltarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer im privaten
Güterverkehrsgewerbe Nordrhein-Westfalen vom 15.06.1994 bestimmt u. a.
folgendes:
66
§ 3
67
Vergütung für Mehrarbeit, Ein- und Ausfahrzeit, Nachtarbeit, Sonn- und
Feiertagsarbeit und Schmutzarbeit.
68
...
69
3. Nachtarbeit
70
Nachtarbeit in der Zeit von 21.00 Uhr bis 05.00 Uhr, soweit sie nicht regelmäßig
oder sofern sie als Mehrarbeit geleistet wird, wird je Stunde mit 1/39 des
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tariflichen Wochenlohns und einem Zuschlag von 50 % vergütet. Der Zuschlag
beträgt bei regelmäßiger Nachtschicht 20 %.
Nachtzuschläge entfallen für die Fahrer und Beifahrer im Güterfernverkehr und
Möbelfernverkehr.
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§ 6
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Entlohnung
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1. Die Arbeit kann vom Arbeitgeber nach Bedarf im Zeitlohn oder im
Leistungslohn (Akkord- oder Prämienlohn) vergeben werden; die gesetzlichen
Vorschriften sind dabei zu beachten.
75
...
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3. Die Entlohnung der Arbeitnehmer erfolgt entsprechend ihrer Tätigkeit nach
Lohngruppen, die im Lohntarifvertrag vereinbart werden.
77
§ 16
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Schlußbestimmungen
79
1. Die Bestimmungen dieses Tarifvertrages, soweit sie überwiegend im Güter-
und Möbelfernverkehr beschäftigte Kraftfahrer und Beifahrer betreffen, sind für
die Dauer der Geltung des Bundes-Manteltarifvertrages für den Güter- und
Möbelfernverkehr - BMT-Fernverkehr - in der jeweils gültigen Fassung
suspendiert, ausgenommen die Bestimmungen des § 3 Ziffer 1 c, § 9 Ziffern 8
bis 10, § 10.
80
...
81
Der in Nordrhein-Westfalen geltende Lohntarifvertrag erklärt die
Lohngruppeneinteilung und (Wochen-)Lohnsätze für die Entlohnung der Kraftfahrer
im Güterfernverkehr für anwendbar (§ 3 Nr. 3).
82
Die Angestellten im privaten Güterverkehrsgewerbe Nordrhein-Westfalen erhalten
nach § 5 Nr. 2 des Rahmentarifvertrages vom 15.06.1994 für Nachtarbeit einen
Zuschlag von 50 % je Stunde, bei regelmäßiger Schichtarbeit einen Nachtzuschlag
von 20 %.
83
2. a) Für Fahrer, die im Güterfernverkehr eingesetzt sind, ist die Leistung von
Nachtarbeit typisch. Fernverkehr findet auch zur Nachtzeit statt. Der Spediteur bzw.
Frachtfuhrunternehmer unterliegt gewöhnlich zeitlichen Vorgaben seines
Auftraggebers hinsichtlich des Zeitpunktes der Be- und der Entladung und der
Transportdauer. Diese Vorgaben, z. B. das Frachtgut in den frühen Morgenstunden
auszuliefern, bedingen die Durchführung des Transportes (auch) zur Nachtzeit.
Dabei gehört es zu den Üblichkeiten der Branche, daß an Sonn- und Feiertagen
Lastkraftwagen schon nach 22.00 Uhr ausrücken bzw. am Vortag bis 0.00 Uhr
zurückkehren (vgl. § 30 Abs. 3 StVO).
84
Den Tarifvertragsparteien sind die branchenüblichen Verhältnisse und die sich
hieraus ergebende Lage der Arbeitszeit der Beschäftigten geläufig. Dies gilt gerade
auch für den Güterfernverkehr, wie die Bestimmungen des BMTV zu den
(höchstzulässigen) Arbeitszeiten, Liegezeiten, Ruhezeiten und Arbeitsschichten (§§
3 bis 5, 7 bis 9) und die Spesenregelung (§ 15 Abs. 2, Abs. 3) bestätigen. Diese
Regelungen haben zum Ausgangspunkt, daß Fahrzeuge für weite Touren Tag und
Nacht eingesetzt sein und damit Arbeitszeiten i. S. v. § 2 BMTV auch in der Nacht
liegen können.
