Urteil des LAG Baden-Württemberg vom 16.09.2015

ordentliche kündigung, betriebsrat, unwirksamkeit der kündigung, akte

LArbG Baden-Württemberg Urteil vom 16.9.2015, 17 Sa 48/14
Sonderkündigungsschutz des Schwerbehinderten - Verwirkung -
Betriebsratsanhörung - Mitteilung entlastender Umstände - Wesentliche
Änderung des dem Betriebsrat mitgeteilten Sachverhalts - Wiederholung der
Betriebsratsanhörung - Auflösungsantrag des Arbeitgebers
Leitsätze
Die Betriebsratsanhhörung ist zu wiederholen, wenn sich vor Ausspruch der
Kündigung der dem Betriebsrat im ersten Anhörungsverfahren unterbreitete
Sachverhalt in wesentlichen Punkten zugunsten des Arbeitnehmers geändert hat (im
Anschluss an BAG 20.01.2000 - 2 AZR 378/99, 11.03.1998 - 2 AZR 401/97;
18.05.1994 - 2 AZR 626/93; 28.06.1984 - 2 AZR 217/83; 01.04.1981 - 7 AZR 1003/78;
26.05.1977 - 2 AZR 201/76). Eine solche wesentliche Änderung ist jedenfalls dann
gegeben, wenn bei einer auf zahlreiche einzelne Vorwürfe gestützten Kündigung dem
Betriebsrat mitgeteilt wird, der Arbeitnehmer habe sich auf eine schriftliche Anhörung
nicht geäußert, und der Arbeitnehmer kurz darauf im Rahmen einer Verhandlung vor
dem Integrationsamt eine umfangreiche schriftliche Stellungnahme abgibt.
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart (14 Ca
6190/13) vom 02.07.2014 im Kostenpunkt aufgehoben, im übrigen abgeändert und
zur Klarstellung wie folgt neu gefasst:
1. Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis
durch die fristlose Kündigung vom 13.08.2013 nicht beendet worden ist.
2. Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis
durch die ordentliche Kündigung vom 13.08.2013 zum 31.03.2014 nicht beendet
worden ist.
3. Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis
durch die fristlose Kündigung vom 26.09.2013 nicht beendet worden ist.
4. Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis
durch die ordentliche Kündigung vom 28.10.2013 zum 30.06.2014 nicht beendet
worden ist.
5. Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.
III. Der Auflösungsantrag der Beklagten wird zurückgewiesen.
IV. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
V. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten um eine fristlose, hilfsweise ordentliche Kündigung der
Beklagten vom 13.08.2013, eine fristlose Kündigung der Beklagten vom
26.09.2013 und um eine vorsorgliche ordentliche Kündigung der Beklagten vom
08.10.2013.
2
Der am 00.00.0000 geborene, ledige und keiner Person zum Unterhalt
verpflichtete Kläger ist seit dem 01.04.1996 bei der Beklagten beschäftigt, zuletzt
seit 01.12.2008 als Leiter Revision Bereich Corporate Audit zu einem
durchschnittlichen Bruttojahresentgelt in Höhe von 100.000,00 EUR (E 4). Die
Beklagte beschäftigt ständig weit mehr als zehn Arbeitnehmer im Sinne des
Kündigungsschutzgesetzes. Es ist ein Betriebsrat gebildet.
3
Am 27.06.2013 wurde beim Kläger eine Leukämie-Erkrankung diagnostiziert. Auf
seinen Antrag vom 28.06.2013 wurde der Kläger mit Bescheid vom 03.09.2013
mit einem Grad der Behinderung von 70 als schwerbehinderter Mensch
anerkannt.
4
Die Beklagte verdächtigte den Kläger, vertrauliche Informationen an
unberechtigte externe Dritte weitergegeben zu haben. Deshalb wurde dem Kläger
am 02.05.2013 mitgeteilt, dass sein dienstlicher Rechner und das dienstliche
Mobiltelefon (BlackBerry) einer Untersuchung unterzogen werden sollten. Der
Kläger gab den Dienstrechner und sein dienstliches Mobiltelefon heraus und
erklärte, dass auf seinem Dienstrechner nichts gefunden werden würde. In der
Folge gab der Kläger jeweils auf Aufforderung von Mitarbeitern der Beklagten
mehrere Passwörter bekannt. Den Umgang mit den Passwörtern regelt bei der
Beklagten das „Security Compendium“ unter Ziff. 3 „Zugriffskontrollen“ (Bl. 529
der erstinstanzlichen Akte). Mit E-Mail vom 06.05.2013 (Bl. 347 der
Berufungsakte) wurde der Kläger aufgefordert, unberechtigte bzw. nicht mehr
benötigte Daten zusammen mit Information Security zu bereinigen, was am
14.05.2013 erfolgte. Die Beklagte beauftragte die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft
B. mit der computerforensischen Untersuchung des Laptops des Klägers. Diese
Untersuchung wurde durch einen am 24.07.2013 an die Beklagte übersandten
finalen Bericht abgeschlossen. In der Zwischenzeit stellte die Beklagte weitere
Ermittlungen an.
5
Am 04.06.2013 wurde der Kläger zu verschiedenen gegen ihn erhobenen
Vorwürfen angehört. Ihm wurde zu Beginn des Gesprächs mitgeteilt, dass er als
Beschuldigter einer Untersuchung geführt werde. Auf den Inhalt des
Interviewprotokolls (Bl. 249 der erstinstanzlichen Akte) wird auch hinsichtlich der
dort anwesenden Personen Bezug genommen. Es heißt dort u. a.:
6
„Vorhalt/Frage:
Wir haben auf Ihrem Computer eine Aufstellung zu
Sonderbetriebsausgaben der R. S. GbR gefunden. Es geht hier um Fahrten von
E. nach U. mit einem PkW. Um was handelt es sich hier genau?
7
Antwort:
Es handelte sich hierbei um private Fahrten für die GbR. …
8
9
Ich kann Ihnen gleich sagen, das Kfz-Kennzeichen, das ich hier angegeben
habe, gehört nicht zu meinem Dienstwagen.
10
Frage:
Wir sind noch dabei, dies zu überprüfen. Aber wenn ich Sie richtig
verstehe, wollen Sie uns sagen, das wenn wir uns die Tankbelege Ihres
Dienstwagens anschauen, wir in diesem Zusammenhang nichts finden werden?“
11 Auf dem Dienstrechner des Klägers wurde im Ordner „DW“ - Dienstwagen - eine
Aufstellung der Betankungen seines Dienstwagens im Zeitraum Februar bis
Dezember 2012 einschließlich des jeweiligen Kilometerstands, der getankten
Menge, der jeweiligen Tankkosten sowie des Verbrauchs auf 100 km gefunden
(Bl. 142 der erstinstanzlichen Akte). Im Zeitraum Februar 2012 bis Januar 2013
wurde der Dienstwagen des Klägers 89 mal betankt. 88 Betankungen erfolgten
entgegen einer Vorgabe der Beklagten nicht an internen Tankstellen der
Beklagten, sondern an externen. Der Kraftstofftank für den Dienstwagen des
Klägers (Modell ML 350 BlueTEC 4MATIC) hatte eine ausgewiesene Kapazität
von 93 Litern. Im untersuchten Zeitraum wurden 14 Betankungen mit einem
Füllvolumen von mehr als 93 Liter vorgenommen (vgl. die Aufstellung Bl. 389 der
erstinstanzlichen Akte). Der Kläger tankte am 05.11.2012 99,70 Liter, am
25.11.2012 101,38 Liter, am 28.12.2012 101,17 Liter und am 19.01.2013 99,61
Liter. Die Betankungen erfolgten jeweils mit einer ihm von der Beklagten
ausgehändigten Tankkarte. Die Tankkartenabrechnungen wurden zu keinem
Zeitpunkt beanstandet.
12 Am 13.06.2013 sprach die Beklagte mit Herrn U. N. aus der Abteilung RD/KEE
(Entwicklungsabteilung, Testing und Applikation Energieträgersysteme). Herr N.
überprüfte das maximale Tankvolumen. Hierfür nahm er ein identisches Modell
mit einem Tank von 93 Liter. Er ermittelte ein maximales Tankvolumen von 93
Liter bei leerem Tank. Bis zum ersten Abschalten der Zapfsäule konnten maximal
93 Liter getankt werden. Herr N. stellte auch fest, dass durch „unübliches“ Tanken
(langsame Fließgeschwindigkeit des Kraftstoffes, 15maliges Betätigen der
Zapfpistole) größere Mengen in das System eingefüllt werden können.
13 Zum zeitlichen Ablauf der weiteren von der Beklagten angestellten Ermittlungen
wird auf deren Sachvortrag (ab Bl. 398 der erstinstanzlichen Akte) verwiesen.
