Urteil des LAG Düsseldorf vom 29.01.1998

LArbG Düsseldorf (kündigung, auswahl, gesetzliche vermutung, arbeitnehmer, fehlerhaftigkeit, betriebsrat, arbeitgeber, zpo, arbeitsgericht, arbeitsverhältnis)

Landesarbeitsgericht Düsseldorf, 5 (4) (3) Sa 1913/97
Datum:
29.01.1998
Gericht:
Landesarbeitsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
5. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
5 (4) (3) Sa 1913/97
Vorinstanz:
Arbeitsgericht Essen, 5 (3) Ca 817/97
Schlagworte:
Betriebsbedingte Kündigung, Interessenausgleich, Namensliste zu
kündigender Arbeitnehmer
Normen:
§ 1 KSchG, §§ 111, 112 a BetrVG
Sachgebiet:
Arbeitsrecht
Leitsätze:
1) § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG enthält eine gesetzliche Vermutung im Sinne
von § 292 ZPO. Dies bedeutet, daß der Arbeitnehmer den vollen
Nachweis führen muß, wonach dringende betriebliche Erfordernisse die
Kündigung nicht bedingen. 2) § 1 Abs. 5 Satz 2 KSchG beinhaltet keine
Änderung der Darlegungs- und Beweislast i. S. d. § 1 Abs. 3 KSchG.
Nennt der Arbeitnehmer im Kündigungschutzprozeß die Namen von
anderen Arbeitnehmern, die er für vergleichbar und sozial weniger
schutzwürdig hält, ist der Arbeitgeber verpflichtet, substantiiert
vorzutragen, welche Gründe ihn zu der getroffenen Sozialauswahl
veranlaßt haben. Erst danach kann die Sozialauswahl auf grobe
Fehlerhaftigkeit geprüft werden.
Tenor:
1) Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeits-
gerichts Essen vom 20.08.1997 - 5 (3) Ca 817/97 - abge-
ändert:
Es wird festgestellt, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien
durch die Kündigungen der Beklagten vom 17.02. und
26.02.1997 nicht beendet worden ist, sondern ungekündigt
fortbesteht.
2) Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
3) Die Revision wird zugelassen.
T A T B E S T A N D :
1
Die Parteien streiten über die Rechtswirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung
der Beklagten.
2
Die am 01.01.1938 geborene Klägerin ist seit dem 17.04.1972 bei der Beklagten als
kaufmännische Angestellte beschäftigt. Ihr Bruttomonatsgehalt betrug zuletzt DM 2.800,-
-. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien finden die Bestimmungen des
Kündigungsschutzgesetzes Anwendung.
3
Nach entsprechendem Antrag des Vorstandes der Beklagten eröffnete das Amtsgericht
Essen mit Beschluß vom 06.11.1996 das Vergleichsverfahren über die Beklagte und
bestellte Herrn Rechtsanwalt M. zum vorläufigen Vergleichsverwalter.
4
In der Folgezeit strukturierte die Beklagte unter Mitwirkung des vorläufigen
Vergleichsverwalters das Unternehmen insgesamt um, was zu einem erheblichen
Abbau von Arbeitsplätzen führte. In diesem Rahmen kam es im Februar des Jahres
1997 zu Kündigungen, von denen 132 der bundesweit 970 Mitarbeiter der Beklagten
betroffen waren.
5
Im Vorfeld der Entlassungen hielt der bei der Beklagten bestehende Gesamtbetriebsrat
am 24.01.1997 eine Sitzung ab. Laut Protokoll der Sitzung sollten die dem
Gesamtbetriebsrat am 20.01.1997 überreichten Arbeitnehmerlisten den örtlichen
Betriebsräten zugänglich gemacht und von diesem beraten werden (Blatt 111 und 112
6
d. A.).
7
Mit Schreiben vom 17.02.1997 kündigte die Beklagte das mit der Klägerin bestehende
Arbeitsverhältnis fristgemäß zum 31.08.1997 und bot ihr die zeitweilige Übernahme in
eine Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft an. Dieses Angebot nahm die
Klägerin nicht an.
8
Unter dem 25.02.1997 schlossen die bei der Beklagten installierten örtlichen
Betriebsräte und die Unternehmensleitung der Beklagten eine Betriebsvereinbarung
über die durchzuführende Betriebsänderung. § 4 der Betriebsvereinbarung lautet:
9
§ 4
10
Interessenausgleich
11
Von der beschriebenen und ausführlich erläuterten Betriebsänderung sind
max. 280 Mitarbeiter des NB betroffen. Die betroffenen Mitarbeiter sind in der
dieser Betriebsvereinbarung beigefügten Anlage 1 namentlich bezeichnet.
Die soziale Auswahl wurde unter Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften in
Zusammenarbeit mit dem jeweiligen Einzelbetriebsrat spätestens am
03.02.1997 getroffen. Der Betriebsrat hat seine Zustimmung zu dieser
unvermeidbaren Maßnahme erteilt. Das Anhörungsverfahren gem. § 102
BetrVG ist damit abgeschlossen.
12
Allen in der Anlage 1 aufgeführten Arbeitnehmern kann daher gekündigt
werden. Bei denjenigen Arbeitnehmern, die den dreiseitigen Vertrag
fristgerecht unterschrieben haben, kann diese zurückgenommen werden.
13
Die Parteien sind sich weiterhin darin einig, daß für die in der Anlage 1
aufgeführten Arbeitnehmer, deren Anstellungsverhältnis beim NB durch
Kündigung oder Aufhebung beendet wird, ausschließlich der noch
abzuschließenden Sozialplan Anwendung finden wird. Ausgenommen
hiervon sind Mitarbeiter, die Anspruch (auf Abfindung, ggf. weitere Ansprüche)
aus dem Sozialplan vom 01.12.1995 geltend machen können.