85
b) Es gehört zum (Mindest-) Standard von Tarifregelungen, für Mehrarbeit oder
ungünstige Arbeitszeiten (Sonn- und Feiertag, Nachtarbeit, Spätschicht) einen
zusätzlichen Ausgleich vorzusehen. Gewöhnlich erfolgt der Ausgleich in Form von
Lohnzuschlägen und/oder bezahlter Freizeit. Die Tarifvertragsparteien sind auf
diese Formen der Ausgleichung nicht beschränkt, sondern können - im Rahmen des
ihnen zustehenden weiten Gestaltungsspielraums gerade im Bereich der Vergütung
und sonstigen materiellen Arbeitsbedingungen - den Ausgleich (hier: für die
Erschwernisse der Nachtarbeit) auch in anderer Weise herstellen. Dabei ist es den
Gerichten für Arbeitssachen grundsätzlich verwehrt, die Tarifregelungen auf ihre
Billigkeit und Angemessenheit (§ 242 BGB) zu überprüfen. Für Tarifverträge gilt -
kraft der Sachkunde und Gleichgewichtigkeit der Tarifpartner - insoweit eine
materielle Richtigkeitsgewähr.
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Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, daß die Tarifvertragsparteien des privaten
Güterverkehrsgewerbes entgegen der allgemeinen Üblichkeit Nachtarbeit nicht als
Erschwernis angesehen oder dieses Erschwernis zwar anerkannt, aber für nicht
ausgleichsbedürftig gehalten haben. Die in den bezirklichen Tarifverträgen erfolgte
Festsetzung von Nachtzuschlägen für gewerbliche Arbeitnehmer und für
Angestellte, die in Betrieben des Güternahverkehrs, Fuhrgewerbes,
Möbeltransports,
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in Speditionen und Lagereien tätig sind, begründet die Annahme, daß die
Tarifvertragsparteien ebenso die von Kraftfahrern und Beifahrern im Fernverkehr
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abgeforderte Nachtarbeit als ausgleichsbedürftiges Erschwernis angesehen haben.
Es gibt keinen einleuchtenden Grund, den Tarifvertragsparteien eine gegenteilige
Vorstellung zu unterstellen. So macht es - bezogen auf die Erschwernisse der
Nachtarbeit - keinen signifikanten Unterschied, ob der Fahrer im Nahverkehr oder
Fernverkehr eingesetzt ist.
89
Ist aber davon auszugehen, daß die Tarifvertragsparteien wissen, daß im
Fernverkehr typischerweise Nachtarbeit geleistet wird, und daß sie für die
Nachtarbeit einen Ausgleichsbedarf anerkennen, besteht eine Vermutung dafür, daß
mit den im Tarifwerk festgelegten Arbeitsbedingungen auch die Erschwernisse der
Nachtarbeit ausgeglichen werden. Anders mögen die Dinge liegen in Branchen, in
denen Nachtarbeit unüblich ist und also dort die Tarifvertragsparteien keinen
Regelungsbedarf sehen. Ebenso wird die Vermutung, daß die tariflich vereinbarten
Arbeitsbedingungen keinen Ausgleich für die Nachtarbeitserschwernisse
implizieren, in den Fällen ausgeräumt, in denen sich die Tarifvertragsparteien über
den Ausgleich nicht verständigen konnten und in ihrem Regelungswerk eine
bewußte Tariflücke ließen. Letzteres kann freilich für den BMTV nicht unterstellt
werden. Daß die Gewerkschaft in den Tarifverhandlungen die Forderung nach
90
einem Nachtzuschlag erhob, damit jedoch nicht durchdrang, rechtfertigt nicht den
Schluß auf eine bewußte Tariflücke, sondern bedeutet lediglich, daß die tariflich
vereinbarten Arbeitsbedingungen zwar hinter ihren Wünschen zurücklagen, aber in
der Gesamtschau, d. h. unter Berücksichtigung anderer Leistungen und Vorteile für
die Arbeitnehmer, akzeptabel waren und auch als genügender Ausgleich für die
typischerweise geleistete Nachtarbeit angesehen wurden. Unter diesem Aspekt ist