14 Die Nutzung betrieblicher Informations- und Kommunikationseinrichtungen der
Beklagten zu geschäftlichen und privaten Zwecken regelt die sog. „Internet- und
E-Mail-Richtlinie“ (Bl. 901 der Berufungsakte). Darin heißt es u.a.:
15
„3. Prinzipien der Internet- und E-Mail-Nutzung
16
Die Nutzung des betrieblichen Internetzuganges sowie der E-Mail-Systeme ist für
geschäftliche Zwecke vorgesehen. Eine private Nutzung ist nur erlaubt, soweit
dadurch die Arbeitsaufgabe bzw. Aufgabenerfüllung nicht beeinträchtigt wird
sowie betriebliche Belange und Abläufe nicht gestört werden. Sie ist daher nur
mit Zustimmung des Vorgesetzten zulässig. Die vom Unternehmen zur privaten
Nutzung außerhalb der Arbeitszeit angebotenen Internetzugänge bleiben hiervon
unberührt. Für Fremdmitarbeiter außerhalb des D.-Konzerns ist die private
Nutzung untersagt.
17
Die vom Unternehmen im Rahmen des Mitarbeiter-Portals den Mitarbeiter zur
Verfügung gestellten internen betrieblichen Anwendungen (z.B. e-people Self-
Service-Funktionen, Belegschaftsaktienprogramm, Firmenangehörigengeschäft
etc.) dürfen unabhängig von den vorstehend genannten Regelungen zur
Internet-Nutzung auch während der Arbeitszeit genutzt werden, soweit
betriebliche Belange und Abläufe hierdurch nicht gestört werden.
18
Soweit danach das Internet zu privaten Zwecken genutzt wird, darf der Download
von Dokumenten aus dem Internet nicht zu einer die betrieblichen Belange
beeinträchtigenden Belastung der Serverkapazitäten führen. Bei Zweifeln über
die Auswirkungen eines geplanten Download auf die Systeme ist daher der
Vorgang zu unterlassen oder auf eine Druckversion zu beschränken.
19
4.Pflichten bei der Nutzung von Internet und E-Mail
20
Jeder Internet-Nutzer hart die Pflicht, die Internet-Dienste verantwortungsbewusst
anzuwenden, da die Internet-Nutzung erhebliche Kosten verursacht. Dies
geschieht zum einen durch die Bereitstellung von Netz- und Rechnerkapazitäten
sowie von IV-Sicherheitseinrichtungen, zum anderen durch den
Arbeitszeitaufwand und eventuelle Beeinträchtigungen der Arbeitsproduktivität,
die durch das „Surfen“ im Internet entstehen können. Trotz der eingesetzten
Sicherheitseinrichtungen bleiben Gefahren und Risiken der Internet-Nutzung
bestehen, die nur durch einen verantwortungsbewussten Umgang mit den
Internet-Diensten reduziert werden können.
...
21
In keinem Fall darf eine Internet- oder E-Mail-Nutzung - privat oder geschäftlich -
missbräuchlichen Zwecken dienen oder den Betriebsablauf stören; unzulässig ist
daher insbesondere der upload/download von pornographischen, beleidigenden,
gewaltverherrlichenden, politisch radikalen, die religiösen, ethnischen oder die
sexuellen Gefühle verletzenden oder diskriminierenden Schriften, Bildern oder
anderen Dateien.
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5.Regelungen für Elektonic Mail
23
Mit Zustimmung des Vorgesetzten darf E-Mail in geringem Umfang auch für die
private interne und externe Kommunikation genutzt werden. Der Mitarbeiter darf
seine D E-Mail Adresse jedoch nicht benutzen, um für private oder andere
Zwecke nichtdienstlicher Natur den Eindruck zu erwecken, er handele für oder im
Auftrage von D.
24
In keinem Fall darf eine private Nutzung missbräuchlichen Zwecken dienen oder
den Betriebsablauf stören. Unzulässig ist insbesondere die Verbreitung
pornografischer, beleidigender, gewaltverherrlichender, politisch radikaler, die
religiösen, ethnischen oder die sexuellen Gefühle verletzender oder
diskriminierender Schriften oder Bilder. Ebenso unzulässig ist die Nutzung des D.
E-Mail-Systems zu privaten gewerblichen Zwecken oder zur Werbung für private
oder für Zwecke Dritter, es sei denn es liegt eine ausdrückliche Erlaubnis der D.
AG vor. Bei der Versendung von Dateianhängen zu privaten Zwecken darf im
Hinblick auf deren Umfang der übliche Rahmen nicht überschritten werden.
25
E-Mails privaten Inhalts können mit „privat“ in der Betreffzeile gekennzeichnet
werden. Als privat gekennzeichnete E-Mails dürfen von Dritten grundsätzlich
nicht geöffnet, weitergeleitet oder gespeichert werden.
26
Als privat gekennzeichnete E-Mails dürfen nur dann kontrolliert werden, wenn
neben der Information des Betriebsrates zusätzlich der betriebliche
Datenschutzbeauftragte nach Prüfung der schriftlich zu dokumentierenden
tatsächlichen Anhaltspunkte für den Verdacht einer missbräuchlichen Nutzung
der Kontrolle zugestimmt hat. Die betriebsinterne Kontrolle kann nur mit
Zustimmung des Mitarbeiters oder veranlasst durch Strafverfolgungsbehörden
erfolgen. Bei Verweigerung der Zustimmung kann dem Mitarbeiter die private
Nutzung künftig untersagt werden. Im übrigen gilt die Regelung in Ziffer 6.“
27 Der Kläger nutzte Internet und E-Mail in einem zwischen den Parteien streitigen
Umfang während der Arbeitszeit privat und für Angelegenheiten der R. GmbH und
der R. S. GbR sowie für die Durchführung von Finanztransaktionen. Ausweislich
der Zeitabrechnung (Anlage B 18, im Anlagenordner) leistete der Kläger im Monat
April 2013 6,32 Stunden Mehrarbeit.
28 Mit E-Mail vom 20.06.2013 (Bl. 267 der erstinstanzlichen Akte) wandte sich Frau
W. von der Personalabteilung der Beklagten wie folgt an den Kläger:
29
„Sehr geehrter Herr R.,
wie von Ihnen gewünscht wird mein Sekretariat einen weiteren Termin kurzfristig
vereinbaren.
Weiterhin sende ich Ihnen das Interviewprotokoll zu.
Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass sich der Untersuchungsumfang seitens B.
um die Punkte
- Verdacht auf Zeitbetrug
- potentieller Tankabrechnungsbetrug
erweitert hat.“
30 Das B. (B.) ist die Stelle der Beklagten, die darüber wacht, dass die intern
vorgeschriebenen Verfahren für Untersuchungen eingehalten werden. Dies
betrifft insbesondere die Konzernbetriebsvereinbarung zu Rechten und Pflichten
bei unternehmensinternen Untersuchungen im Zusammenhang mit
Regelverstößen, sogenannte „Untersuchungsrichtlinien“ (Bl. 885 der
Berufungsakte).
31 Mit Schreiben vom 03.07.2013 (Bl. 419 der Berufungsakte) wurde der Kläger auf
den 10.07.2013 zu einem Personalgespräch eingeladen. Hierauf antwortete der
Klägervertreter mit Schreiben vom 08.07.2013 (Bl. 420 der Berufungsakte) wie
folgt:
32
„… wie Sie wissen, ist Herr R. gegenwärtig arbeitsunfähig krank. Die
Arbeitsunfähigkeit währt nach bisherigen Erkenntnissen bis einschließlich 19. Juli
2013. Herr R. ist aufgrund seiner Erkrankung gegenwärtig nicht in der Lage, an
einem Personalgespräch teilzunehmen.“
33 Mit Schreiben vom 10.07.2013 (Bl. 421 der Berufungsakte), das links von Herrn
M. N. unterzeichnet ist, wurde der Kläger erneut auf den 25.07.2013 zu einem
Personalgespräch eingeladen. Der Gegenstand des Personalgesprächs wurde
nicht mitgeteilt. Der Klägervertreter antwortete hierauf mit E-Mail am 18.07.2013
wie folgt:
34
„Herr R. teilt mir mit, dass die Arbeitsunfähigkeit bis 23. August 2013 andauert.
