Urteil des LAG Berlin-Brandenburg vom 29.06.2010
LArbG Berlin-Brandenburg: fristlose kündigung, grad des verschuldens, ordentliche kündigung, abmahnung, urlaub, wichtiger grund, ärztliche behandlung, arbeitsfähigkeit, interessenabwägung
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Gericht:
LArbG Berlin-
Brandenburg 10.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
10 Sa 1823/10
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Norm:
§ 626 Abs 1 BGB
Außerordentliche Kündigung wegen eigenmächtigem
Urlaubsantritt - Interessenabwägung
Leitsatz
Eigenmächtiger Urlaubsantritt rechtfertigt grundsätzlich eine außerordentliche Kündigung. Im
Rahmen der Interessenabwägung kann diese unverhältnismäßig sein.
Tenor
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 29. Juni
2010 - 50 Ca 5366/10 - abgeändert:
Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die von der Beklagten
mit Schreiben vom 16. März 2010 ausgesprochene Kündigung nicht aufgelöst worden
ist.
II. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
III. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 9.474,45 EUR festgesetzt.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um eine außerordentliche Kündigung vom 16. März 2010.
Die Klägerin ist 51 Jahre alt (… 1959) und seit dem 1. September 1978 bei der Beklagten
bzw. deren Rechtsvorgängerin als Beraterin mit dem Schwerpunkt Berufsorientierung
beschäftigt. Die monatliche Vergütung der Klägerin betrug zuletzt 3.158,15 EUR brutto.
Auf das Arbeitsverhältnis findet der Tarifvertrag für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer der Bundesagentur für Arbeit Anwendung. Nach dessen § 37 Abs. 2
können Arbeitsverhältnisse von Beschäftigten wie der Klägerin, die das 40. Lebensjahr
vollendet haben und für die die Regelungen des Tarifgebiets West Anwendung finden,
nach einer Beschäftigungszeit von mehr als 15 Jahren von der Bundesagentur nur aus
einem wichtigen Grund gekündigt werden.
Seit dem 21. September 2009 war die Klägerin arbeitsunfähig erkrankt. Sie litt nach
Angaben ihres Arztes unter anderem an einem schweren Schmerzsyndrom der HWS
und der LWS bei Morbus Bechterew und degenerativer LWS-Erkrankung, einem
depressiven Erschöpfungszustand und psychosomatischer Depression bei
chronifiziertem Schmerzsyndrom. Diese Diagnosen waren der Beklagten nicht bekannt.
Mit Schreiben vom 5. Januar 2010 an die Beklagte bat die Klägerin um die Übersendung
des Urlaubsblattes und teilte mit, dass ihre Krankenkasse sie aufgefordert habe, einen
Reha-Antrag zu stellen, was sie auch machen wolle und der behandelnde Arzt ihr
angeraten habe, kurzzeitig nach Arbeitsaufnahme zur besseren Gesundung zusätzlich in
den Urlaub zu fahren.
Nachdem die Klägerin einen konkreten Urlaubsantrag für die Zeit vom 22. Februar 2010
bis 11. März 2010 gestellt hatte, erinnerte sie mit Schreiben vom 29. Januar 2010 an
dessen Bearbeitung. Eine Mitarbeiterin des internen Service der Beklagten teilte der
Klägerin unter dem 1. Februar 2010 mit, dass sie den Urlaub zwar edv-mäßig erfasst
habe, dass sie ihn aber nicht bewilligen könne. Die Bewilligung erfolge durch Absprache
mit dem Teamleiter.
Darauf wandte sich die Klägerin mit Schreiben vom 8. Februar 2010 an ihre Teamleiterin
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Darauf wandte sich die Klägerin mit Schreiben vom 8. Februar 2010 an ihre Teamleiterin
und fügte eine ärztliche Bescheinigung des die Klägerin behandelnden
Allgemeinmediziners vom 8. Februar 2010 bei. In dieser Bescheinigung ist ausgeführt:
„Aus ärztlicher Sicht halte ich einen Erholungsurlaub in unmittelbarem Anschluss
an die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit für dringend erforderlich, um die Pat.
gesundheitlich weiter zu stabilisieren.“
Die Beklagte teilte mit Schreiben ihrer Teamleiterin unter dem 12. Februar 2010 mit,
dass die Klägerin mitgeteilt habe wieder arbeitsfähig zu sein und ab dem 22. Februar
2010 ihren Urlaub antreten werde. Sie als Teamleiterin könne den Urlaub wegen der
angespannten Personalsituation im Team aus dienstlichen Gründen nicht bewilligen. Da
die Klägerin laut Bescheinigung ihres Arztes arbeitsfähig sei, werde die Klägerin
ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sie am 22. Februar 2010 zur Arbeitsaufnahme am
Arbeitsplatz erwartet werde.