insbesondere den Regelungen über die Entlohnung (§ 14 Abs. 1 Satz 1, 2 i. V. m. §
2, § 3 Abs. 2, 3, § 7 Abs. 2 bis 5 BMTV) einschließlich des garantierten Zeitlohns (§
14 Abs. 2 BMTV) über den freien unbezahlten Tag pro Monat (§ 10 Abs. 4 BMTV)
und über den Zusatzurlaub (§ 16 Abs. 6 BMTV), eine Ausgleichsfunktion auch für
etwaige
Nachtarbeit zu entnehmen. Der mehrtägige, auch zur Nachtzeit erforderliche
Arbeitseinsatz, den die Arbeitszeit- und Vergütungsregelungen erfassen, wird auch
in der tariflichen Spesenregelung (§ 15 BMTV) anerkannt. Der Hinweis in § 3
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Nr. 3 Satz 3 BezMTV, daß Nachtzuschläge für Fahrer und Beifahrer im
Güterfernverkehr entfallen, bestätigt hiernach den Befund, daß nach der
erkennbaren Vorstellung dieser Tarifvertragsparteien der sonst durch
Vergütungszuschlag gewährte Nachtarbeitsausgleich für die Fernfahrer durch
Gewährung anderer Vergünstigungen bezweckt wird.
92
3. Das Arbeitsgericht hat die Vergütung der Kabinenzeit nicht als Ausgleich (auch)
für Nachtarbeitserschwernisse gewertet, sondern als Ausgleich für die längere
Abwesenheit von zu Hause und für die Unbequemlichkeit des Ausruhens bzw.
Schlafens im Fahrzeug, und für seine Auffassung damit argumentiert, daß die
Kabinenzeit auch tagsüber anfallen könne, dann also nichts über die Vergütung von
Nacht -Arbeit besagt, und daß, soweit der Fahrer nachts in der Kabine schlafe und
nicht arbeite, mit der Vergütung der Kabinenzeit auch nicht Nacht- Arbeit
ausgeglichen werde. Dieser Argumentation vermag die Kammer nicht
beizupflichten. Der Grundregel Ohne Arbeit kein Lohn entspricht die Üblichkeit im
Arbeitsleben, daß bloße, auch dienstlich bedingte Abwesenheitszeiten von zu
Hause nicht vergütet werden. Dies gilt für Wegezeiten zwischen Wohnung und
Betrieb ebenso wie für den Aufenthalt an einem auswärtigen Dienstort außerhalb
der eigentlichen Arbeitszeit, z. B. bei Montagen, Messen, Kundenbesuchen, in der
Schiffahrt oder Luftfahrt. Auch wenn der Aufenthalt mit Unbequemlichkeiten und
persönlichen Einschränkungen verbunden ist, ist eine gar volle Vergütung der
bloßen Aufenthaltszeit gänzlich unüblich. Von einem Arbeitnehmer, der eine solche
aushäusige Tätigkeit übernimmt, wird erwartet, daß er die Unbequemlichkeiten des
auswärtigen Aufenthalts hinnimmt. Das gilt gerade auch für die Tätigkeit der
Fernfahrer.
93
Daher ist die volle Bezahlung der Kabinenzeit nicht (nur) Äquivalent für die
Abwesenheit von zu Hause und die Unbequemlichkeit in der Schlafkabine, sondern
Äquivalent auch für andere tätigkeitsbedingte Belastungen und Erschwernisse. Der
im Arbeitsleben normale Rhythmus - Arbeit während der Tageszeit, im übrigen
Ausruhen, Ausschlafen, Freizeit - ist im Fernverkehr nicht oder nur begrenzt
durchzuhalten. Dort wird der Arbeitsrhythmus bestimmt durch den Fahrauftrag und
die mit seiner Durchführung verbundenen Arbeitsanforderungen, unregelmäßige
und z. T. unvorhersehbare Arbeitseinsatzzeiten und eben die Notwendigkeit, auch
nachts zu arbeiten. Diese Erschwernisse sollen ausgeglichen werden. Dabei dient
94
die Kabinenzeit als Anknüpfungspunkt, weil für diese Zeit - auch ohne Arbeit oder
Arbeitsbereitschaft - der Arbeitnehmer keine Möglichkeit zur freien Gestaltung der
Freizeit hat. Kabinenzeiten fallen typischerweise bei längeren Fahrten, wenn Tag
und Nacht durchgefahren wird, an. Daher bezweckt die Vergütung der Kabinenzeit
mittelbar auch den Ausgleich der Erschwernisse der Nachtarbeit.