Herr R. sieht sich deshalb leider nicht in der Lage, das auf den 25. Juli 2013
anberaumte Personalgespräch wahrzunehmen.“
35 Die Beklagte beauftragte die Kanzlei G. L. mit der Sachverhaltsermittlung. G. L.
legte am 30.07.2013 der Rechtsabteilung der Beklagten den
Untersuchungsbericht vor. Die Rechtsabteilung leitete am 31.07.2013 den Bericht
an das B. weiter, das den Bericht prüfte und den ermittelten Sachverhalt am
01.08.2013 an den bei der Beklagten für die arbeitsrechtliche Bewertung solcher
Sachverhalte zuständigen Arbeitsrechtler Herrn Dr. N. weiterleitete. Dieser kam
zu dem Ergebnis, dass aufgrund des Sachverhalts eine außerordentliche fristlose
Kündigung in Betracht kam. Das B. gab den Bericht einschließlich der Bewertung
am 08.08.2013 an die kündigungsberechtigten Herren N. und Sch. weiter.
36 Mit Schreiben vom 08.08.2013 (Bl. 175 der erstinstanzlichen Akte) hörte die
Beklagte den Betriebsrat zu einer beabsichtigten außerordentlichen, hilfsweise
ordentlichen Kündigung an. Darin heißt es u. a.:
37
„C. BEZUG VON KRAFTSTOFF
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I. Sachverhalt: Erhöhter Kraftstoffbezug
39
… der als Sonderausstattung erhältliche, im Dienstwagen standardmäßig
verbaute Kraftstofftank hat eine Kapazität von 93 Litern
(Vertriebsgrundausstattung). Es liegen im untersuchten Zeitraum 14
Betankungen mit einem Füllvolumen von mehr als 93 Litern vor, davon zwei
Fälle mit einer Füllmenge von mehr als 99,5 Litern und zwei Vorgänge mit einer
Füllmenge von etwas mehr als 101 Litern.“
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I. ANHÖRUNG
42
Herr R. wurde am 04.06.2013 in Begleitung seines Rechtsanwalts, Herrn Prof.
N., zu den festgestellten Nebentätigkeiten angehört. Zum damaligen Zeitpunkt
war das Ausmaß seiner Befassung damit noch nicht bekannt. Auch die
auffälligen Betankungen waren damals noch nicht bekannt. Eine erneute
Anhörung scheiterte daran, dass Herrn R. erkrankte. Aktuell hat er eine
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bis zum 23.08.2013 vorgelegt.
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44
L. INTERESSENABWÄGUNG
45
… Was die Privatgeschäfte während der Arbeitszeit („Arbeitszeitbetrug“) betrifft,
so hat er, soweit heute noch nachweisbar, so oft seine Pflichten verletzt, dass er
sich in einem dauerhaften Konflikt zwischen privaten Interessen und dienstlichen
Pflichten befand und dabei jeweils den privaten Interessen Vorrang einräumte.
Es liegt kein Einzelfallversagen vor, sondern sein Fehlverhalten war ein
Dauerzustand.
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Besonders verwerflich ist das Fehlverhalten durch den Tankbetrug. … Selbst
wenn seine Sozialdaten eine größere Schutzbedürftigkeit indiziert hätten, würde
dieser Vertrauensbruch so schwer wiegen, dass das Interesse des
Unternehmens an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses überwiesen würde.
Erst recht überwiegt das Unternehmensinteresse, wenn wie hier keine große
Schutzbedürftigkeit besteht.
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Neben diesen beiden schweren Verfehlungen wiegen die anderen Fälle von
Fehlverhalten weniger schwer. Sie zeigen aber, dass Herr R. ein Mitarbeiter ist,
der nicht nur auf einem Gebiet sehr kritisch zu betrachten ist, sondern der
zahlreiche Pflichtverletzungen über eine große Breite von Sachverhalten gezeigt
hat.“
48 Der Betriebsrat reagierte hierauf mit der Stellungnahme des APO (Ausschuss für
Personal und Organisation vom 12.08.2013 (Bl. 203 der erstinstanzlichen Akte).
49 Mit Schreiben vom 13.08.2013 (Bl. 3 der erstinstanzlichen Akte) kündigte die
Beklagte das Arbeitsverhältnis fristlos, vorsorglich hilfsweise ordentlich zum
31.03.2014.
50 Ebenfalls mit Schreiben vom 13.08.2013 (Anlage B 27, im Anlagenordner) hörte
die Beklagte den Kläger zu verschiedenen Sachverhalten an, die ihrer
Auffassung nach zumindest den Verdacht einer Pflichtverletzung begründeten.
Sie forderte den Kläger auf, seine Stellungnahme bis zum 03.09.2013 an die E-
Mail-Adresse von Herrn N. zu übersenden.
51 Hierauf reagierte der Kläger mit Schreiben des Klägervertreters vom 29.08.2013
(Bl. 156 der erstinstanzlichen Akte), das bei der Beklagten spätestens am
06.09.2013 einging und in dem es u. a. heißt:
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„Ich weise darauf hin, dass Herr R. zurzeit einer Behandlung aufgrund einer
ernsthaften Erkrankung unterzieht, dies es Herrn R. unmöglich macht, sich mit
dem Sachverhalt zu befassen und die Vorgänge mit mir zu besprechen.
Dennoch werde ich bemüht sein, nach Rückkehr aus meinem Urlaub ab dem 09.
September 2013 Kontakt zu Herrn R. aufzunehmen, um den Versuch einer
Klärung zu unternehmen. Bei dieser Gelegenheit darf ich darauf hinweisen, dass
Herr R. wegen der ernsten Erkrankung, mit der er sich konfrontiert sieht, schon
am 28. Juni 2013 den Antrag auf Feststellung von Behinderungen nach § 69
SGB IX beim Landratsamt des Landkreises E. gestellt hat.“
53 Mit Schreiben vom 09.09.2013 (Bl. 424 der Berufungsakte) hörte die Beklagte
den Betriebsrat zu einer außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Tat-,
hilfsweise Verdachtskündigung an. Darin heißt es u. a.:
54
„Wegen der versehentlichen Doppelungen bei den Anlagen kann nicht
ausgeschlossen werden, dass das Arbeitsgericht zu der Einschätzung gelangt,
die BR-Anhörung sei fehlerhaft gewesen. Deswegen möchten wir vorsorglich
noch einmal die Zustimmung des Betriebsrats zur Tatkündigung und nunmehr
auch zur Verdachtskündigung einholen.
55
Wir hatten Herrn R. zur schriftlichen Stellungnahme eine angemessene Frist bis
zum 03.09.2013 eingeräumt. Er hat sich nicht geäußert - lediglich sein Anwalt hat
in einem anderen Zusammenhang erwähnt, dass Kündigungsschutzklage
erhoben worden sei. Diese wurde uns bislang nicht zugestellt.
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57
Diese neuerlich geplante Kündigung stützen wir auf die Sachverhalte der
exzessiven privaten (gewerbliche) Tätigkeiten während der Arbeitszeit, der
zweckfremden Nutzung von Betriebsmitteln und des Tankbetrugs.
58
Nachdem Herr R. von der Möglichkeit, den Verdacht auszuräumen, keinen
Gebrauch gemacht hat, sehen wir uns in unserer Auffassung bestätigt, dass er
dieses Fehlverhalten begangen hat, jedenfalls aber halten wir den dringenden
Verdacht, dass es so war, für bestätigt. Wir beabsichtigen daher, den
vorsorglichen Ausspruch einer weiteren Kündigung, nämlich einer
Verdachtskündigung.
59
Am 06.09.2013 ging ein Schreiben des Anwalts von Herrn R., Herrn Prof. N., vom
29.08.2013 ein, in dem mitgeteilt wird, dass Herr R. schwer erkrankt sei und er
deswegen nicht in der Lage sei, auf unser Schreiben zu antworten. Nach
Rückkehr des Herrn Prof. N. wolle dieser versuchen, mit Herrn R. in Kontakt zu
treten, um dann gegebenenfalls eine Stellungnahme abzugeben. Ferner wird
mitgeteilt, dass Herr R. einen Antrag auf Feststellung einer Behinderung gestellt
habe. Wir haben Zweifel am Wahrheitsgehalt der Aussage zur Krankheit und zur
Behinderung, möchten daher an unserer Kündigungsabsicht festhalten.
Unabhängig davon werden wir vorsorglich die Zustimmung des Integrationsamts
zu einer gegebenenfalls neu auszusprechenden Kündigung einholen.
60
Im Übrigen verweisen wir, was die näheren Umstände der vorgeworfenen
Handlungen und jedenfalls des Verdachts betrifft, auf die Anhörung des
Betriebsrats zur Tatkündigung.
61
Zweiwochenfrist
62
… Wir hatten Herrn R. am 04.06.2013 u. a. zu dem Verdacht privater Tätigkeiten
während der Arbeitszeit angehört. In diesem Gespräch gab er zu, vom
Arbeitsplatz aus private Dinge erledigt zu haben, behauptete aber, dies nur in
geringem Umfang und im Wesentlichen während der Pausen gemacht zu haben.