Mit Schreiben vom 15. Februar 2010 antwortete die Klägerin unter anderem, dass aus
dem vorliegenden Attest eindeutig hervorgehe, dass „ein Urlaub in unmittelbarem
Anschluss erforderlich“ sei. Die Klägerin führte weiter aus:
„Meine Gesundheit und der damit verbundene Erhalt meiner Erwerbsfähigkeit
stehen für mich an erster Stelle und sind unabdingbar das höhere Gut in dieser
Angelegenheit.
Wie ich dem „Internen Service“ bereits mitgeteilt habe, hat meine Krankenkasse
einen Antrag auf Rehabilitation veranlasst; ein Vorgang aus dem ersichtlich ist, dass in
naher Zukunft noch weitere Maßnahmen zur Stabilisierung meiner Gesundheit
erforderlich sein werden.
Unter Abwägung aller Tatsachen werde ich meinen Urlaub, so wie Ihnen und dem
Internen Service mitgeteilt, antreten.“
Nach Abgabe des Vorgangs an den Internen Service mit entsprechender Information an
die Klägerin unter dem 17. Februar 2010 teilte dieser der Klägerin mit Schreiben vom 18.
Februar 2010 mit, dass eine Selbstbeurlaubung nicht zulässig sei und gegebenenfalls
arbeitsrechtliche Konsequenzen bis hin zur Kündigung haben könne. Da es über die
Urlaubsgewährung keine Einigung zwischen den Parteien gebe, sei die
Personalvertretung zu beteiligen. Insofern müsse die Klägerin am 22. Februar 2010 ihren
Dienst zunächst antreten und gegebenenfalls verspätet ihren Urlaub antreten. Eine
telefonische Information habe nicht erfolgen können, da die Telefonnummer der Klägerin
nicht bekannt sei.
Mit Schreiben vom 9. März 2010 äußerte die Klägerin ihre Verwunderung über die
Korrespondenz sowie die Verschleppung der Angelegenheit. Ihre Telefonnummer sei seit
mehr als 20 Jahren bekannt und unverändert. Weiter führt die Klägerin in diesem
Schreiben aus:
„Um den weiteren Fortgang meiner Genesung nicht zu unterbrechen, verlängere
ich mein Urlaubsersuchen um weitere 3 Tage (15.-17.03.2010).
Wie Sie aus den Anlagen ersehen können, werde ich ab 18.03.2010 für zunächst
3 Wochen meine Rehabilitationsmaßnahme antreten. Über das Ende dieser Maßnahme
oder eine verordnete Verlängerung werde ich Sie rechtzeitig unterrichten.“
Unter dem 4. März 2010 beteiligte die Beklagte den bei ihr gebildeten Personalrat. Im
Kern wies die Beklagte unter Schilderung des Sachverhaltes darauf hin, dass die Klägerin
gegenüber dem internen Service mitgeteilt habe, dass sie ab dem 22. Februar 2010
wieder arbeitsfähig sei, von der Beklagten zum Dienstantritt an diesem Tage
aufgefordert worden sei und in der Zeit vom 22. Februar 2010 bis jedenfalls zum 3. März
2010 nicht zum Dienst erschienen sei. Zur Personalsituation erläuterte die Beklagte,
dass in der 8. Kalenderwoche ab dem 22. Februar 2010 nur 3 von 10 und in der 9. KW 5
von 10 Berufsberatern im Team anwesend seien. Die Besetzung sei der Teilnahme an
Lehrgängen sowie bereits genehmigten Urlauben geschuldet, aber kein Dauerzustand.
Unter Hinweis auf ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 16. März 2000 (2 AZR 75/99)
teilte die Beklagte mit, dass Selbstbeurlaubung in der Regel eine außerordentliche
Kündigung rechtfertige.
