Urteil des LAG Berlin-Brandenburg vom 09.08.2006

LArbG Berlin-Brandenburg: werkstatt, urlaub, behinderung, arbeitsgericht, mensch, vergleich, stamm, behinderter, quelle, sammlung

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Gericht:
LArbG Berlin-
Brandenburg 5.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
5 Sa 1861/06
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 125 SGB 9, § 136 Abs 1 SGB 9,
§ 2 Abs 2 SGB 9
(Zusatzurlaub nach § 125 SGB 9 - Werkstatt für Behinderte)
Leitsatz
In einer Werkstatt für Behinderte hat der Arbeitgeber bei der Gewährung des Zusatzurlaubs
nach § 125 SGB IX zwischen den behinderten und den schwerbehinderten
Werkstattbeschäftigten zu differenzieren.
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 09.08.2006
- 77 Ca 24179/05 – abgeändert:
1. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger 35 Tage
bezahlten Urlaub im Jahr zu gewähren.
2. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.
II. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Gewährung des Zusatzurlaubs nach § 125 SGB IX für den in
einer Werkstatt für Behinderte tätigen Kläger..
Der schwerbehinderte Kläger ist 49 Jahre alt (… 1957) und seit dem 21. März 2004 bei
der Beklagten aufgrund eines Werkstattvertrages vom 6. Februar 2004 beschäftigt. In
diesem Werkstattvertrag ist u.a. geregelt, dass der Mitarbeiter Anspruch auf derzeit 30
Tage Erholungsurlaub besitze und dabei der Anspruch nach § 47 SchwBG bereits
berücksichtigt sei. (§ 47 SchwBG wurde am 1. Juli 2001 von § 125 SGB IX abgelöst).
In einem Schreiben des für den Kläger zuständigen Bezirksamtes vom 4. April 2005 hat
dieses ausgeführt, dass bei der Berechnung des Kostenbeitrags für das Mittagessen in
einer teilstationären Einrichtung eine Berechnungsformel angewandt worden sei, die von
254 Arbeitstagen, 35 Urlaubstagen und 15 Krankheitstagen ausgehe.
Der Kläger hat bestritten, dass Beschäftigte der Werkstatt, die keinen Anspruch auf
Zusatzurlaub nach § 125 SGB IX hätten, weniger als 30 Urlaubstage erhalten würden.
Die Beklagte hat vorgetragen, dass im Werkstattbereich ausschließlich schwerbehinderte
Menschen oder diesen Gleichgestellte im Rahmen von bezuschussten
Eingliederungsmaßnahmen tätig seien. Mit diesen sei der Kläger vergleichbar und werde
gleich behandelt. Auf die Arbeitsverhältnisse der in der Verwaltung und als Betreuer
tätigen Mitarbeiter werde der BMT-AW II angewendet. Mit diesen Arbeitnehmern sei der
Kläger nicht vergleichbar.
Die Beklagte beschäftige ausschließlich solche Personen im Rahmen von
Eingliederungsmaßnahmen in der Werkstatt, für die die zuständigen
Sozialleistungsträger die Betreuungskosten für die Eingliederungsmaßnahmen
übernähmen. Das sei wiederum nur bei objektiv schwerbehinderten Personen der Fall.
Von der weiteren Darstellung des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes wird gemäß
§ 69 Abs. 2 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) abgesehen.
Das Arbeitsgericht hat die Klage mit am 9. August 2006 verkündetem Urteil abgewiesen.
Es hat zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, dass Ausgangspunkt für die
Berechnung des Urlaubs der Urlaubsumfang nicht schwerbehinderter Menschen in
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Berechnung des Urlaubs der Urlaubsumfang nicht schwerbehinderter Menschen in
gleicher Lage sei. Dieses seien hier aber nur die in der nach §§ 136 SGB IX in der
Werkstatt Beschäftigten. Wenn dann für alle vergleichbaren Mitarbeiter der Zusatzurlaub
in den Jahresurlaub eingerechnet werde, weil man davon ausgehe, dass alle einen
entsprechenden Anspruch besäßen, sei das nicht zu beanstanden. Sofern die Annahme
der Beklagten, dass sie nur schwerbehinderte Menschen in der Werkstatt beschäftige, im
Einzelfall falsch sei, ändere das nichts an der Natur des Zusatzurlaubs. Es handele sich
nicht um die Anrechnung auf freiwilligen Urlaub, sondern nur um die Inkaufnahme der
Gewährung von zu viel Urlaub. Das Schreiben des Bezirksamtes sei ohne Belang. Das
Arbeitsgericht hat die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.