14
In der Anlage der Betriebsvereinbarung findet sich im übrigen auf der Liste der zu
kündigenden Arbeitnehmer auch der Name der Klägerin.
15
Mit Schreiben vom 26.02.1997 kündigte die Beklagte schließlich das Arbeitsverhältnis
mit der Klägerin erneut zum nächstmöglichen Termin, nachdem ausweislich eines
Protokolls vom 25.02.1997 der örtliche Betriebsrat der Kündigung ausdrücklich
zugestimmt hatte (Blatt 114 d. A.).
16
Mit ihrer am 28.02.1997 beim Arbeitsgericht Essen anhängig gemachten und am
05.03.1997 erweiterten Klage hat die Klägerin die Rechtsunwirksamkeit der
ausgesprochenen Kündigungen geltend gemacht.
17
Sie hat zunächst gemeint, daß die Kündigung vom 17.02.1997 schon deshalb
unwirksam sei, weil eine Zustimmung des Betriebsrats zu diesem Zeitpunkt noch gar
nicht vorgelegen hätte. Demzufolge könne sich die Beklagte auch nicht auf den
Interessenausgleich vom 25.02.1997 berufen, der zeitlich später abgeschlossen worden
sei.
18
Die Klägerin hat im übrigen die soziale Auswahl der Beklagten gerügt und behauptet,
daß eine solche gar nicht stattgefunden hätte. Jedenfalls sei die Auswahl auch in
Ansehung des § 1 Abs. 5 KSchG auf grobe Fehlerhaftigkeit zu prüfen, die schon
deshalb bejaht werden müßte, weil die Klägerin mit einigen anderen kaufmännischen
Angestellten vergleichbar sei und in vielen Positionen der Abteilung Eisenwaren
eingesetzt werden könnte. Bei den vergleichbaren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
handele es sich um folgende Personen:
19
Frau O., 32 Jahre alt, ca. 4 Jahre im Betrieb der Beklagten beschäftigt,
20
Herr H., ca. 35 Jahre alt und ca. 10 Jahre im Betrieb der Beklagten beschäftigt,
21
Frau D., ca. 30 Jahre alt und ca. 4 Jahre im Betrieb der Beklagten beschäftigt,
22
Herr H., 49 Jahre alt und 20 Jahre im Betrieb der Beklagten beschäftigt,
23
Frau Z., ca 26 Jahre alt und ca. 5 Jahre im Betrieb der Beklagten beschäftigt,
24
Frau L., ca. 26 Jahre alt und ca. 1 - 2 Jahre im Betrieb der Beklagten
beschäftigt.
25
Die Klägerin hat beantragt,
26
1. festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch
27
die Kündigung der Beklagten mit Schreiben vom 17.02.1997 nicht
28
aufgelöst wird und ungekündigt über den 31.08.1997 hinaus fortbe-
29
steht;
30
2. festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien auch
31
durch die Kündigung der Beklagten mit Schreiben vom 26.02.1997
32
nicht aufgelöst wird und ungekündigt fortbesteht.
33
Die Beklagte hat beantragt,
34
die Klage abzuweisen.
35
Die Beklagte hat zunächst vorgetragen, daß sie sich im Rahmen der Umstrukturierung
dazu entschlossen hätte, vier von fünf Geschäftsstellen stillzulegen. Durch die
Umorganisation seien insgesamt 132 Arbeitsplätze in Fortfall geraten, so daß eine
entsprechende Anzahl von Kündigungen unumgänglich geworden wäre.
36
Die Beklagte hat sich im übrigen auf § 5 Abs. 5 Satz 1 KSchG und die dortige
Vermutungsregelung berufen.
37
Zur sozialen Auswahl hat sie die Auffassung vertreten, daß die Klägerin keinerlei
Fakten vorgetragen habe, die auf eine grobe Fehlerhaftigkeit der Auswahlentscheidung
schließen ließ. Im übrigen sei die Klägerin mit den von ihr genannten Personen aber
auch nicht vergleichbar.
38
Die Klägerin hat eingewandt, daß die Beklagte bislang keinerlei Tatsachen vorgetragen
hätte, aus denen sich eine Unvergleichbarkeit der Klägerin mit anderen Mitarbeitern
ergäbe. Deshalb sei mangels anderweitigen Sachvortrags davon auszugehen, daß
sämtliche weiterbeschäftigten Arbeitnehmer in die soziale Auswahl einzubeziehen
wären.
39
Mit Urteil vom 20.08.1997 hat die 5. Kammer des Arbeitsgerichts Essen
40
- 5 (3) Ca 817/97 - die Klage abgewiesen.
41
In den Entscheidungsgründen, auf die im übrigen Bezug genommen wird, hat das
Arbeitsgericht unter Hinweis auf § 5 Abs. 1 KSchG ausgeführt, daß es dringende
betriebliche Erfordernisse im Sinne des § 1 Abs. 2 KSchG vermuten würde; dem
entgegenstehende Tatsachen habe die Klägerin nicht substantiiert vortragen können.
42
Auch eine grobe Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl im Sinne des § 1 Abs. 5 Satz 2
KSchG sei nicht erkennbar. Nach Darlegung der Sozialauswahlkriterien durch den
Hinweis auf § 4 der Betriebsvereinbarung vom 25.02.1997 durch die Beklagte sei es
Sache der Klägerin gewesen, die grobe Fehlerhaftigkeit der Auswahl zu substantiieren.