Auch die Erwägung des Arbeitsgerichts, daß die Gewährung von unbezahlten
Tagen (§ 10 Abs. 4 BMTV) keinen Ausgleich darstelle, weil nur durch bezahlte Tage
der Erschwernis der Nachtarbeit Rechnung getragen werden könne, erscheint nicht
zwingend. Wenn man zum Ansatzpunkt nimmt, daß es der freien Gestaltung der
Tarifvertragsparteien unterliegt, wie sie den Nachtarbeitsausgleich regeln, läuft die
Beanstandung der Regelung, daß der Arbeitgeber auf Wunsch des Arbeitnehmers
einen unbezahlten freien Tag zu gewähren hat, auf eine unzulässige
Angemessenheitskontrolle hinaus. Die Annahme, daß der Gesetzgeber in § 6 Abs.
5 ArbZG einen (tariflichen) Ausgleich durch bezahlte Tage fordere, unterstellt die
gesetzgeberische Absicht, in bestehende, austarierte Tarifwerke einzugreifen und
unzulängliche Ausgleichsregelungen zu kassieren. Diese Absicht hat, wie noch
auszuführen sein wird, nicht bestanden.
95
Der Zusatzurlaub (§ 16 Abs. 6 BMTV) wird - wie das Arbeitsgericht zu Recht erkannt
hat - wegen der längeren Heimabwesenheit des Fernfahrers gewährt. Indessen ist
die einsatzbedingte Heimabwesenheit gekennzeichnet durch Arbeit am Tage und in
der Nacht. Daher ist der Zusatzurlaub auch ein Ausgleich für die vom Fernfahrer
erwartete Nachtarbeit. Die weitere Überlegung des Arbeitsgerichts, daß der nach §
16 Abs. 5 BMTV mögliche Verfall des Zusatzurlaubs dem Ausgleichszweck des § 6
Abs. 5 ArbZG widerspreche, greift nach Auffassung der Kammer zu kurz. Die
Intention, mit dem Zusatzurlaub einen Ausgleich (auch) für Nachtarbeit zu
gewähren, entfällt nicht deshalb, weil der Arbeitnehmer in § 16 Abs. 5 BMTV für
gravierendes vertragswidriges Verhalten mit dem Verfall tariflicher
Urlaubsansprüche bestraft werden soll. Im übrigen bestehen gegen die Zulässigkeit
der Urlaubsverfallsregelung (vgl. § 7 Abs. 4 Satz 2 BUrlG a. F.) erhebliche
verfassungsrechtliche Bedenken. Die Tarifvertragsparteien sind an den
Gleichheitssatz (Artikel 3 Abs. 1 GG) gebunden. Eine Regelung, die in ihrem
Wortlaut eine ungleiche Behandlung vermeidet und ihren Geltungsbereich abstrakt-
allgemein umschreibt, widerspricht dem Gleichheitssatz, wenn sich aus ihrer
praktischen Anwendung eine offenbare Ungleichheit ergibt und diese ungleiche
Auswirkung gerade auf die rechtliche Gestaltung zurückzuführen ist (vgl. BVerfG,
Beschluß vom 28.09.1992, AP Nr. 31 zu Art. 119 EWG-Vertrag, zu II 2 b aa). § 6
Abs. 5 BMTV erzeugt praktische Ungleichbehandlungen, denn während der
Arbeitnehmer, der den Zusatzurlaub bereits genommen hat, nicht betroffen wird,
wird - bei ansonsten gleichem Sachverhalt - sein Kollege, dem bisher der
Zusatzurlaub nicht gewährt worden war, durch § 16 Abs. 5 BMTV bestraft. Für diese
unterschiedliche Behandlung gibt es keine sachlich vertretbare Begründung.