Die Klägerin hält die Kündigung nicht für gerechtfertigt. Sie meint, dass sie auch ab dem
22. Februar 2010 weiter arbeitsunfähig gewesen sei. Die Wiedererlangung der
Arbeitsfähigkeit sei lediglich eine Selbsteinschätzung gewesen. Die ärztliche
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Arbeitsfähigkeit sei lediglich eine Selbsteinschätzung gewesen. Die ärztliche
Bescheinigung habe keine Angaben zum Zeitpunkt der Wiedererlangung der
Arbeitsfähigkeit beinhaltet.
Die Beklagte meint, dass die eigenmächtige Urlaubsnahme der Klägerin auch die
außerordentliche Kündigung rechtfertige.
Mit Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 29. Juni 2010 wurde die Klage abgewiesen. Das
Arbeitsgericht führte zur Begründung insbesondere aus, dass ein wichtiger Grund für
eine außerordentliche Kündigung vorliege und eine Abmahnung hier nicht erforderlich
gewesen sei. Die Klägerin habe sich selbst ab dem 22. Februar 2010 beurlaubt und
daran auch trotz ausdrücklicher Ablehnung der Beklagten festgehalten. Dass die
Klägerin auch in der Zeit ab dem 22. Februar 2010 weiter arbeitsunfähig krank gewesen
sei, könne nicht festgestellt werden. Die Erklärungen der Klägerin zur Wiedererlangung
ihrer Arbeitsfähigkeit seien eindeutig. Es fehle an einem konkreten Vortrag, aufgrund
welcher Tatsachen und ärztlicher Feststellungen hier von Arbeitsunfähigkeit auszugehen
sein solle.
Auch die Interessenabwägung führe zu keinem anderen Ergebnis. Zwar sei zu Gunsten
der Klägerin ihre lange Betriebszugehörigkeit zu berücksichtigen, aber ihr gesamtes
Verhalten, auch nach Rückkehr aus dem Urlaub mit der fortgesetzten
Selbstbeurlaubung spreche zu Gunsten der Beklagten.
Gegen dieses dem Klägerinvertreter am 26. Juli 2010 zugestellte Urteil hat dieser am 23.
August 2010 Berufung eingelegt und diese nach Verlängerung der
Berufungsbegründungsfrist am 7. Oktober 2010 begründet.
Grundsätzlich sei die Ansicht des Arbeitsgerichts, dass eine Selbstbeurlaubung eine
fristlose Kündigung nach sich ziehe, nicht zu beanstanden. Hier liege allerdings ein
anderer Sachverhalt vor. Denn tatsächlich sei die Klägerin auch im Zeitpunkt des
Urlaubs arbeitsunfähig gewesen. Die Angaben der Klägerin dazu habe das Arbeitsgericht
unberücksichtigt gelassen, obwohl sie sich im Einzelnen zu den Krankheitssymptomen
geäußert habe. Mit einer weiteren, beigefügten Bescheinigung ihres behandelnden
Arztes vom 21. September 2010 habe dieser unter konkreter Angabe einzelner
Krankheitsbilder mitgeteilt, dass die Klägerin wegen multipler Erkrankungen vom 21.
September 2009 bis 26. April 2010 arbeitsunfähig krank gewesen sei. Bei der
Interessenabwägung habe das Arbeitsgericht den seit dem 17. Juni 2010 eingeleiteten
Paradigmenwechsel des Bundesarbeitsgerichts nicht berücksichtigt, wonach das hohe
Maß des in der Vergangenheit erworbenen Vertrauens nicht durch diesen Vorfall
unwiederbringlich habe zerstört werden können. Auch sei zu berücksichtigen, dass die
Klägerin bereits ihre Ausbildung auf eine Tätigkeit bei der Beklagten ausgerichtet und ihr
gesamtes Berufsleben bei der Beklagten verbracht habe. Ihre Aussichten auf dem
Arbeitsmarkt seien deshalb deutlich schlechter als bei anderen Arbeitssuchenden.
Die Klägerin beantragt,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils festzustellen, dass das
Arbeitsverhältnis der Parteien durch die von der Beklagten mit Schreiben vom 16. März
2010 ausgesprochene außerordentliche Kündigung nicht aufgelöst worden ist..