Dies habe sie nicht ausreichend getan, zumal davon ausgegangen werden müßte, daß
die Beklagte die Sozialauswahl auch im Interesse einer ausgewogenen
Personalstruktur durchgeführt hätte.
43
Die Klägerin hat gegen das ihr am 28.10.1997 zugestellte Urteil mit einem am
11.11.1997 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt
und diesen mit einem am 11.12.1997 eingegangenen Schriftsatz begründet.
44
Sie wiederholt im wesentlichen ihren Sachvortrag aus dem ersten Rechtszug und meint
erneut, daß die Kündigung vom 17.02.1997 rechtsunwirksam wäre, weil sie vor
Unterzeichnung der Betriebsvereinbarung vom 25.02.1997 ausgesprochen worden sei.
Die nachfolgende Kündigung vom 26.02.1997 wäre ebenfalls nichtig, weil insoweit die
dem Betriebsrat zustehende Wochenfrist des § 102 Abs. 2 BetrVG nicht eingehalten
worden wäre.
45
Die Klägerin führt darüber hinaus aus, daß eine Sozialauswahl gar nicht stattgefunden
habe. Dann aber könne angesichts fehlenden Sachvortrags der Beklagten auch nicht
verlangt werden, daß die Klägerin die behauptete grobe Fehlerhaftigkeit der
Sozialauswahl substantiiert darlege und beweise.
46
Die Klägerin beantragt,
47
1. festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch
48
die Kündigung der Beklagten mit Schreiben vom 17.02.1997 nicht
49
aufgelöst wird und ungekündigt über den 31.08.1997 hinaus fortbe-
50
steht;
51
2. festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien auch
52
durch die Kündigung der Beklagten mit Schreiben vom 26.02.1997
53
nicht aufgelöst wird und ungekündigt fortbesteht.
54
Die Beklagte beantragt,
55
die Berufung zurückzuweisen.
56
Sie verteidigt das arbeitsgerichtliche Urteil und wiederholt im wesentlichen ihren
Sachvortrag aus dem ersten Rechtszug. Sie meint mit Blick auf die Kündigung vom
17.02.1997, daß der Betriebsvereinbarung vom 25.02.1997 Rückwirkung zukäme,
zumal dort explizit auf eine abschließende Betriebsratsanhörung vom 03.02.1997 Bezug
genommen werde.
57
Die Beklagte behauptet unter Bezugnahme auf das Protokoll der Sitzung des
Gesamtbetriebsrats vom 24.01.1997, daß eine Sozialauswahl sehr wohl stattgefunden
hätte. Überdies habe der Betriebsrat dann auch noch am 25.02.1997 der vorsorglichen
neuen Kündigung vom 26.02.1997 zugestimmt.
58
Zur Sozialauswahl selbst verweist die Beklagte unter anderem auf den eindeutigen
Wortlaut des Gesetzes und erklärt, keine Veranlassung zu haben, zur Auswahl der
betroffenen Arbeitnehmer Stellung zu nehmen.
59
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den
vorgetragenen Inhalt der zu den Akten gereichten Urkunden und der zwischen den
Parteien gewechselten Schriftsätze verwiesen.
60
E N T S C H E I D U N G S G R Ü N D E :
61
A.
62
Die Berufung ist zulässig.
63
Sie ist nämlich an sich statthaft (§ 64 Abs. 1 ArbGG), nach dem Wert des
Beschwerdegegenstandes zulässig (§ 64 Abs. 2 ArbGG) sowie form- und fristgerecht
eingelegt und begründet worden (§§ 66 Abs. 1 ArbGG, 518, 519 ZPO).
64
B.
65
Auch in der Sache selbst hatte das Rechtsmittel Erfolg.
66
Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist durch die Kündigungen der Beklagten vom 17.
und 26.02.1997 nicht zum 31.08.1997 oder zu einem anderen Termin beendet worden,
weil die Kündigung nicht durch dringende betriebliche Erfordernisse im Sinne des § 1
Abs. 2 und 5 KSchG bedingt und damit sozial ungerechtfertigt war.
67
I.
68
Dies gilt zunächst für die Kündigung vom 17.02.1997, hinsichtlich derer es bereits am
Vorliegen eines dringenden betrieblichen Erfordernisses im Sinne des § 1 Abs. 2
KSchG fehlt.
69
1. Die erkennende Kammer vermochte allerdings der Rechtsauffassung der Klägerin
nicht zu folgen, daß die streitbefangene Kündigung wegen Verstoßes gegen
70
§ 102 Abs. 1 und 2 BetrVG nichtig sei.
71
Nach § 4 (Interessenausgleich) der Betriebsvereinbarung vom 25.02.1997 steht fest,
daß der bei der Beklagten bestehende Betriebsrat spätestens am 03.02.1997 zu den
auszusprechenden Kündigungen angehört worden ist. Der Betriebsrat hat ausweislich
des Interessenausgleichs bestätigt, daß das Anhörungsverfahren gemäß § 102 BetrVG
abgeschlossen sei.
72
Hiermit korrespondiert im übrigen, daß der Gesamtbetriebsrat laut Protokoll vom
24.01.1997 die Übergabe der Mitarbeiterlisten und deren Weiterleitung an die örtlichen
Betriebsräte festgehalten hatte. Hiernach sollten die örtlichen Betriebsräte bis zum
29.01.1997 über die anstehenden Kündigungen und die Sozialauswahl beraten und
alsdann zu einem abschließenden Beratungsgespräch wieder zusammenkommen.