Gegen dieses dem Kläger am 19. September 2006 zugestellte Urteil hat der Kläger am
16. Oktober 2006 Berufung eingelegt und diese am 1. November 2006 begründet.
In der Berufungsbegründung führt der Kläger aus, dass er es nicht für ausreichend
erachte, wenn die Beklagte pauschal davon ausgehe, nur schwerbehinderte Menschen
als Werkstattmitarbeiter zu beschäftigen, ohne sich die Schwerbehinderung von jedem
einzelnen Mitarbeiter nachweisen zu lassen. Dass das Arbeitsgericht angenommen
habe, dass die Zuvielgewährung von Urlaub im Einzelfall unerheblich sei, sei ein Verstoß
gegen § 125 SGB IX. Das Gericht habe sich auch nicht mit dem Schreiben des
Bezirksamtes auseinandergesetzt.
Der Kläger und Berufungskläger beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 9. Oktober 2006 – 77 Ca 24179/05 –
abzuändern und festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger 35 Tage
bezahlten Urlaub im Jahr zu gewähren.
Die Beklagte und Berufungsbeklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
In der Berufungserwiderung wiederholt die Beklagte ihren erstinstanzlichen Vortrag. Auch
handele es sich nur um die Inkaufnahme der Gewährung von zu viel Urlaub, wenn im
Einzelfall ein Werkstattmitarbeiter doch nicht schwerbehindert sein sollte.
Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien in der Berufungsinstanz wird auf den
vorgetragenen Inhalt der Berufungsbegründung vom 1. November 2006 sowie der
Berufungsbeantwortung vom 14. Dezember 2006 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
I.
Die nach § 64 Abs. 2 ArbGG statthafte Berufung der Beklagten ist form- und fristgerecht
im Sinne der §§ 66 Abs. 1 ArbGG, 519, 520 Zivilprozessordnung (ZPO) eingelegt und
begründet worden.
II.
Die Berufung hat auch in der Sache Erfolg.
Der Kläger hat Anspruch auf weitere 5 Tage Zusatzurlaub über den vertraglich
vereinbarten Urlaub von 30 Tagen hinaus.
1. Die Werkstatt für behinderte Menschen ist nach § 136 Abs.1 Satz 1 SGB IX eine
behinderter
erfolgt die Aufnahme in die Werkstatt für Behinderte u.a. unabhängig von der Schwere
Schwerbehinderte
auf einen bezahlten zusätzlichen Urlaub.
Die Eingliederung ins und die Teilhabe am Arbeitsleben für behinderte Menschen (nicht
nur schwerbehinderte und schon gar nicht nur solche mit Ausweis), die wegen ihrer
Behinderung nicht, noch nicht oder noch nicht wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
(Betrieb oder Dienststelle oder Integrationsprojekt) beschäftigt werden können, ist
Aufgabe der Werkstatt für behinderte Menschen (vgl. Cramer, Die Neuerungen im
Schwerbehindertenrecht des SGB IX - Gesetz zur Förderung der Ausbildung und
Beschäftigung schwerbehinderter Menschen, NZA 2004, 698, 712). Die Aufnahme in
eine Werkstatt für Behinderte setzt danach lediglich eine Behinderung im Sinne des § 2
Abs.1 SGB IX voraus.
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Nach § 2 Abs.1 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige
Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs
Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre
Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung
bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.
Der Zusatzurlaub setzt aber nicht nur eine solche Behinderung, sondern eine
Schwerbehinderung voraus.
Nach § 2 Abs.2 SGB IX sind Menschen im Sinne des Teils 2 des Gesetzes
schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt
und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem
Arbeitsplatz im Sinne des § 73 rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches
haben.
Für die Anwendung des Teils 2 des SGB IX ist aber eine besondere Feststellung des
Grades der Behinderung keine konstitutive Voraussetzung. Vielmehr gilt auch nach § 2
Abs. 2, dass die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch kraft Gesetzes bei Vorliegen
des entsprechenden Grades der Minderung um wenigstens 50 eintritt und es einer
behördlichen Anerkennung dafür nicht bedarf (Neumann/Pahlen/Majerski-Pahlen,
Sozialgesetzbuch IX § 2 RN 26 mit zahlreichen Nachweisen).
2. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (vgl. zuletzt Urteil vom
24.10.2006 – 9 AZR 669/05) soll die erhöhte Urlaubsdauer nach § 125 SGB IX die
Benachteiligung des schwerbehinderten Menschen ausgleichen und damit seine
Wettbewerbsfähigkeit im Vergleich zu den nicht behinderten Beschäftigten sichern.
Dieses Ziel werde nur erreicht, wenn der Schwerbehinderte tatsächlich mehr Urlaub
erhält als die im Betrieb beschäftigten nicht behinderten Beschäftigten. Auch wenn das
Bundesarbeitsgericht in dieser Entscheidung die maßgeblichen Begrifflichkeiten
(behinderte bzw. schwerbehinderte Menschen) nicht ganz korrekt verwendet, kann
dieser Entscheidung doch entnommen werden, dass man die Vergleichsgruppe im
Betrieb ermitteln und den Urlaubsanspruch der Vergleichsgruppe heranziehen muss.
In einer Werkstatt für Behinderte gibt es drei Gruppen von Beschäftigten, nämlich das
Stamm- oder Regiepersonal, die behinderten Werkstattbeschäftigten und die
schwerbehinderten Werkstattbeschäftigten. Maßgeblich ist hier der Vergleich der
behinderten Werkstattbeschäftigten mit den schwerbehinderten Werkstattbeschäftigten.
Denn nur für diese Beschäftigten werden Werkstattverträge verwendet. Die
tarifunterworfenen Arbeitsverhältnisse des Stamm- oder Regiepersonals sind aufgrund
ihres völlig andersartigen Beschäftigungsinhalts nicht vergleichbar.
Wie die Beklagte sowohl in der Berufungserwiderung wie auch in der
Berufungsverhandlung ausgeführt hat, geht die Beklagte davon aus, dass die in ihrer
Werkstatt beschäftigten behinderten Menschen allesamt auch schwerbehindert sind. Auf
den Nachweis der Schwerbehinderung kommt es ihr aber nicht an. Alle
Werkstattmitarbeiterinnen und –mitarbeiter erhalten die gleichen Werkstattverträge.
Soweit dabei auch ein „nur“ behinderter, aber nicht schwerbehinderter Mensch im
gleichen Umfang Urlaub gewährt bekommt, handelt es sich nach Ansicht der Beklagten
nur um die Inkaufnahme von zu viel gewährtem Urlaub, ändert aber nichts an der Natur
des Zusatzurlaubs.
Aufgrund dieser Ausführungen der Beklagten steht für die Kammer fest, dass die
Beklagte allen Werkstattbeschäftigten unabhängig von dem Grad der Behinderung den
gleichen Jahresurlaub inklusive des Zusatzurlaubs nach § 125 SGB IX gewährt. Die
Beklagte geht zwar davon aus, dass die Werkstattbeschäftigten allesamt
schwerbehinderte Menschen seien, letztlich wird dieses jedoch nicht geprüft und spielt
auch in der Einstellungs- und Vertragspraxis keine Rolle. Rechtliche Voraussetzung für
die Beschäftigung in der Werkstatt ist eine Schwerbehinderung nicht. Damit wird aber
der Zweck des Zusatzurlaubs nicht erreicht. Denn wenn alle behinderten
Werkstattbeschäftigten den Zusatzurlaub erhalten, wird der Ausgleich für die besondere
Benachteiligung von schwerbehinderten Werkstattbeschäftigten vereitelt.
3. Soweit der Kläger sich allerdings auf das Schreiben des Bezirksamtes vom 4. April
2005 bezog, vermochte dieses seinen Anspruch nicht zu begründen. Zutreffend hat das
Arbeitsgericht festgestellt, das dieses Schreiben ohne Belang sei. Denn in diesem
Schreiben hat das Bezirksamt lediglich eine Berechnungsformel zur Berechnung des
Kostenbeitrags für das Mittagessen erwähnt. Die Formel dient lediglich der
Pauschalierung und begründet keinerlei Anspruch für den Kläger.
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III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 64 Abs. 6 ArbGG in Verbindung mit § 91 ZPO. Als
unterlegene Partei hat die Beklagte die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Die Zulassung der Revision gemäß § 72 Abs.2 ArbGG kam nicht in Betracht, da die
gesetzlichen Voraussetzungen nicht vorgelegen haben.
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