Eine Auswertung seiner E-Mail-Korrespondenz ergab ein Bild, dass völlig anders
war und das wir dem Betriebsrat bereits mitgeteilt haben. Hierzu wollten wir Herrn
R. in einem persönlichen Gespräch anhören. Da er inzwischen erkrankt war, ist
ein Anhörungstermin nicht zustande gekommen. Deswegen haben wir
beschlossen, ihm die Möglichkeit einer schriftlichen Stellungnahme einzuräumen.
Mit Ablauf des 03.09.13 wissen wir, dass Herr R. dem Verdacht nichts
entgegensetzen kann oder will. Die Zweiwochenfrist des § 626 Abs. 2 BGB für
die Verdachtskündigung begann daher am 04.09.13 zu laufen.
63
Interessenabwägung
64
Seit der Betriebsratsanhörung zur Tatkündigung sind uns keine neuen
wesentlichen Gesichtspunkte bekannt geworden. Insbesondere ist uns nicht
bekannt, welcher Art die Erkrankung von Herrn R. ist.“
65 Mit Schreiben vom 10.09.2013 (Bl. 158 der erstinstanzlichen Akte), bei der
Beklagten am 11.09.2013 eingegangen, übermittelte der Klägervertreter an die
Beklagte den Bescheid vom 03.09.2013 über die Feststellung der
Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers.
66 Am 11.09.2013 beantragte die Beklagte beim Integrationsamt die Zustimmung
zur außerordentlichen und zur ordentlichen Kündigung.
67 Am 16.09.2013 (Bl. 206 der erstinstanzlichen Akte) hörte die Beklagte den
Betriebsrat erneut zu einer außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Tat-,
hilfsweise Verdachtskündigung an. Darin heißt es u. a.:
68
„Am … 11.09.2013, erhielten wir über den Anwalt des Herrn R. den Bescheid des
Landratsamts E. (Datum 03.09.2013), dass seit dem 28.06.2013 die
Schwerbehinderteneigenschaft (GdB 70) vorliegt.
69
Vor diesem Hintergrund beabsichtigen wir nun eine erneute Kündigung - sowohl
als Tatkündigung, als auch als Verdachtskündigung …
70
Inzwischen wurde gegen die im August ausgesprochene Kündigung
Kündigungsschutzklage erhoben. …
71
Parallel haben wir die Zustimmung des Integrationsamts zur geplanten neuen
Kündigung beantragt. Die SBV wird ebenfalls ordnungsgemäß angehört.
72
Im Übrigen verweisen wir, was die näheren Umstände der vorgeworfenen
Handlungen und jedenfalls des Verdachts betrifft, auf die Anhörung des
Betriebsrats zur Tatkündigung. .…
73
Seit der Betriebsratsanhörung zur Tatkündigung sind uns keine neuen
wesentlichen Gesichtspunkte - außer der Anerkennung der Schwerbehinderung
- bekannt geworden. Wir verweisen daher bezüglich der Interessenabwägung
auf die Anhörung des Betriebsrats zur Tatkündigung.“
74 Der Betriebsrat antwortete hierauf am 19.09.2013 unter Bezugnahme auf die
Stellungnahme des APO vom 18.09.2013 (Bl. 210 der erstinstanzlichen Akte).
75 Am 19.09.2013 fand ein Termin zur mündlichen Anhörung vor dem
Integrationsamt statt, in dessen Verlauf der Kläger der Beklagten und dem
Integrationsamt eine ärztliche Aussage des Facharztes für Psychiatrie und
Psychotherapie Herrn Dr. W. sowie eine 26 Seiten umfassende schriftliche
Stellungnahme (Bl. 325 der Berufungsakte) übergeben ließ. Bei dieser
Gelegenheit erlangte die Beklagte auch Kenntnis von Art und Schwere der
Erkrankung des Klägers. Mit Posteingang 23.09.2013 beim Integrationsamt
übersandte der Klägervertreter außerdem ein Privatgutachten des Herrn K.-P. B.,
Sachverständiger für Kfz-Schäden und die Bewertung von Kraftfahrzeugen (Bl.
270 der erstinstanzlichen Akte), wonach unter besonderen Bedingungen 102,42
Liter in das Fahrzeug des Klägers eingefüllt wurden.
76 Mit Telefax vom 25.09.2013 (Bl. 164 der erstinstanzlichen Akte) erteilte das
Integrationsamt die Zustimmung zur außerordentlichen fristlosen Kündigung. Mit
Schreiben vom 26.09.2013 (Bl. 12 der erstinstanzlichen Akte) erklärte die
Beklagte die vorsorgliche fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses. Mit
Bescheid vom 22.10.2013 (Anlage B 29, im Anlagenordner) erteilte das
Integrationsamt die Zustimmung zur ordentlichen Kündigung. Mit Schreiben vom
28.10.2013 (Bl. 15 der erstinstanzlichen Akte) erklärte die Beklagte die
vorsorgliche ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses zum 30.06.2014.
77 Der Kläger wendet sich gegen die Kündigungen mit seiner am 30.08.2013 beim
Arbeitsgericht eingegangenen, am 09.09.2013 zugestellten sowie am 30.09.2013
und am 31.10.2013 erweiterten Klage.
78 Der Kläger hält sämtliche ausgesprochenen Kündigungen für unwirksam. Er hat
sich erstinstanzlich gegenüber der Kündigung vom 13.08.2013 auf
Sonderkündigungsschutz als schwerbehinderter Mensch berufen. Außerdem hat
er die Ordnungsgemäßheit der Betriebsratsanhörung und hinsichtlich der
außerordentlichen Kündigungen die Einhaltung der Kündigungserklärungsfrist
gerügt. Er hat insbesondere die Auffassung vertreten, dass die von der Beklagten
erhobenen Vorwürfe eine Kündigung nicht tragen. Auf die schriftsätzlichen
Ausführungen des Klägers zu den einzelnen gegen ihn erhobenen Vorwürfen (ab
Bl. 229 der erstinstanzlichen Akte) wird verwiesen. Der Kläger hat sich zudem
hinsichtlich der von der Beklagten im Wege der Untersuchung des
Dienstrechners ermittelten Vorgänge auf ein Verwertungsverbot berufen. Die
Beklagte habe insoweit die Vorgaben der sogenannten „Untersuchungsrichtlinie“
nicht eingehalten.
79 Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt:
80
1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die
fristlose Kündigung im Schreiben vom 13. August 2013 nicht beendet ist.
81
2. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die
ordentliche Kündigung im Schreiben vom 13. August 2013 zum 31. März
2014 nicht beendet wird.
82
3. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis fortbesteht.
83
4. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die
fristlose Kündigung im Schreiben vom 26. September 2013 nicht beendet
ist.
84
5. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die
ordentliche Kündigung im Schreiben vom 28. Oktober 2013 zum 30. Juni
2014 nicht beendet wird.
85 Die Beklagte hat erstinstanzlich beantragt,
86
die Klage abzuweisen.
87 Sie hat erstinstanzlich die Auffassung vertreten, die Kündigung vom 13.08.2013
sei wirksam, weil sie zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung keine
Kenntnis von der Schwerbehinderung des Klägers gehabt habe. Sie habe von
dem Antrag des Klägers auf Feststellung einer Schwerbehinderung erst durch
Schreiben des Klägervertreters vom 29.08.2013 erfahren, welches ihr am
06.09.2013 zugegangen sei. Der Kläger habe damit die maßgebliche
dreiwöchige Frist für die Mitteilung der Schwerbehinderung nicht eingehalten.
88 Die Beklagte hat die Kündigungen auf den Vorwurf des Arbeitszeitbetrugs
gestützt. Sie habe im Zeitraum vom 25.03.2013 bis 02.05.2013 insgesamt 3.270
nicht dienstlich veranlasste Aktivitäten auf dem Dienstrechner identifiziert, für die
der Kläger einen Zeitaufwand von insgesamt 41 Stunden und 29 Minuten
während der Arbeitszeit aufgewandt habe. Dies entspreche mindestens 20 % der
Gesamtarbeitszeit des Klägers in diesem Zeitraum. Auf die von der Beklagten
vorgelegte Übersicht (Bl. 359 der erstinstanzlichen Akte), die detaillierte
Darstellung hierzu (ab Bl. 360 der erstinstanzlichen Akte), die graphische
Darstellung der festgestellten Zugriffe (Bl. 382 der erstinstanzlichen Akte) sowie
auf das Anlagenkonvolut B 17 (im Anlagenordner) wird Bezug genommen.