73
Angesichts dieser Umstände gibt es keine greifbaren Hinweise darauf, daß die Beklagte
ihren Anhörungspflichten nach § 102 Abs. 1 BetrVG nicht in ausreichender Art und
Weise nachgekommen sein sollte. Sie durfte jedenfalls nach der entsprechenden
Bestätigung in § 4 der Betriebsvereinbarung vom 25.02.1997 davon ausgehen, daß das
74
Anhörungsverfahren durch eine abschließende Stellungnahme des Betriebsrats
abgeschlossen gewesen ist.
2. Die Kündigung vom 17.02.1997 ist aber gleichwohl rechtsunwirksam, weil sie nicht
durch dringende betriebliche Erfordernisse im Sinne des § 1 Abs. 2 KSchG bedingt war.
75
a. Die Beklagte hat es im vorliegenden Rechtsstreit ersichtlich unterlassen, substantiiert
darzulegen und unter Beweis zu stellen, weshalb es aus inner- oder außerbetrieblichen
Umständen nicht möglich ist, die Klägerin auf ihrem bisher innegehabten Arbeitsplatz
weiterzubeschäftigen. Es fehlt an jeglicher konkreter Darlegung der Umstände, aus
denen das Arbeitsgericht hätte ersehen können, daß ein Bedürfnis für die
Weiterbeschäftigung der Klägerin an ihrem bisherigen Arbeitsplatz entfallen war.
76
b. Demgegenüber kann sich die Beklagte nicht auf die neu geschaffene
Vermutungsregelung des § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG berufen. Nach dieser Norm wird
vermutet, daß die Kündigung durch dringende betriebliche Erfordernisse im Sinne des
Absatzes 2 bedingt ist, wenn bei einer Kündigung aufgrund einer Betriebsänderung
nach § 111 des BetrVG die Arbeitnehmer, denen gekündigt werden soll, in einem
Interessenausgleich zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat namentlich bezeichnet
worden sind. Diese Voraussetzungen sind im Hinblick auf die Kündigung vom
17.02.1997 nach Auffassung der Berufungskammer zu verneinen.
77
aa. Aus dem soeben zitierten Wortlaut des § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG ergibt sich nach
Meinung der erkennenden Kammer, daß die Vermutungsregelung erst dann und
insoweit Platz greifen kann, wenn der Interessenausgleich einschließlich der
Benennung der zu kündigenden Arbeitnehmer vor Ausspruch der betriebsbedingten
Kündigung beraten und abgeschlossen worden ist. § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG setzt
nämlich voraus, daß Betriebsrat und Arbeitgeber die soziale Auswahl unter
Berücksichtigung der Grundsätze aus § 1 Abs. 3 KSchG umfänglich diskutiert und zu
einer abschließenden Entscheidung gekommen sind. Anderenfalls entspräche die
bereits vorher ausgesprochene Kündigung nicht einer Einigung der Betriebspartner und
könnte nicht die vom Gesetz statuierte Vermutungswirkung auslösen. Würde man
demgegenüber Betriebsrat und Arbeitgeber die Möglichkeit eröffnen, bereits
ausgesprochene Kündigungen durch einen nachträglichen Interessenausgleich zu
sanktionieren, so führte dies nicht nur zu Rechtsunsicherheit und Rechtsunklarheit,
sondern eröffnete zudem die Möglichkeit, vom Arbeitgeber geschaffene Fakten
nachträglich zu sanktionieren. Dies aber kann nicht Wille des Gesetzgebers gewesen
sein, der ersichtlich eine durch gleichberechtigte Verhandlungen verabschiedete
Namensliste im Rahmen eines Interessenausgleichs als Voraussetzung dafür schaffen
wollte, daß die Vermutungswirkung des § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG Platz greift.
78
bb. Entgegen der Auffassung der Beklagten konnte auch nicht davon ausgegangen
werden, daß die Betriebsvereinbarung vom 25.02.1997 Rückwirkung erlangen sollte.
79
Dagegen spricht zunächst die eindeutige Festlegung, daß die Vereinbarung am Tag
ihrer Unterzeichnung, also dem 25.02.1997, in Kraft treten sollte. In § 4 der
Betriebsvereinbarung wird darüber hinaus ausdrücklich festgeschrieben, daß allen in
der Anlage 1 aufgeführten Arbeitnehmern ... gekündigt werden kann. Gerade dieser
Passus zeigt, daß die Betriebspartner dem Arbeitgeber erst die Möglichkeit einräumen
wollten, im Anschluß an die Verabschiedung der Betriebsvereinbarung die jeweiligen
Kündigungen auszusprechen.
80
Bei der dargestellten Sach- und Rechtslage kam demgemäß der Tatsache, daß das
Anhörungsverfahren möglicherweise bereits mit dem 03.02.1997 abgeschlossen war,
keine Bedeutung zu. Dieser Passus sagt nichts darüber aus, wann die Beklagte mit
Blick auf die Wirkung des § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG zum tatsächlichen Ausspruch der
Kündigung berechtigt war.
81
II.
82
Entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts ist auch die Kündigung vom 26.02.1997
sozial ungerechtfertigt, weil die Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 und Abs. 5 KSchG
nicht gegeben sind.
83
1. Allerdings verstößt auch diese Kündigung nicht gegen § 102 Abs. 1 und 2 BetrVG,
weil die Beklagte das dort vorgeschriebene Anhörungsverfahren gegenüber dem
Betriebsrat ordnungsgemäß durchgeführt hat.
84
a. Nach den übereinstimmenden Feststellungen der Betriebspartner in § 4 der
Betriebsvereinbarung vom 25.02.1997 muß zunächst davon ausgegangen werden, daß
spätestens mit Unterzeichnung der Betriebsvereinbarung am 25.02.1997 das
Anhörungsverfahren insgesamt abgeschlossen gewesen ist und daß der Betriebsrat
seine Zustimmung auch zu der hier streitbefangenen Kündigung erteilt hatte.