96
Schließlich beinhaltet die Vergütung bloßer Arbeitsbereitschaftszeiten (§ 2 BMTV)
einen Ausgleich für Nachtarbeit. Sicherlich kann, wie das Arbeitsgericht richtig
festgestellt hat, Arbeitsbereitschaft auch tagsüber eintreten. Im Fernverkehr kann sie
typischerweise aber auch nachts eintreten.
97
Es ist nicht zu verkennen, daß die tariflich unterschiedliche Behandlung von
Güterfernverkehr und Güternahverkehr zu vergütungs- und spesenrechtlichen
98
Ungereimtheiten führen kann (vgl. BAG, Urteil vom 10.05.1994, 3 AZR 721/93, zu II
2 d). Daher kann es sein, daß - bei ansonsten gleicher Lage und Dauer der
Arbeitszeit - der Fahrer, der überwiegend im Fernverkehr eingesetzt ist und deshalb
keine Nachtzuschläge erhält, vergütungsmäßig schlechter gestellt ist als der im
Güternahverkehr tätige Fahrer. Dies muß als unvermeidliche Folge der Typisierung
nach Arbeitnehmergruppen hingenommen werden.
II.
99
100
Der im BMTV enthaltene (mittelbare) Ausgleich für Nachtarbeit schließt das
Entstehen von Ansprüchen auf Lohnzuschläge oder bezahlten Freizeitausgleich
nach § 6 Abs. 5 ArbZG aus.
101
Die Gesetzesbestimmung lautet wörtlich:
102
Soweit keine tarifvertraglichen Ausgleichsregelungen bestehen, hat der
Arbeitgeber dem Nachtarbeitnehmer für die während der Nachtzeit geleisteten
Arbeitsstunden eine angemessene Zahl bezahlter freier Tage oder einen
angemessenen Zuschlag auf das ihm hierfür zustehende Bruttoarbeitsentgelt zu
gewähren.
103
1. Der Wortlautauslegung werden durch die untechnische Gesetzesformulierung
Grenzen gezogen. Für die Geltung des Tarifvorbehalts kann es der Sache nach
nicht darauf ankommen, ob tarifvertragliche Regelungen bestehen , sondern ob sie
auf die jeweiligen Arbeitsverhältnisse Anwendung finden. Der Begriff der
104
Ausgleichsregelung ist weder im Arbeitszeitgesetz noch anderswo definiert,
sondern ist eine gesetzgeberische Innovation. Die fehlende Präzisierung dessen,
was als Ausgleich anzusehen ist, legt die Auslegung nahe, daß es erforderlich, aber
auch ausreichend ist, daß Tarifregelungen in irgendeiner Form eine Kompensation
für Nachtarbeit vorsehen, hingegen sich nicht spezifisch zur Nachtarbeit verhalten
und hierfür etwa Lohnzuschläge oder bezahlte Freizeit vorsehen müssen. Die
Absenz einer tariflichen Ausgleichsregelung löst zwar die Verpflichtung des
Arbeitgebers aus, dem Nachtarbeitnehmer in angemessenem Umfang bezahlte
Freizeit oder Lohnzuschläge zu gewähren; ein derart unmittelbares Junktim braucht
der tarifvertragliche Ausgleich jedoch nicht zu enthalten.
105
2. Dieser Befund entspricht der Genese. In den parlamentarischen Beratungen ist
deutlich gemacht worden, daß als tarifliche Ausgleichsregelung i. S. v. § 6 Abs. 5
ArbZG auch bereits bestehende Tarifverträge in Betracht kommen, in denen der
Ausgleich der besonderen Arbeitsbedingungen einer Branche unter Einschluß von
Nachtarbeit z. B. bereits in der tariflichen Grundentgeltfindung oder in einem
Freizeitausgleich erfolgt ist (vgl. BT-Drucks. 12/6990, S. 10/43). Der Gesetzgeber
wollte nicht in bestehende oder nachwirkende Tarifverträge (§ 25 S. 1 ArbZG)
eingreifen und das dort austarierte System von Leistungen und Gegenleistungen
durch die Statuierung zusätzlicher Arbeitgeberleistungen für Nachtarbeit verändern.