Außerdem sei der Kläger während seiner Arbeitszeit einer gewerblichen
Nebentätigkeit für die R. GmbH und für die R. S. GbR sowie Börsen- und
Aktienhandel bzw. Bankaktivitäten und Einkaufs- und Verkaufsaktivitäten
nachgegangen. Die Beklagte hat die Kündigungen außerdem auf den Vorwurf
des Tankbetrugs, der Nutzung von Betriebsmitteln für private und gewerbliche
Zwecke, den Verstoß gegen die Bedingungen zur Überlassung von Dienstwagen
(Tanken an externen Tankstellen), die Speicherung und Installation von
Dokumenten und Dateien für seine privaten sowie privat-gewerblichen
Tätigkeiten, den Verstoß gegen die Nutzungsbedingungen für die D.-interne
MoTel-Pauschale (Nutzung der dienstlichen SIM-Karte im privaten Smartphone),
Verstoß gegen die IT-Endgeräte-Richtlinie (Installation privater Software auf dem
Dienstrechner ohne Erlaubnis), Verletzung der Internet- und E-Mail-Richtlinien der
Beklagten durch Verweis auf Internetseiten mit pornographischem Inhalt und
Verstoß gegen die geltenden Untersuchungsrichtlinien (Äußerung gegenüber
Mitarbeitern der Beklagten zur laufenden Untersuchung). Auf den
diesbezüglichen Vortrag der Beklagten (ab Bl. 22 und ab Bl. 388 der
erstinstanzlichen Akte) wird verwiesen.
89 Hinsichtlich der Kündigungserklärungsfrist hat die Beklagte die Auffassung
vertreten, dass diese mit der Bekanntgabe des Untersuchungsergebnisses an
die kündigungsberechtigte Personalabteilung am 08.08.2013 zu laufen begonnen
habe.
90 Mit Urteil vom 02.07.2014 hat das Arbeitsgericht der Klage zum Teil stattgegeben.
Es hat lediglich die ordentliche Kündigung vom 28.10. 2034 für wirksam gehalten.
Hinsichtlich der Kündigungen vom 13.08.2013 lägen die Voraussetzungen des
Sonderkündigungsschutzes gemäß § 85 SGB XI vor. Der Kläger habe die
Beklagte mit der Klageschrift über die Antragstellung in Kenntnis gesetzt. Für die
außerordentliche Kündigung vom 26.09.2013 fehle es letztlich an einem
wichtigen Kündigungsgrund. Die Kammer sei nicht überzeugt, dass der Kläger
einen Tankbetrug begangen habe. Unter Berücksichtigung eines üblichen
Expansionsvolumens sei es nicht ausgeschlossen, bei den kälteren
Wintertemperaturen im „Praxisbetrieb“ eine Füllmenge zu erreichen, die bei
wärmeren Temperaturen nur unter „Laborbedingungen“ zu erreichen sei.
Hingegen gehe die Kammer davon aus, dass der dringende Tatverdacht
mindestens einer Internetnutzung im Umfang von ca. 41 Stunden im Lauf eines
starken Monats gegeben sei. Allerdings sei der Beklagten eine Fortsetzung des
Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist am
30.06.2014 zuzumuten, dies im Hinblick auf den Umstand, dass nicht auch noch
ein Tankbetrug gegeben sei, die lange beanstandungsfreie
Betriebszugehörigkeitsdauer des Klägers und insbesondere den Umstand, dass
der Kläger seit Ende Juni 2013 sehr schwer erkrankt und aufgrund dessen in der
Folge auch ausgefallen sei.
91 Gegen dieses ihm am 19.11.2014 zugestellte Urteil hat der Kläger mit am
26.11.2014 beim Landesarbeitsgericht eingegangenem Schriftsatz Berufung
eingelegt und diese mit am 29.01.2015 innerhalb der verlängerten
Berufungsbegründungsfrist eingegangenem Schriftsatz begründet. Er wiederholt
und vertieft sein erstinstanzliches Vorbringen und rügt die Rechtsanwendung des
Arbeitsgerichts als fehlerhaft:
92 Er ist der Auffassung, dass das Arbeitsgericht sich mit der grundsätzlichen
Problematik des Verwertungsverbots nicht in gebotenem Maß befasst habe. Die
Vorgehensweise der Beklagten habe in besonderer Weise sein
Persönlichkeitsrecht verletzt. Die Beklagte sei deshalb nicht nur gehindert, die so
gewonnenen Erkenntnisse im arbeitsgerichtlichen Verfahren als Beweismittel zu
verwerten, sondern auch die Erkenntnisse ihrer Entscheidung, das
Arbeitsverhältnis zu kündigen, zugrunde zu legen. Unter dem Aspekt des
milderen Mittels sei auch die Tatsache in die Überlegung einzubeziehen, dass die
Beklagte es entgegen der Untersuchungsrichtlinie unterlassen habe, den
Betriebsrat vor der Datenanalyse zu informieren.
93 Das Arbeitsgericht habe sich zur Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts in
Widerspruch gesetzt, indem es die außerordentliche fristlose
Verdachtskündigung für nicht gerechtfertigt, hingegen die ordentliche
Verdachtskündigung für wirksam erachtet habe. Es habe auch das dem
Kündigungsrecht zugrunde liegende Prognoseprinzip nicht beachtet. Für den
Kläger würde es selbstverständlich gewesen sein, die private Internetnutzung auf
ein absolutes Minimum zu reduzieren oder gar vollständig einzustellen, wenn die
Beklagte ihn wegen der Internet-Nutzung, wie sie dem Kläger jetzt vorgehalten
werde, ermahnt oder abgemahnt hätte. Der Kläger habe kein Unrechtsgefühl
gehabt und insbesondere die Zugriffe auf das Internet nicht mit dem Bewusstsein
vorgenommen, die Arbeitszeit zu schmälern.
94 Die Internet-Nutzung des Klägers sei im Wesentlichen darauf zurückzuführen,
dass der Kläger keine Aufgaben zu erledigen gehabt habe. Aus diesem Grund
sei der Beklagten auch kein Schaden entstanden. Der Kläger habe die Beklagte
auch nicht getäuscht, weshalb der Betrugstatbestand nicht erfüllt sei. Davon
unabhängig sei die Behauptung der Beklagten, der Kläger habe sich in der Zeit
vom 25.03.2013 bis 02.05.2013 über 41 Stunden im Internet aufgehalten, nicht
plausibel. Der Kläger habe insoweit auch nicht selbst eine Verweildauer von 17
Stunden eingeräumt, sondern lediglich eine Plausibilitätsrechnung
vorgenommen. In dem genannten Zeitraum habe der Kläger an 27 Arbeitstagen
insgesamt Pausen für eine Zeitspanne von über 20 Stunden in Anspruch
nehmen können. Hinsichtlich der Zugriffe auf die Internet-Seite der H. V. handele
es sich um dienstlich veranlasst Internet-Aktivitäten.
95 Hinsichtlich des Vorwurfs des Tankbetrugs beruft sich der Kläger auf ein
Ergänzungsgutachten (Bl. 165 der Berufungsakte) und vertritt die Auffassung,
dass es in dieser Hinsicht auch einen anderen rechtmäßigen Geschehensablauf
gebe. Der Verdacht sei daher jedenfalls nicht erdrückend. Der Kläger trägt hierzu
weiter vor, dass er in der Entwicklungsabteilung (Bereich Energiesysteme)
angerufen und von einem Herrn B. die Information bekommen habe, dass das
Expansionsvolumen des Kraftstofftanks 9 % betrage. Das habe man ihm aber
nicht schriftlich bestätigen wollen, weshalb er dann das Privatgutachten B. in
Auftrag gegeben habe. Die Beklagte selbst habe sowohl gegenüber dem
Integrationsamt als auch gegenüber dem Betriebsrat die These vertreten, dass
maximal 100 l in den Tank passten.
96 Der Kläger tritt dem Auflösungsantrag der Beklagten entgegen. Dieser sei nur
statthaft in Bezug auf die ordentlichen Kündigungen vom 13.08.2013 und vom
28.10.2013. Beide Kündigungen seien jedoch nicht nur sozialwidrig, sondern
auch aus anderen Gründen unwirksam. Der ordentlichen Kündigung vom
13.08.2013 sei kein Zustimmungsbescheid des Integrationsamts
vorausgegangen. Die Kündigung vom 28.10.2013 sei wegen nicht
ordnungsgemäßer Betriebsratsanhörung unwirksam. Die Beklagte habe dem
Betriebsrat sowohl das Gutachten B. als auch die schriftliche Stellungnahme des
Klägers im Verfahren vor dem Integrationsamt zur Kenntnis geben müssen. Die
Betriebsratsanhörung vom 16.09.2013 sei nicht rechtzeitig erfolgt. Da die
Beklagte selbst davon ausgehe, dass die zweiwöchige Kündigungserklärungsfrist
am 04.09.2013 zu laufen begonnen habe, habe die dreitägige Frist zur
Stellungnahme durch den Betriebsrat am 16.09.2013 nicht mehr gewahrt werden
können.