85
b. Hieraus folgt, daß die Beklagte spätestens am 25.02.1997 berechtigt war, die in der
Betriebsvereinbarung erwähnten Kündigungen auszusprechen, weil zu diesem
Zeitpunkt den Vorgaben des § 102 Abs. 1 und 2 BetrVG genüge getan war. Dem ist sie
im übrigen mit der Kündigung vom 26.02.1997 auch nachgekommen.
86
c. Demgegenüber kann der Rechtsauffassung der Klägerin nicht gefolgt werden, daß
eine erneute Betriebsratsanhörung notwendig geworden sei. Die in § 4 der
Betriebsvereinbarung vom 25.02.1997 angesprochene Anhörung der örtlichen
Betriebsräte konnte sich nach dem oben unter Ziffer I Punkt 2 gesagten nur auf eine
nach dem 25.02.1997 ausgesprochene Kündigung beziehen und galt nicht für die
bereits am 17.02.1997 ausgesprochene Kündigung. Darüber hinaus hatten sich sowohl
die Sach- und Rechtslage wie auch die einzuhaltenden Kündigungsfristen nicht
geändert, so daß es auch aus diesem Grund einer Wiederholung der
Betriebsratsanhörung nicht bedurfte. Darüber hinaus bleibt in diesem Zusammenhang
darauf zu verweisen, daß die örtlichen Betriebsräte laut Protokoll vom 25.02.1997
ausdrücklich bestätigt haben, daß die vorsorglich und erneut auszusprechenden
Kündigungen mit Zustimmung der Betriebsräte erfolgten.
87
2. Die streitbefangene Kündigung vom 26.02.1997 ist auch durch dringende betriebliche
Erfordernisse im Sinne des § 1 Abs. 2 KSchG bedingt.
88
a. Die Beklagte als grundsätzlich darlegungs- und beweisbelastete Partei hat es
allerdings auch bei der Kündigung vom 26.02.1997 bei ihren Hinweisen auf die
Umstrukturierung und den Wegfall von 132 Arbeitsplätzen belassen und damit nicht
konkret aufgezeigt, daß und weshalb eine Weiterbeschäftigung der Klägerin nicht mehr
möglich sein soll.
89
b. Wegen der Geltung des am 25.02.1997 abgeschlossenen Interessenausgleichs und
90
des Vorliegens der Liste der von der Kündigung betroffenen Arbeitnehmer kann sie sich
indessen auf die bereits angesprochene Vermutungswirkung des § 1 Abs. 5 Satz 1
KSchG berufen. Diese neu geschaffene Norm enthält eine gesetzliche Vermutung im
Sinne von § 252 ZPO. Dies wiederum bedeutet, daß dann, wenn die
Vermutungsgrundlage unstreitig oder bewiesen ist, der Arbeitnehmer den vollen
Nachweis führen muß, daß dringende betriebliche Erfordernisse die Kündigung nicht
bedingen. Eine bloße Erschütterung der Vermutung reicht in diesem Falle nicht mehr
aus (LAG Köln, Urteil vom 01.08.1997 - 11 Sa 355/97 - DB 1997, 2181, nicht
rechtskräftig; Arbeitsgericht Siegburg, Urteil vom 17.07.1997 - 1 Ca 3510/96 - MDR
1997, 1038; Arbeitsgericht Bonn, Urteil vom 05.02.1997 - 2 Ca 3268/96 - DB 1997,
1517).
c. Der Klägerin ist es in beiden Rechtszügen nicht gelungen, Tatsachen vorzutragen
und zu beweisen, die die gesetzliche Vermutung der Betriebsbedingtheit der Kündigung
widerlegen könnten. Ihr wiederholter Hinweis darauf, daß ihre bisherigen Tätigkeiten
jedenfalls teilweise noch vorhanden seien und nunmehr von anderen Arbeitnehmern
ausgeführt würden, reicht hierfür ersichtlich nicht aus. Bei einer Umstrukturierung und
Neuorganisation des Betriebes wird der Arbeitgeber ja gerade in der Weise tätig, daß er
Arbeiten neu verteilt, die Betriebsabläufe neu organisiert und deren Effektivität nach
betriebswirtschaftlichen Grundsätzen neu ordnet. In diesen Fällen ist es weiter durchaus
üblich, noch bestehende Teilaufgaben einer Arbeitnehmerin oder eines Arbeitnehmers
anders zuzuordnen, was im Ergebnis gleichwohl dazu führt, daß die bisherige
Beschäftigungsmöglichkeit für den betroffenen Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin nicht
mehr vorhanden ist. Insgesamt gibt es deshalb keine ausreichenden Anhaltspunkte
dafür, daß die gesetzlich vermutete Betriebsbedingtheit in Wirklichkeit nicht vorläge.
91
3. Die Kündigung vom 26.02.1997 ist allerdings sozial ungerechtfertigt, weil die
Beklagte die bei einer betriebsbedingten Kündigung durchzuführende Sozialauswahl im
Sinne des § 1 Abs. 3 KSchG nicht ordnungsgemäß durchgeführt hat.