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte erwidert, dass ihr im Zeitpunkt des Kündigungszugangs keine
Anhaltspunkte über eine fortbestehende Arbeitsunfähigkeit der Klägerin vorgelegen
hätten. Die Erklärungen der Klägerin und ihr Verhalten in Verbindung mit der ärztlichen
Bescheinigung vom 8. Februar 2010 hätten sogar das Gegenteil belegt. Die nach
Ausspruch der Kündigung erstmals aufgestellte Behauptung der Klägerin, dass sie auch
ab dem 22. Februar 2010 weiter arbeitsunfähig gewesen sei, sei unbeachtlich. Die
Bescheinigung vom 21. September 2010 sei verspätet vorgelegt worden. Es werde mit
Nichtwissen bestritten, dass und weshalb diese Bescheinigung am 21. September 2010
ausgestellt worden sei. Es handele sich um eine Gefälligkeitsbescheinigung. Die dort
genannte wöchentlich zweimalige ärztliche Behandlung habe es zumindest während der
Urlaubsabwesenheit und während der stationären Rehabilitationsmaßnahme nicht
gegeben. Die Bescheinigung widerspreche der Bescheinigung vom 8. Februar 2010 und
erläutere diesen Widerspruch nicht. Auch nach einem Auszahlschein der Krankenkasse
vom 16. Februar 2010 habe Arbeitsunfähigkeit bei der Klägerin nur bis zum 19. Februar
2010 vorgelegen.
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Die Interessenabwägung sei zutreffend erfolgt. Die Klägerin habe trotz vorliegender
betrieblicher Gründe zur Verweigerung des Urlaubs hartnäckig ihre
Hauptleistungspflichten verletzt. Einen Paradigmenwechsel habe es beim
Bundesarbeitsgericht nicht gegeben.
Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien in der Berufungsinstanz wird auf den
vorgetragenen Inhalt der Berufungsbegründung der Klägerin vom 7. Oktober 2010 und
den Schriftsatz vom 23. November 2010 sowie auf die Berufungsbeantwortung der
Beklagten vom 15. November 2010, deren Schriftsatz vom 18. November 2010 sowie
das Sitzungsprotokoll vom 26. November 2010 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
I.
Die nach § 64 Abs. 2 ArbGG statthafte Berufung der Klägerin ist form- und fristgerecht
im Sinne der §§ 66 Abs. 1 ArbGG, 519, 520 Zivilprozessordnung (ZPO) eingelegt und
begründet worden.
II.
In der Sache hat die Berufung auch Erfolg, so dass das Urteil des Arbeitsgerichts
entsprechend dem Antrag der Klägerin abzuändern war.
1.
Wie das Arbeitsgericht in der angefochtenen Entscheidung zutreffend festgestellt hat
und zwischen den Parteien auch unstreitig ist, kann eine eigenmächtige Urlaubsnahme
einer Arbeitnehmerin arbeitsrechtliche Sanktionen bis zur fristlosen, außerordentliche
Kündigung gem. § 626 Abs. 1 BGB Kündigung nach sich ziehen.
1.1
Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne
Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund
derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter
Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses
bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Die erforderliche
Überprüfung, ob ein gegebener Lebenssachverhalt einen wichtigen Grund in diesem
Sinne darstellt, vollzieht sich zweistufig. Im Rahmen des § 626 Abs. 1 BGB ist zunächst
zu prüfen, ob ein bestimmter Sachverhalt ohne die besonderen Umstände des
Einzelfalls als wichtiger Kündigungsgrund an sich geeignet ist. Liegt ein solcher
Sachverhalt vor, bedarf es der weiteren Prüfung, ob die Fortsetzung des
Arbeitsverhältnisses dem Kündigenden unter Berücksichtigung der konkreten Umstände
des Einzelfalls und der Abwägung der Interessen beider Vertragsteile zumutbar ist oder
nicht (vgl. etwa BAG, Urteil vom 5. November 2009 - 2 AZR 609/08 m.w.N.).
Das Bundesarbeitsgericht hat bisher in Fällen einer so genannten beharrlichen
Arbeitsverweigerung in aller Regel eine außerordentliche Kündigung als gerechtfertigt
angesehen (vgl. BAG, Urteil vom 21. November 1996, 2 AZR 357/95). Dabei ist es davon
ausgegangen, die beharrliche Arbeitsverweigerung setze in der Person des
Arbeitnehmer im Willen eine Nachhaltigkeit voraus; der Arbeitnehmer müsse die ihm
übertragene Arbeit bewusst und nachhaltig nicht leisten wollen, wobei es nicht genüge,
dass der Arbeitnehmer eine Weisung unbeachtet lasse, sondern die beharrliche
Arbeitsverweigerung setze voraus, dass eine intensive Weigerung des Arbeitnehmers
vorliege. Allerdings könne das Moment der Beharrlichkeit auch darin zu sehen sein, dass
in einem einmaligen Falle der Arbeitnehmer eine Anweisung nicht befolge, das müsse
dann aber z. B. durch eine vorhergehende, erfolglose Abmahnung verdeutlicht werden.