97 Der Kläger beantragt:
98
1. Das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart vom 02. Juli 2014 - 14 Ca 6190/13
- wird im Tenor in den Ziff. 2 und 3 abgeändert.
99
2. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die
ordentliche Kündigung im Schreiben vom 28. Oktober 2013 zum 30. Juni
2014 nicht beendet wurde.
100
3. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis fortbesteht.
101
4. Die Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.
102 Die Beklagte beantragt:
103
1. Das Urteil des Arbeitsgericht Stuttgart vom 2. Juli 2014 (14 Ca 6190/13),
zugestellt am 24. November 2014, wird teilweise geändert.
104
2. Die Klage wird insgesamt abgewiesen.
105
3. Das Arbeitsverhältnis wird aufgelöst.
106 Der Kläger beantragt,
107
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
108 Die Beklagte wiederholt und vertieft ihr erstinstanzliches Vorbringen. Sie ist
weiterhin der Auffassung, dass der Kläger sich auf den Sonderkündigungsschutz
als schwerbehinderter Mensch nicht berufen könne. Er habe seine
Schwerbehinderung oder die Stellung des Antrags nach § 69 SGB IX nicht
innerhalb von drei Wochen der Beklagten erklärt. Die Anwendbarkeit von § 167
ZPO sei ausgeschlossen.
109 Sie hält die Erwägungen des Arbeitsgerichts zum Tankbetrug für nicht zutreffend.
Neben den Tankmengen belaste den Kläger sein auffälliges Tankverhalten und
die von ihm ohne dienstliche Veranlassung geführte Verbrauchsermittlung. Das
Gericht habe seine Entscheidung nicht auf einen Wikipedia-Artikel stürzen dürfen.
Dabei handele es sich weder um eine offenkundige Tatsache noch um eine
zuverlässige Quelle. Es habe den von der Beklagten dazu angetretenen Beweis
durch Sachverständigengutachten nicht übergehen dürfen.
110 Die vom Arbeitsgericht zur außerordentlichen Kündigung vom 26.09.2013
vorgenommene Interessenabwägung habe die besondere Schwere des
Arbeitszeitbetrugs und die besondere Verwerflichkeit des Tankbetrugs nicht
ausreichend berücksichtigt. Im Hinblick auf den Arbeitszeitbetrug sei es
unbeachtlich, ob die Voraussetzungen des § 263 StGB vorlägen. Der Kläger
habe seine Arbeitspflicht massiv verletzt. Es habe insoweit auch keiner
Abmahnung bedurft. Der Kläger habe nicht damit rechnen können, dass die
Beklagte seine Pflichtverletzungen hinnehmen oder nur mit einer Abmahnung
reagieren würde. Mit eine Verhaltensänderung sei auch nicht zu rechnen
gewesen, zumal der Kläger auch nach seinen Angaben kein Unrechtsgefühl
gehabt habe.
111 Der Kläger könne den Vorwurf des Arbeitszeitbetrugs nicht durch die Behauptung
relativieren, er sei nicht ausgelastet gewesen. Er habe genügend eigene
Aufgaben gehabt, die er hätte wahrnehmen können und müssen. Insoweit
komme der Tatsache besondere Bedeutung zu, dass das Gleitzeitkonto im
fraglichen Zeitraum einen Überstundensaldo aufgewiesen habe. Gerade indem
der Kläger an Tagen mit massivem Internetzugriff normale Arbeitszeit angesetzt
habe, habe er Arbeitszeitbetrug begangen. Er sei an diesen Tagen gehalten
gewesen auszustempeln, um privaten Aktivitäten nachzugehen. Die Beklagte
bezieht sich hierzu auf die Betriebsvereinbarung über gleitende und flexible
Arbeitszeit (Bl. 231 der Berufungsakte).
112 Es bestehe kein Verwertungsverbot. Die Beklagte habe vor Zufallsfunden nicht
die Augen verschließen müssen. Sie habe auch die Regelungen der
Untersuchungsrichtlinie eingehalten. Der Kläger habe Kenntnis von der
Untersuchung seines Dienstrechners gehabt und seine Passworte freiwillig
herausgegeben.
113 Die Beklagte habe das vom Kläger in der Anhörung vor dem Integrationsamt
vorgelegte Privatgutachten B. mit der Entwicklungsabteilung, dort mit Herrn K.-H.
K., besprochen und von diesem die Auskunft erhalten, dass die Tankmengen bei
normalen Betankungen/Bedingungen nicht erreicht werden könnten. Für die
Beklagte gebe es keine Anhaltspunkte dafür, dass der Inhalt dieses Gutachtens
den Kläger entlaste. Sie ist vielmehr der Auffassung, dass dieses Gutachten den
Verdacht vertiefe, weil gerade die artifiziellen Bedingungen dieses Gutachtens
nötig gewesen seien, um die vom Kläger getankten Mengen in das Fahrzeug
einzufüllen.
114 Insoweit sei auch die Betriebsratsanhörung nicht fehlerhaft. Maßgeblich für die
Vollständigkeit der Betriebsratsanhörung sei allein die subjektive Sicht des
Arbeitgebers. Die Betriebsratsanhörung vom 09.09.2013 spiele keine Rolle. Sie
sei dadurch überholt worden, dass die Beklagte am 11.09.2013 von der
Feststellung der Schwerbehinderung des Klägers erfahren habe.
115 Die Kündigungserklärungsfrist sei eingehalten. Die Kündigungsberechtigten
hätten erst am 08.08.2013 Kenntnis vom Sachverhalt erhalten. Die geplanten
Anhörungen vor diesem Zeitraum seien noch Teil der Sachverhaltsermittlungen
gewesen. Am 20.06.2013 habe Frau W., die im Übrigen nicht
kündigungsberechtigt sei, lediglich Anhaltspunkte für Pflichtverletzungen des
Klägers gehabt. Auch Herr N. habe bei Unterzeichnung des Schreibens vom
10.07.2013 nur Anhaltspunkte dafür gehabt, dass gegen den Kläger bestehende
Vorwürfe zu klären gewesen seien. Er habe aber keine Kenntnis vom Inhalt der
Vorwürfe und damit in keinem Fall Kenntnis von Tatsachen im Sinne des § 626
Abs. 2 BGB gehabt.
116 Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die in beiden
Instanzen gewechselten Schriftsätze sowie auf die Sitzungsniederschriften vom
08.11.2013, 02.07.2014, 12.06.2015 und 16.09.2015 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
117 Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet. Hingegen ist die ebenfalls
zulässige Berufung des Klägers begründet. Der Auflösungsantrag der Beklagten
ist unbegründet.
118
A. Berufung der Beklagten
I.
119 Die Berufung der Beklagten ist statthaft, da sie die Kündigung eines
Arbeitsverhältnisses betrifft, § 64 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. c ArbGG. Sie ist auch
gemäß §§ 66 Abs. 1 Satz 1, 64 Abs. 6 Satz 6 ArbGG, §§ 519, 520 ZPO frist- und
formgerecht eingelegt und begründet worden. Zulässig ist die Berufung auch im
Hinblick auf den erstmals im Termin zur Berufungsverhandlung am 12.06.2015
gestellten Auflösungsantrag.
II.
120 Die Berufung der Beklagten ist jedoch unbegründet. Das Arbeitsgericht hat
zutreffend die Kündigungen vom 13.08.2013 und vom 26.09.2013 für unwirksam
gehalten und der Kündigungsschutzklage des Klägers insoweit stattgegeben.
121 1. Die Kündigung vom 13.08.2013 ist sowohl als außerordentliche fristlose wie
auch als ordentliche Kündigung unwirksam.
122 Gegen die Zulässigkeit der Klage bestehen keine Bedenken.
123 Mit seiner am 30.08.2013 eingegangenen Klage hat der Kläger die maßgebliche
3-wöchige Klagefrist gemäß §§ 13, 4, 7 KSchG gewahrt.
124 Die außerordentliche Kündigung ist gemäß §§ 91 Abs. 1, 85 SGB IX in
Verbindung mit § 134 BGB unwirksam, die ordentliche Kündigung gemäß §§ 85
SGB IX in Verbindung mit § 134 BGB. Das Arbeitsgericht hat zutreffend
festgestellt, dass der Kläger sich auf den Sonderkündigungsschutz gemäß § 85
SGB IX berufen kann. Es fehlt an der Zustimmung des Integrationsamts vor
Ausspruch der Kündigung.