92
a. § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG bestimmt, daß eine Kündigung dann sozial ungerechtfertigt
sein kann, wenn der Arbeitgeber bei der Auswahl des Arbeitnehmers die Dauer der
Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter und die Unterhaltspflichten des Arbeitnehmers
nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt hat; auf Verlangen des Arbeitnehmers hat
der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer die Gründe anzugeben, die zu der getroffenen
sozialen Auswahl geführt haben. Andererseits hat der Arbeitnehmer nach § 1 Abs. 3
Satz 3 KSchG die Tatsachen zu beweisen, die die Kündigung als sozial ungerechtfertigt
im Sinne des Satzes 1 erscheinen lassen. Aus dieser Gesetzeskonstellation folgt nach
Auffassung der erkennenden Kammer folgendes:
93
Auch nach der Neuschaffung des § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG hat der Arbeitgeber in den
dort angesprochenen Fällen - und im Zusammenwirken mit dem Betriebsrat vor
Abschluß des Interessenausgleichs - zunächst den auswahlrelevanten Personenkreis
zu bestimmen, also die miteinander vergleichbaren Arbeitnehmer festzulegen, unter
denen die soziale Auswahl zu treffen ist. Alsdann ist die eigentliche soziale Auswahl
unter Berücksichtigung der Kriterien des § 1 Abs. 3 KSchG zu treffen, was im Ergebnis
zu der in § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG genannten Namensliste führt.
94
Die Rechtmäßigkeit und die Richtigkeit der sozialen Auswahl soll dann allerdings unter
den in § 1 Abs. 5 Satz 1 und 2 KSchG genannten Voraussetzungen nur noch auf grobe
Fehlerhaftigkeit überprüft werden, führt also mindestens zu eingeschränkten
95
Bewertungsmöglichkeiten des Arbeitsgerichts. Dabei geht die erkennende Kammer
zugunsten der Beklagten für die nachfolgenden Erwägungen davon aus, daß der
Maßstab der groben Fehlerhaftigkeit sowohl bei der Frage zur Anwendung kommt, ob
der auswahlrelevante Personenkreis ordnungsgemäß bestimmt wurde wie auch bei der
eigentlichen Frage der Gewichtung der Sozialkriterien zueinander (zu dieser
Problematik vgl. u. a.: LAG Köln, Urteil vom 01.08.1997, a. a. O.; Schiefer, in DB 1997,
2176 - 2179; Zwanziger, in DB 1997, 2178 - 2179; Moll, MDR 1997, 1038 -
1040).
96
c. Durch die Neuregelung in § 1 Abs. 5 KSchG hat der Gesetzgeber indessen keine
Änderung der Darlegungs- und Beweislast vornehmen wollen (so ausdrücklich: Moll, a.
a. O.; im Ergebnis wohl auch: LAG Köln, Urteil vom 01.08.1997, a. a. O.).
97
Sowohl der Gesetzestext des § 1 Abs. 5 Satz 2 KSchG wie auch die
Gesetzesmaterialien lassen nicht erkennen, daß mit der Beschränkung auf den
Prüfungsmaßstab der groben Fehlerhaftigkeit gleichzeitig eine gesetzliche
Vermutungswirkung wie die in § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG geschaffen werden sollte. Es ist
weiter nicht ersichtlich, daß die in § 1 Abs. 3 KSchG aufgestellten Darlegungs- und
Beweislastregeln keine Gültigkeit beanspruchen sollen. Im Gegenteil: Da § 1 Abs. 5
Satz 2 KSchG nur den Maßstab der groben Fehlerhaftigkeit einführt, ohne ansonsten die
Regelungen in § 1 Abs. 3 KSchG zu ändern, erscheint es eindeutig, daß die dortigen
Darlegungs- und Beweislastgrundsätze auch im Rahmen des § 1 Abs. 5 Satz 2 KSchG
Anwendung finden.
98
d. Hiernach gilt das insbesondere vom Bundesarbeitsgericht entwickelte abgestufte
Darlegungs- und Beweislastprinzip, wonach der Arbeitnehmer zunächst vorzutragen
hat, daß die soziale Auswahl fehlerhaft vorgenommen wurde. Dabei kommt ihm
regelmäßig der Auskunftsanspruch des § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG zugute, dem der
Arbeitgeber entsprechen muß. Kommt dieser dem Auskunftsverlangen des
Arbeitnehmers nach, so fällt die Darlegungslast wieder voll an den Arbeitnehmer zurück,
der nunmehr seinerseits darzulegen hat, wen er als konkret weniger schutzbedürftig hält
als sich selbst.
99
Gibt der Arbeitgeber keine Auskunft bzw. nennt er keine Namen von vergleichbaren
Arbeitnehmern, so hat der Arbeitnehmer seiner Darlegungslast nach § 1 Abs. 3 Satz 3
KSchG allein schon durch das Bestreiten der Ordnungsgemäßheit der sozialen
Auswahl genügt, von einem weiteren substantiierten Vortrag ist er dann befreit. Die
gleichen Erwägungen gelten dann, wenn dem Vortrag des Arbeitgebers zu entnehmen
ist, daß er die Sozialauswahl nicht unter Berücksichtigung des Vortrages des
Arbeitnehmers auf aus dessen Sicht vergleichbare Arbeitnehmer erstreckt hat und wenn
er es unterläßt, seinen Vortrag im Prozeß zu ergänzen (BAG, Urteil vom 15.06.1989,
100
EzA § 1 KSchG Soziale Auswahl Nr. 27; BAG, Urteil vom 21.07.1988 - 2 AZR 75/88 -
EzA § 1 KSchG Soziale Auswahl Nr. 26; BAG, Urteil vom 08.08.1985
101
- 2 AZR 464/84 - EzA § 1 KSchG Soziale Auswahl Nr. 21; KR/Etzel, 4. Aufl., § 1 KSchG,
Rz. 604 ff.; Kittner/Trittin, Kündigungsschutzrecht, 3. Aufl., § 1 KSchG,
102
Rz. 498 ff.).