1.2
Der vorliegende Fall ist einer beharrlichen Arbeitsverweigerung vergleichbar. Trotz
zunächst allgemeiner Hinweise des internen Service am 1. Februar 2010, der Ablehnung
des Urlaubs durch die Teamleiterin am 12. Februar 2010 und nochmaligem Hinweis des
internen Service auf das Fehlen einer Urlaubsbewilligung unter dem 18. Februar 2010
einschließlich der Ankündigung von arbeitsrechtlichen Konsequenzen bis hin zu einer
Kündigung hat die Klägerin sich über die Aufforderung, am 22. Februar 2010 wieder zur
Arbeit zu erscheinen, hinweggesetzt. Sie hat ausschließlich eigennützig entschieden,
ohne auf die betrieblichen Belange, die betrieblichen Gepflogenheiten und die Hinweise
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ohne auf die betrieblichen Belange, die betrieblichen Gepflogenheiten und die Hinweise
der Beklagten auch nur im Ansatz Rücksicht zu nehmen. Deshalb rechtfertigt der
Sachverhalt - ohne die besonderen Umstände des Einzelfalls - durchaus eine auch
fristlose Kündigung.
2.
Die fristlose Kündigung ist bei Beachtung aller Umstände des vorliegenden Falls und
nach Abwägung der widerstreitenden Interessen gleichwohl nicht gerechtfertigt. Als
Reaktion der Beklagten auf das Fehlverhalten der Klägerin hätte eine mildere Sanktion
wie etwa eine fristgemäße Kündigung ausgereicht. Dabei kann dahinstehen, ob die
Klägerin während des Urlaubs weiter arbeitsunfähig erkrankt war.
2.1
Bei der Prüfung, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung der Arbeitnehmerin trotz
Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung jedenfalls bis zum Ablauf der
Kündigungsfrist zumutbar ist, ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse des
Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das
Interesse der Arbeitnehmerin an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung
des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Die
Umstände, anhand derer zu beurteilen ist, ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung
zumutbar ist oder nicht, lassen sich nicht abschließend festlegen. Zu berücksichtigen
sind aber regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung
- etwa im Hinblick auf das Maß eines durch sie bewirkten Vertrauensverlusts und ihre
wirtschaftlichen Folgen -, der Grad des Verschuldens der Arbeitnehmerin, eine mögliche
Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen
störungsfreier Verlauf. Eine außerordentliche Kündigung kommt nur in Betracht, wenn es
keinen angemessenen Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil dem
Arbeitgeber sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind. Als mildere
Reaktionen sind insbesondere Abmahnung und ordentliche Kündigung anzusehen. Sie
sind dann alternative Gestaltungsmittel, wenn schon sie geeignet sind, den mit der
außerordentlichen Kündigung verfolgten Zweck - die Vermeidung des Risikos künftiger
Störungen - zu erreichen (vgl. zuletzt BAG, Urteil vom 10. Juni 2010 - 2 AZR 541/09).
Die Notwendigkeit der Prüfung, ob eine fristgerechte Kündigung als Reaktion ausgereicht
hätte, folgt schon aus dem Wortlaut des § 626 Abs. 1 BGB. Das Erfordernis weitergehend
zu prüfen, ob nicht schon eine Abmahnung ausreichend gewesen wäre, folgt aus dem
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (die Kündigung als „ultima ratio“) und trägt zugleich dem
Prognoseprinzip bei der verhaltensbedingten Kündigung Rechnung (BAG, Urteil vom 19.
April 2007 - 2 AZR 180/06). Das Erfordernis gilt auch bei Störungen im
Vertrauensbereich. Es ist nicht stets und von vornherein ausgeschlossen, verlorenes
Vertrauen durch künftige Vertragstreue zurückzugewinnen (BAG, Urteil vom 4. Juni 1997
- 2 AZR 526/96).