125 Mit Bescheid vom 03.09.2013 wurde dem Kläger ein Grad der Behinderung von
70 seit dem 28.06.2013 zuerkannt. Er war daher bei Ausspruch der Kündigung
vom 13.08.2013 als schwerbehinderter Mensch anerkannt. Er hat das Recht, sich
auf den Sonderkündigungsschutz zu berufen nicht verwirkt.
126 Dem schwerbehinderten Arbeitnehmer steht der Sonderkündigungsschutz nach
§§ 85 ff. SGB IX nach dem Wortlaut des Gesetzes auch dann zu, wenn der
Arbeitgeber von der Schwerbehinderteneigenschaft oder der Antragstellung
nichts wusste. Allerdings unterliegt das Recht des Arbeitnehmers, sich
nachträglich auf eine Schwerbehinderung zu berufen und die
Zustimmungsbedürftigkeit der Kündigung geltend zu machen, der Verwirkung, die
ein Sonderfall der unzulässigen Rechtsausübung ist. Mit der Verwirkung wird
ausgeschlossen, Rechte illoyal verspätet geltend zu machen. Sie dient dem
Vertrauensschutz und verfolgt nicht den Zweck, den Schuldner stets dann von
seiner Verpflichtung zu befreien, wenn der Gläubiger sich längere Zeit nicht auf
seine Rechte berufen hat (Zeitmoment). Der Berechtigte muss vielmehr unter
Umständen untätig geblieben sein, die den Eindruck erweckt haben, dass er sein
Recht nicht mehr wahrnehmen wolle, so dass der Verpflichtete sich darauf
einstellen durfte, nicht mehr in Anspruch genommen zu werden
(Umstandsmoment). Hierbei muss das Erfordernis des Vertrauensschutzes auf
Seiten des Verpflichteten das Interesse des Berechtigten derart überwiegen, dass
ihm die Erfüllung des Anspruchs nicht mehr zuzumuten ist (BAG 23.02.2010 - 2
AZR 659/08, juris Rn. 16; 15.02.2007 - 8 AZR 431/06, juris Rn. 42). Der
Arbeitnehmer muss sich, wenn er sich den Sonderkündigungsschutz nach § 85
SGB IX erhalten will, nach Zugang der Kündigung innerhalb einer angemessenen
Frist, die 3 Wochen beträgt, gegenüber dem Arbeitgeber auf seine bereits
festgestellte oder zur Feststellung beantragte Schwerbehinderteneigenschaft
berufen. Unterlässt der Arbeitnehmer die entsprechende Mitteilung, so hat er den
besonderen Kündigungsschutz verwirkt. Die 3-Wochen-Frist ist eine Regelfrist.
Sie konkretisiert den Verwirkungstatbestand. Ihre Überschreitung führt danach
regelmäßig, aber nicht zwingend, zur Verwirkung (BAG 23.02.2010 - 2 AZR
659/08, juris Rn. 16; 13.02.2008 - 2 AZR 864/06, juris Rn. 45, 46; BAG
12.01.2006 - 2 AZR 539/05, juris Rn. 16).
127 Es liegt nicht in der Absicht des Gesetzes, Arbeitnehmer, die ihren
Sonderkündigungsschutz als schwerbehinderte Menschen geltend machen
wollen, schlechter zu stellen als zum Beispiel Arbeitnehmer, die sich auf andere
vom Arbeitgeber unerkannte Unwirksamkeitsgründe stützen wollen. Das Gesetz
will alle Unwirksamkeitsgründe, was die Frist, sie gerichtlich geltend zu machen,
betrifft, gleichbehandeln. Die Klagefrist des § 4 Satz 1 KSchG soll den
Arbeitgeber schützen. Er soll nach einer angemessenen Zeit, die vom
Gesetzgeber auf 3 Wochen zuzüglich der zur Zustellung der Klageschrift
erforderlichen Zeit bemessen wurde, davor geschützt sein, sich mit dem
Begehren nach Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses auseinandersetzen zu
müssen. Umgekehrt mutet das Gesetz jedenfalls bis zum Ablauf dieser
Zeitspanne dem Arbeitgeber zu, die Wirksamkeit der Kündigung verteidigen und
alle etwa geltend gemachten Unwirksamkeitsgründe entweder entkräften oder
gegen sich gelten lassen zu müssen. Dies erfasst nach der Neuregelung des § 4
Satz 1 KSchG auch die fehlende Zustimmung des Integrationsamts. Damit wäre
es nicht zu vereinbaren, wenn sich ein Arbeitnehmer, der innerhalb der
betreffenden Zeitspanne die Unwirksamkeit der Kündigung nach § 85 SGB IX
geltend macht, gleichwohl den Einwand der Verwirkung entgegenhalten lassen
müsste (BAG 23.02.2010 - 2 AZR 659/08, juris Rn. 21).
128 Der Kläger hat in der Klageschrift mitgeteilt, dass er einen Antrag auf
Anerkennung als schwerbehinderter Mensch gestellt habe. Diese Klage ging am
30.08.2013 beim Arbeitsgericht ein und wurde innerhalb üblicher Bearbeitungs-
und Postlaufzeiten am 09.09.2013 zugestellt (§ 167 ZPO). Erfolgt eine Berufung
auf die Schwerbehinderung oder den diesbezüglichen Antrag gegenüber dem
Arbeitgeber zugleich mit der Zustellung der fristgerecht erhobenen Klage, ist sie
jedenfalls nicht illoyal verspätet (BAG aaO Rn. 19). Auf die zwischen den Parteien
streitige Frage, wann die außergerichtlichen Schreiben des Klägervertreters, mit
denen die Antragstellung bzw. die Schwerbehinderung mitgeteilt wurden, der
Beklagten jeweils zugegangen sind, kommt es deshalb nicht an. Der Kläger hat
sein Recht, sich auf den besonderen Kündigungsschutz zu berufen, nicht
verwirkt. Die Kündigung vom 13.08.2013 ist daher unwirksam.
129 2. Auch die außerordentliche fristlose Kündigung vom 26.09.2013 ist unwirksam.
Es fehlt an einer ordnungsgemäßen Betriebsratsanhörung.
130 Auch hinsichtlich dieser ihm am 27.09.2013 zugegangenen Kündigung hat der
Kläger mit der Klageerweiterung vom 01.10.2013 die maßgebliche 3-wöchige
Klagefrist nach §§ 13, 4, 7 KSchG gewahrt.
131 Die Kündigung ist gemäß § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG unwirksam:
132 a) Nach § 102 Abs. 1 Satz 1 BetrVG ist der Betriebsrat vor jeder Kündigung zu
hören. Der Arbeitgeber hat gemäß § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG die Gründe für die
Kündigung mitzuteilen. Eine ohne Anhörung des Betriebsrats ausgesprochene
Kündigung ist gemäß § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG unwirksam. Eine Kündigung ist
nicht nur unwirksam, wenn der Arbeitgeber gekündigt hat, ohne den Betriebsrat
überhaupt zu beteiligen, sondern auch dann, wenn er ihn nicht richtig beteiligt
hat, vor allem seiner Unterrichtungspflicht nach § 102 Abs. 1 BetrVG nicht
ausführlich genug nachgekommen ist. Für die Mitteilung der Kündigungsgründe
gilt der Grundsatz der „subjektiven Determinierung“. Der Arbeitgeber muss dem
Betriebsrat die Umstände mitteilen, die seinen Kündigungsentschluss tatsächlich
bestimmt haben. Dem kommt er dann nicht nach, wenn er dem Betriebsrat einen
schon aus seiner eigener Sicht unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt
darstellt (BAG 26.03.2015 - 2 AZR 417/14, juris Rn. 45; 23.10.2014 - 2 AZR
736/13, juris Rn 14; 21.11.2011 - 2 AZR 797/11, juris Rn. 24; 12.08.2010 - 2 AZR
945/08, juris Rn. 18). Das Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit soll im
Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat Offenheit und Ehrlichkeit
gewährleisten und verbietet es, dem Betriebsrat Informationen zu geben bzw.
ihm vorzuenthalten, aufgrund derer bzw. ohne die bei ihm ein falsches Bild über
den Kündigungssachverhalt entstehen könnte (BAG 31.05.1990 - 2 AZR 78/89,
juris Rn. 40). Schildert der Arbeitgeber dem Betriebsrat bewusst und gewollt
unrichtige oder unvollständige - und damit irreführende -
Kündigungssachverhalte, ist die Anhörung unzureichend und die Kündigung
unwirksam (BAG 26.03.2015 - 2 AZR 417/14, juris Rn. 45; 31.07.2014 - 2 AZR
407/13, juris Rn. 46; 10.04.2014 - 2 AZR 684/13, juris Rn. 22). Eine bloß
vermeidbare oder unbewusste Fehlinformation führt dagegen noch nicht für sich
alleine zur Unwirksamkeit der Betriebsratsanhörung (BAG 26.03.2015 - 2 AZR
417/14, juris Rn. 45; 21.11.2013 - 2 AZR 797/11, juris Rn. 26; 12.09.2013 - 6 AZR
121/12, juris Rn. 21).