103
Hieraus ergeben sich für die vorliegend zu beurteilende Fallkonstellation folgende
Konsequenzen:
104
Die Klägerin hatte bereits mit der Klageschrift die mangelnde soziale Auswahl gerügt
und behauptet, daß eine Sozialauswahl überhaupt nicht stattgefunden hätte. Die
Beklagte hatte sich in diesem Zusammenhang damit begnügt, auf das Merkmal der
groben Fehlerhaftigkeit zu verweisen.
105
Daraufhin hatte die Klägerin mehrere, nach ihrer Auffassung vergleichbare
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und deren Sozialdaten genannt, die sie für sozial
weniger schutzwürdig hielt.
106
Nach den oben dargestellten Darlegungs- und Beweislastregeln wäre es nunmehr
Sache der Beklagten gewesen, substantiiert zu antworten und darzulegen, weshalb sie
gleichwohl die Klägerin als sozial weniger schutzwürdig eingestuft hat bzw. mitzuteilen,
weshalb sie die Sozialauswahl nicht auf die von der Klägerin benannten
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erstreckt hat. Demgegenüber hat sich die Beklagte
damit begnügt, pauschal auf eine Nichtvergleichbarkeit hinzuweisen; sie hat sich
wiederholt auf das Merkmal der groben Fehlerhaftigkeit bezogen und es zuletzt
ausdrücklich abgelehnt, eine Stellungnahme zum auswahlrelevanten Personenkreis
abzugeben.
107
Dieses Verhalten reicht auch in Ansehung des § 1 Abs. 5 Satz 2 KSchG nach
Auffassung der erkennenden Kammer nicht aus, um das substantiierte Vorbringen der
Klägerin zur Fehlerhaftigkeit der getroffenen sozialen Auswahl zu Fall zu bringen.
108
aa. Das Berufungsgericht unterstellt dabei zugunsten der Beklagten, daß der
Sachvortrag der Klägerin zur sozialen Auswahl mindestens erkennen lassen muß, daß
die Auswahl grob fehlerhaft getroffen worden sein könnte (so: Kittner/Trittin, a. a. O. Rz.
503 a). Grob fehlerhaft ist eine Auswahlentscheidung jedenfalls dann, wenn die
Gewichtung der Betriebszugehörigkeit, des Lebensalters und der Unterhaltspflichten der
Arbeitnehmer jede Ausgewogenheit vermissen läßt (so z. B. Schiefer/Worzalla, Das
arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz und seine Auswirkungen für die
betriebliche Praxis, 1996, Rz. 88 ff.).
109
bb. Auch diesen Voraussetzungen genügt indessen der Sachvortrag der Klägerin in
beiden Instanzen. Sie hat zum Beispiel darauf hingewiesen, daß sie, die bereits 25
Jahre im Betrieb beschäftigt war und das 59. Lebensjahr vollendet hat, mit einer
Arbeitnehmerin vergleichbar sei, die ca. ein bis zwei Jahre beschäftigt und 26 Jahre alt
ist. Hier liegt es nach Auffassung des Berufungsgerichts auf der Hand, daß die in § 1
Abs. 3 KSchG angesprochenen Auswahlkriterien ersichtlich unausgewogen gewichtet
sind und damit eine grobe Fehlerhaftigkeit der Auswahlentscheidung schlüssig
vorgetragen wurde.
110
cc. Unter den dargelegten Umständen wäre nunmehr die Beklagte verpflichtet gewesen,
die Gründe für ihre Auswahlentscheidung zu erläutern (vgl. hierzu: Arbeitsgericht
Ludwigshafen, Urteil vom 11.03.1997 - 1 Ca 3094/96 - DB 1997, 1339). Dies hat sie
indessen während des gesamten Rechtsstreits unterlassen. Die Beklagte hat wiederholt
die Rechtsauffassung vertreten, daß sie zu einer derartigen Konkretisierung nicht
verpflichtet wäre. Sie hat allenfalls auf die in § 4 der Betriebsvereinbarung pauschal
erwähnte Beachtung der gesetzlichen Kriterien verwiesen und darüber hinaus lapidar
111
vorgetragen, daß eine Vergleichbarkeit mit der Klägerin nicht gegeben sei. Aus diesem
Sachvortrag läßt sich aber gerade nicht ersehen, ob und inwieweit der Beklagten etwa
bei der Festlegung des auswahlrelevanten Personenkreises nicht doch Fehler
unterlaufen sein könnten, die zu einer Qualifizierung als grob fehlerhaft geführt hätten.
Durch die wiederholte Weigerung, ihre Überlegungen zur Bestimmung der
vergleichbaren Arbeitnehmer vorzutragen, hat sie es im Ergebnis der Klägerin auch
unmöglich gemacht, noch substantiierter und konkret zu der von ihr behaupteten
Verletzung des § 1 Abs. 5 Satz 2 KSchG vorzutragen. Dann aber muß es bei der
normalen Darlegungsregelung bleiben, daß die Beklagte die Folgen ihrer Säumnis zu
tragen hat: Die von ihr getroffene Sozialauswahl ist als falsch und letztlich grob
fehlerhaft im Sinne des § 1 Abs. 5 Satz 2 KSchG zu unterstellen.
III.
112
Bei der dargestellten Sach- und Rechtslage hatte die erkennende Kammer keine
gesetzlich gebotene Veranlassung, den Rechtsstreit zu vertagen und der Beklagten
einen richterlichen Hinweis gemäß § 139 ZPO zu geben.