Das Gesetz läßt daher jede Art von Tarifregelung genügen, die - ob unmittelbar oder
mittelbar in einer einzelnen Norm oder in mehreren Normen - eine
Kompensationsfunktion für in der Branche zu leistende Nachtarbeit erkennbar
106
macht. Das Gesetz respektiert insoweit die tarifautonome Gestaltung der materiellen
Arbeitsbedingungen. Finden Tarifregelungen mit Ausgleichsfunktion auf das
Arbeitsverhältnis Anwendung, ist der Arbeitgeber zu keinen weiteren
Ausgleichsleistungen mehr verpflichtet (LAG Düsseldorf, Beschluß vom 27.02.1996,
3 TaBV 1/96, zu II 2 b, Roggendorff, Arbeitszeitgesetz § 6 Rz. 40, Zmarzlik /
Anzinger Arbeitszeitgesetz, § 6 Rz. 57, Neumann / Bibl, Arbeitszeitgesetz, 12. Aufl.,
§ 6 Rz. 25).
107
Hiernach ist es unschädlich, daß der BMTV Nachtarbeit weder erwähnt noch hierfür
einen Ausgleich in Geld oder in bezahlter Freizeit vorschreibt. Es genügt, daß nach
dem erkennbaren tariflichen Regelungsplan die Erschwernisse der Nachtarbeit
durch die besondere Vergütungsregelung und die Gewährung von unbezahlten
freien Tagen und Zusatzurlaubstagen abgegolten seien sollen.
108
III.
109
110
Die Gewährung von Nachtarbeitszuschlägen oder bezahltem Freizeitausgleich
kann daher nur eine freiwillige Leistung der Arbeitgeberin sein. Zur Gewährung
einer freiwilligen Leistung ist die Beklagte zu 1) nicht bereit. Der Betriebsrat kann
über sein Initiativrecht, das prinzipiell auch im Bereich der betrieblichen
Lohngestaltung (§ 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG) gilt (Fitting / Kaiser / Heither / Engels,
BetrVG, 18. Aufl., § 87 Rz. 333), nicht die Gewährung freiwilliger Leistungen
erzwingen (std. Rspr., BAG, Beschluß vom 14.12.1993, 1 ARB 31/93, AP Nr. 65 zu §
87 BetrVG 1972 Lohngestaltung, zu II 3, vgl. Beschluß vom 21.09.1993,
111
1 ABR 16/93, AP Nr. 62 zu § 87 BetrVG 1972 Arbeitszeit, zu B II 2 a, Urteil vom
24.01.1996, 1 AZR 597/95, EzA Nr. 55 zu § 77 BetrVG 1972, zu I 2 [1]).
112
IV.
113
114
Die Kammer hat der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beigemessen. Es geht
um die Auslegung eines Tarifvertrages, dessen Geltungsbereich sich über den
Bezirk des Landesarbeitsgerichts hinauserstreckt, sowie um die höchstrichterlich
noch ungeklärte Auslegung des Tarifvorbehalts in § 6 Abs. 5 ArbZG.
115
RECHTSMITTELBELEHRUNG:
116
117
Gegen diesen Beschluß kann von dem Betriebsrat (Beteiligten zu 2.)
118
RECHTSBESCHWERDE
119
120
eingelegt werden.
121
Für die weiteren Beteiligten ist gegen die Entscheidung kein Rechtsmittel gegeben.
122
Die Rechtsbeschwerde muß
123
innerhalb einer Notfrist von einem Monat
124
125
nach der Zustellung dieses Beschlusses schriftlich beim
126
Bundesarbeitsgericht,
127
Graf-Bernadotte-Platz 5,
128
34119 Kassel,
129
130
eingelegt werden.
131
Die Rechtsbeschwerde ist gleichzeitig oder
132
innerhalb eines Monats nach ihrer Einlegung
133
134
schriftlich zu begründen.
135
Die Rechtsbeschwerdeschrift und die Rechtsbeschwerdebegründung müssen von
einem bei einem deutschen Gericht zugelassenen Rechtsanwalt unterzeichnet sein.
136
gez.: Dr. Plüm gez.: Straatmann gez.: Deubner
137