2.2
Beruht die Vertragspflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten der Arbeitnehmerin, ist
grundsätzlich davon auszugehen, dass ihr künftiges Verhalten schon durch die
Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst
werden kann. Die ordentliche wie die außerordentliche Kündigung wegen einer
Vertragspflichtverletzung setzen deshalb regelmäßig eine Abmahnung voraus. Sie dient
der Objektivierung der negativen Prognose (BAG, Urteil vom 23. Juni 2009 - 2 AZR
283/08). Ist der Arbeitnehmer ordnungsgemäß abgemahnt worden und verletzt er
dennoch seine arbeitsvertraglichen Pflichten erneut, kann regelmäßig davon
ausgegangen werden, es werde auch zukünftig zu weiteren Vertragsstörungen kommen
(BAG, Urteil vom 13. Dezember 2007 - 2 AZR 818/06). Dass die eigenmächtige
Urlaubsnahme eine gravierende Pflichtverletzung wäre und dass die Beklagte nicht
bereit sein würde, derartige Verhaltensweisen ohne Konsequenzen für das Bestehen des
Arbeitsverhältnisses hinzunehmen, musste sich der Klägerin spätestens durch das
Schreiben der Beklagten vom 18. Februar 2010 aufdrängen, mit dem sie über die
Rechtslage und insbesondere auch über die ihr drohenden Konsequenzen einschließlich
der Kündigung des Arbeitsverhältnisses unterrichtet wurde. Eine derartige „antizipierte
Abmahnung“ hat zwar nicht ohne weiteres dieselbe Warn- und Rügefunktion wie eine
echte Abmahnung, kann im Einzelfall bei der Prüfung der Erfolgsaussichten einer
Abmahnung aber ein dem Arbeitnehmer ungünstiges Ergebnis rechtfertigen (vgl. BAG,
Urteil vom 5. April 2001 -- 2 AZR 580/99).
Nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist eine fristlose Kündigung nicht
gerechtfertigt, wenn es mildere Mittel gibt, eine Vertragsstörung zu ahnden. Dieser
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gerechtfertigt, wenn es mildere Mittel gibt, eine Vertragsstörung zu ahnden. Dieser
Aspekt hat grundsätzlich durch die Regelung des § 314 Abs. 2 BGB iVm. § 323 Abs. 2
BGB eine gesetzgeberische Bestätigung erfahren (vgl. zuletzt BAG, Urteil vom 10. Juni
2010 - 2 AZR 541/09). Einer Abmahnung bedarf es in Ansehung des
Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes deshalb nur dann nicht, wenn eine
Verhaltensänderung in Zukunft selbst nach Abmahnung nicht zu erwarten steht oder es
sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass eine Hinnahme durch den
Arbeitgeber offensichtlich - auch für den Arbeitnehmer erkennbar - ausgeschlossen ist
(vgl. BAG, Urteil vom 23. Juni 2009 - 2 AZR 103/08).
2.3
Aufgrund der Missachtung der antizipierten Abmahnung vom 18. Februar 2010 durch die
Klägerin ist davon auszugehen, dass die Klägerin auch durch eine „echte“ Abmahnung
nach Rückkehr aus dem eigenmächtigen Urlaub insoweit nicht wieder zu einem
vertragsgemäßen Verhalten zurückgekehrt wäre. Sie hat vielmehr durch ihr Schreiben
vom 9. März 2010 deutlich gemacht, dass sie meinte sich nach wie vor im Recht zu
befinden und hat sich sogar weiteren Urlaub eigenmächtig „genehmigt“. Auch wenn
insoweit der Personalrat von der Beklagten nicht mehr beteiligt worden ist, konnte dieses
doch vom Landesarbeitsgericht - erschwerend - berücksichtigt werden. Nachträglich
eingetretene Umstände können nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts für
die gerichtliche Beurteilung eines Sachverhaltes insoweit von Bedeutung sein, wie sie die
Vorgänge, die zur Kündigung geführt haben, in einem neuen Licht erscheinen lassen.
Dazu müssen zwischen den neuen Vorgängen und den alten Gründen so enge innere
Beziehungen bestehen, dass jene nicht außer Acht gelassen werden können, ohne dass
ein einheitlicher Lebensvorgang zerrissen würde. Zwar darf eine ursprünglich
unbegründete Kündigung durch die Berücksichtigung späteren Verhaltens nicht
rückwirkend zu einer begründeten werden (vgl. BAG, Urteil vom 10. Juni 2010 - 2 AZR
541/09), aber durch die Missachtung der antizipierten Abmahnung hat die Klägerin
bereits den „alten Grund“ gelegt und mit der Reaktion vom 9. März 2010 keinen neuen,
sondern nur den insoweit fortgesetzten Lebenssachverhalt beschrieben.