113
1. § 139 Abs. 1 ZPO legt dem Gericht die Pflicht auf, auf die Beibringung des im
Rahmen der gestellten Anträge zur Rechtsfindung notwendigen Tatsachen- und
Beweismaterials hinzuwirken. Andererseits orientieren sich die Grenzen der
Aufklärungsbefugnisse und -pflichten des Gerichts sowie für die Zulässigkeit seiner
Hinweise an der Pflicht des Gerichts zur Neutralität und Gleichbehandlung der Parteien
(siehe hierzu: Zöllner/Greger, ZPO, 20. Aufl., § 139, Rz. 1 und 3). In dem aufgezeigten
Rahmen sind die Gerichte gehalten, auf rechtliche Gesichtspunkte hinzuweisen, mit
denen ein gewissenhafter und kundiger Prozeßbeteiligter nicht zu rechnen brauchte
(Bundesverfassungsgericht, Beschluß vom 15.08.1996 - 2 BvR 2600/95 - AP Nr. 56 zu
Artikel 103 GG). Gerichtliche Hinweise im Sinne des § 139 ZPO müssen auch der
anwaltlich vertretenen Partei dann gegeben werden, wenn ihr Prozeßvertreter
erkennbar versehentlich einer falschen Rechtsauffassung unterliegt (BGH, Urteil vom
27.10.1994 in NJW 1995 Seite 399 ff.). Hingegen besteht dann keine Aufklärungspflicht,
wenn die andere Partei auf die unzulängliche Substantiierung des Sachvortrags
ausdrücklich und wiederholt hingewiesen hat. In diesem Falle wird erwartet, daß die
anwaltlich vertretenen Partei reagieren kann und muß (BGH, Urteil vom 09.11.1983 in
NJW 1984 Seite 310 f.; BGH, in NJW 1980, Seite 223 f.).
114
2. Die Berufungskammer meint, daß es eines richterlichen Hinweises gemäß
115
§ 139 Abs. 1 ZPO im vorliegenden Fall nicht mehr bedurft hat, weil die hier zu
entscheidende Rechtsfrage für die Beklagte seit langem erkennbar war und die vom
Berufungsgericht vertretene Rechtsauffassung weder in Form einer
Überraschungsentscheidung ergeht noch unerwartet kommt.
116
a. Die Beklagte kann sicherlich für sich in Anspruch nehmen, daß das Arbeitsgericht in
seiner erstinstanzlichen Entscheidung auf die Frage der Darlegungs- und Beweislast
nur am Rande eingegangen ist und die hier diskutierte Problematik nicht erschöpfend
behandelt hat.
117
b. Andererseits wird die hier zu beurteilende Rechtsfrage nach der Neuregelung des § 1
Abs. 5 KSchG in den zitierten Gerichtsentscheidungen und in der Literatur umfänglich
diskutiert und ist Gegenstand diverser arbeitsrechtlicher Streitigkeiten bei den
118
Arbeitsgerichten in Deutschland. Soweit ersichtlich wird durchgängig die
Rechtsauffassung vertreten, daß trotz der Neuregelung in § 1 Abs. 5 Satz 2 KSchG die
Darlegungs- und Beweislastregeln des § 1 Abs. 3 KSchG weiterhin Gültigkeit haben (so
ausdrücklich: Moll, a. a. O.). Auch das von der Beklagten mehrfach herangezogene
Urteil des Landesarbeitsgerichts Köln vom 01.08.1997 weist in seiner Begründung
darauf hin, daß die Beklagte im zu entscheidenden Rechtsstreit den auswahlrelevanten
Personenkreis mitgeteilt hatte. Dann aber mußte auch für die Beklagte ersichtlich sein,
daß eine reine Bezugnahme auf die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Köln der
von ihr vertretenen Rechtsauffassung jedenfalls in Teilbereichen entgegenstand.
Hinzu kommt, daß die Klägerin in beiden Instanzen wiederholt und nachdrücklich auf
die fehlende Darlegung der Beklagten zur sozialen Auswahl und zur Bildung des
auswahlrelevanten Personenkreises hingewiesen hatte. Gerade in Anbetracht dieses
Prozeßverhaltens wäre es von der Beklagten zu erwarten gewesen, sich nicht allein auf
ihren Rechtsstandpunkt zurückzuziehen und jegliche Angaben zur Durchführung der
sozialen Auswahl zu verweigern. Dies um so mehr, als sie - wie im Termin vom
29.01.1998 erkennbar geworden ist - zumindest in einem anderen gleichgelagerten Fall
vor dem Arbeitsgericht Bochum zu der hier diskutierten Frage substantiiert vorgetragen
hat. Nach allem hatte die erkennende Kammer, um nicht dem Vorwurf der Parteilichkeit
ausgesetzt zu werden, keine Veranlassung, den Rechtsstreit zu vertagen.
119
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO.
120
Die Kammer hat eine grundsätzlich Bedeutung der Rechtssache bejaht und die
Revision zugelassen.
121
RECHTSMITTELBELEHRUNG
122
Gegen dieses Urteil kann von der Beklagten
123
REVISION
124
eingelegt werden.
125
Für die Klägerin ist gegen dieses Urteil kein Rechtsmittel gegeben.
126
Die Revision muß
127
innerhalb einer Notfrist von einem Monat
128
nach der Zustellung dieses Urteils schriftlich beim
129
Bundesarbeitsgericht,
130
Graf-Bernadotte-Platz 5,
131
34119 Kassel,
132
eingelegt werden.
133
Die Revision ist gleichzeitig oder
134
innerhalb eines Monats nach ihrer Einlegung
135
schriftlich zu begründen.
136
Die Revisionsschrift und die Revisionsbegründung müssen von einem bei einem
deutschen Gericht zugelassenen Rechtsanwalt unterzeichnet sein.
137
gez.: Göttling gez.: Gursch gez.: Kladny
138