2.4
Dennoch ist unter Berücksichtigung der Interessen beider Seiten eine fristgemäße
Kündigung die ausreichende und angemessene Reaktion auf das massive Fehlverhalten
der Klägerin.
2.4.1
Einerseits sind für die vertragsbezogenen Interessen des Arbeitgebers insbesondere das
Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragsverletzung der Arbeitnehmerin sowie eine
mögliche Wiederholungsgefahr und der Grad des Verschuldens der Arbeitnehmerin von
Bedeutung. Betriebliche Interessen des Arbeitgebers werden insbesondere verletzt,
wenn der Betriebsablauf konkret gestört oder dem Produktionszweck geschadet wird. Im
Einzelfall können auch Gesichtspunkte der Betriebsdisziplin, das heißt generalpräventive
Motive des Arbeitgebers, eine Rolle spielen (BAG, Urteil vom 4. Juni 1997 - 2 AZR
526/96).
Andererseits sind die bisherigen Leistungen und die Bewährung der Arbeitnehmerin im
Betrieb zu ihren Gunsten zu verwerten. Auch die Chancen auf dem Arbeitsmarkt als
personenbedingtes Interesse der Arbeitnehmerin sind zu berücksichtigen (vgl.
insgesamt dazu KR-Fischermeier § 626 BGB, Rd-Nr. 240 m.w.N.).
2.4.2
Unter Berücksichtigung all dieser Aspekte ging die Kammer davon aus, dass eine
fristlose Kündigung nicht gerechtfertigt ist.
Das Arbeitsverhältnis wurde seit mehr als 31 Jahren beanstandungsfrei durchgeführt. Die
Klägerin hatte mit der Ankündigung des Reha-Antrages am 5. Januar 2010 sowie der
ärztlich bescheinigten Notwendigkeit einer weiteren Stabilisierung ihres
Gesundheitszustandes hinreichend deutlich gemacht, dass sie zum Zeitpunkt des
eigenmächtigen Urlaubsantritts noch nicht wieder vollständig genesen war und sie
jedenfalls subjektiv meinte, der Urlaubsreise „in den Süden“ zu bedürfen. Dieses lässt
die Beharrlichkeit des eigenmächtigen Verhaltens der Klägerin in einem etwas milderen
Licht erscheinen. Eine Verwertung der bisher von der Klägerin erworbenen Kenntnisse
und Erfahrungen in einem anderen Arbeitsverhältnis hielt die Kammer sowohl unter
fachlichen Aspekten wie auch aufgrund des Alters der Klägerin für weitestgehend
ausgeschlossen. Denn insoweit war die Klägerin in ihrem gesamten beruflichen Leben
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ausgeschlossen. Denn insoweit war die Klägerin in ihrem gesamten beruflichen Leben
und auch bei dem vorgeschalteten Studium bereits völlig auf den sehr speziell tätigen
Betrieb der Beklagten ausgerichtet. Etwaigen Aspekten der Betriebsdisziplin kann die
Beklagte durch eine Umsetzung der Klägerin in einen anderen Bereich begegnen.
Konkrete Betriebsablaufstörungen sind weder vorgetragen noch anderweitig ersichtlich.
Deshalb ging die Kammer davon aus, dass auch eine fristgemäße Kündigung geeignet
ist, den mit der außerordentlichen Kündigung der Beklagten verfolgten Zweck - die
Vermeidung des Risikos künftiger Störungen - zu erreichen.
2.5
Da das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien aufgrund der tariflichen Regelung des §
39 Abs. 2 TV-BA ordentlich nicht mehr kündbar ist, kam - unabhängig von der insoweit
auch unterlassenen Anhörung des Personalrates - eine Umdeutung der
außerordentlichen in eine ordentliche Kündigung nicht mehr in Betracht. Somit war das
arbeitsgerichtliche Urteil abzuändern und der Fortbestand des Arbeitsverhältnisses der
Parteien festzustellen.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 64 Abs.6 ArbGG in Verbindung mit § 91 ZPO. Die
Beklagte hat als unterlegene Partei die Kosten des Rechtsstreits zu tragen. Der
Streitwert für das Berufungsverfahren entspricht dem Umfang des eingelegten
Rechtsmittels.
Die Zulassung der Revision gemäß § 72 Abs.2 ArbGG kam nicht in Betracht, da die
gesetzlichen Voraussetzungen nicht vorgelegen haben.
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