133 An die Mitteilungspflicht des Arbeitgebers sind nicht dieselben Anforderungen zu
stellen wie an die Darlegungs- und Beweislast des Arbeitgebers im
Kündigungsschutzprozess. Es müssen dem Betriebsrat nicht alle objektiv
kündigungsrechtlich erheblichen Tatsachen, sondern nur die vom Arbeitgeber für
die Kündigung als ausschlaggebenden Umstände mitgeteilt werden (BAG
23.10.2008 - 2 AZR 163/07, juris Rn. 19; 06.07.2006 - 2 AZR 520/05, juris Rn.
68). Die Anhörung des Betriebsrats soll diesem nicht die selbständige
Überprüfung der Wirksamkeit der beabsichtigten Kündigung, sondern eine
Einflussnahme auf die Willensbildung des Arbeitgebers ermöglichen. Sinn und
Zweck des § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG ist es, den Betriebsrat in die Lage zu
versetzen, sachgerecht auf den Arbeitgeber einzuwirken, d.h. die Stichhaltigkeit
und Gewichtigkeit der Kündigungsgründe zu überprüfen und sich über sie eine
eigene Meinung zu bilden (BAG 26.03.2015 - 2 AZR 417/14, juris Rn. 46;
23.10.2014 - 2 AZR 736/13, juris Rn. 21). Indem der Betriebsrat die Gelegenheit
erhält, seine Überlegungen zur Kündigungsabsicht des Arbeitgebers
vorzubringen, kann er in geeigneten Fällen dazu beitragen, dass es gar nicht
zum Ausspruch einer Kündigung kommt (BAG 31.08.1989 - 2 AZR 453/88, juris
Rn. 40; LAG Baden-Württemberg 11.08.2006 - 2 Sa 10/06, juris Rn. 28). Die
Anhörung des Betriebsrats verwirklicht in diesem Sinne einen präventiven
Kündigungsschutz (Richardi-Thüsing, 14. Aufl. § 102 BetrVG Rn. 63). Den
Kündigungsgrund hat der Arbeitgeber daher regelmäßig unter Angabe von
Tatsachen so zu beschreiben, dass der Betriebsrat ohne zusätzliche eigene
Nachforschungen die Stichhaltigkeit prüfen kann (BAG 26.03.2015 - 2 AZR
417/14, juris Rn. 46; 12.09.2013 - 6 AZR 121/12, juris Rn. 21; 23.02.2012 - 2 AZR
773/10, juris Rn. 30).
134 Zu einer vollständigen und wahrheitsgemäßen Information gehört auch die
Unterrichtung über Tatsachen, die ihm - der Arbeitgeber - bekannt und für eine
Stellungnahme des Betriebsrats möglicherweise bedeutsam sind, weil sie den
Arbeitnehmer entlasten und deshalb gegen eine Kündigung sprechen können
(BAG 23.10.2014 - 2 AZR 736/13, juris Rn. 14; 03.11.2011 - 2 AZR 748/10, juris
Rn. 38; 06.02.1997 - 2 AZR 265/96, juris Rn. 19).
135 Der Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit gebietet es, dass der
Arbeitgeber dem Betriebsrat den zu kündigenden Arbeitnehmer entlastende
Umstände auch dann mitteilt, wenn er von ihnen erst nach Beginn des
Anhörungsverfahrens und vor Ausspruch der Kündigung Kenntnis erlangt. Auch
in diesem Fall ist der Sinn und Zweck der Betriebsratsanhörung (vollständige
Unterrichtung des Betriebsrates, damit er mit seiner Stellungnahme eventuell auf
den Kündigungsentschluss des Arbeitgebers Einfluss nehmen kann) nur dann
gewahrt, wenn dem Betriebsrat innerhalb der Fristen des § 102 Abs. 2 BetrVG
entlastende Umstände nachgereicht werden oder nach Ablauf dieser Fristen und
vor Ausspruch einer Kündigung das Anhörungsverfahren wiederholt wird. Der
Arbeitgeber ist verpflichtet, das Anhörungsverfahren zu wiederholen, wenn sich
vor Ausspruch der Kündigung der dem Betriebsrat im ersten Anhörungsverfahren
unterbreitete Sachverhalt in wesentlichen Punkten zugunsten des Arbeitnehmers
geändert hat (BAG 20.01.2000 - 2 AZR 378/99, juris Rn. 20, 11.03.1998 - 2 AZR
401/97, juris Rn. 27; 18.05.1994 - 2 AZR 626/93, juris Rn. 34; 28.06.1984 - 2 AZR
217/83, juris Rn. 36, 38; 01.04.1981 - 7 AZR 1003/78, juris Rn. 24; 26.05.1977 - 2
AZR 201/76, juris Rn. 17; LAG Baden-Württemberg 11.08.2006 - 2 Sa 10/06, juris
Rn. 30; LAG Hamm 20.10.2005 - 8 Sa 205/05 - juris Rn. 36, 37; KR-Etzel § 102
BetrVG Rn. 80;GK-Raab 10. Aufl. § 102 BetrVG Rn. 79 a.E.; Fitting 27. Aufl. §
102 BetrVG Rn. 24; HaKo BetrVG Düwell-Braasch § 102 Rn. 31,35).
136 b) Nach diesem Maßstab ist die Betriebsratsanhörung vom 16.09.2013 jedenfalls
bezogen auf den Vorwurf des Tankbetrugs und bezogen auf den Verdacht
desselben nicht ordnungsgemäß erfolgt:
137 Die Beklagte hat dem Betriebsrat mitgeteilt, dass der Tank des Dienstfahrzeugs
des Klägers ein Fassungsvermögen von 93 l habe und dass der Kläger in 14
näher bezeichneten Fällen mehr als 93 l getankt habe. Sie hat sodann die
besondere Verwerflichkeit des Tankbetrugs als maßgeblich für die
Interessenabwägung dargestellt. Diese Ausführungen sind irreführend. Denn die
Beklagte hat bereits am 13.06.2013 in der Entwicklungsabteilung bei Herrn N.
bezüglich des Tankvolumens nachgefragt und dieser hat ermittelt, dass mehr als
93 l in den Tank getankt werden können. Die von ihm gewählte Methode
(geringe Fließgeschwindigkeit, 15maliges Betätigen der Zapfpistole), liegt nicht
außerhalb jeder Lebenswahrscheinlichkeit. Das Ergebnis dieses internen
Tankversuchs hat die Beklagte dem Betriebsrat jedoch nicht mitgeteilt. Sie hat
ihn in dem Glauben gelassen, der Kläger habe in 14 Fällen mehr Kraftstoff
getankt als möglich gewesen sei. Dies obwohl sie hiervon wohl selbst schon gar
nicht mehr ausgehen konnte. Die Tatsache, dass es auch bei nicht ganz
ungewöhnlichem Tankverhalten möglich ist, mehr als 93 l in den Kraftstofftank zu
füllen, ist ein den Kläger entlastender Umstand, der dem Betriebsrat hätte
mitgeteilt werden müssen. Der Vorwurf des Tankbetrugs hätte sich nicht auf 14
Fälle beziehen dürfen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieser
Umstand auf die Stellungnahme des Betriebsrats und im Ergebnis auch auf die
Interessenabwägung der Beklagten Einfluss gehabt hätte.
138 Auch nach dem Grundsatz der subjektiven Determinierung liegt es nicht im
Belieben des Arbeitgebers zu entscheiden, welche Umstände er als entlastend
ansieht. So hat das Bundesarbeitsgericht (in der Entscheidung vom 31.08.1989 -
2 AZR 453/88, juris Rn 43) einen öffentlichen Arbeitgeber unter Beachtung des
Gebotes vertrauensvoller Zusammenarbeit für verpflichtet gehalten, den
Personalrat zumindest über die Tatsache des Vorliegens einer Gegendarstellung
zu einer Abmahnung zu informieren. So hätte auch vorliegend die Beklagte dem
Betriebsrat zumindest mitteilen müssen, dass im Rahmen eines internen
Tankversuchs ein höheres tatsächliches Tankvolumen festgestellt werden
konnte. Ob dies den Betriebsrat veranlasst, weitere eigenen Nachforschungen
anzustellen oder beim Arbeitgeber ergänzende Informationen zu erfragen, ist
dem Betriebsrat ebenso zu überlassen wie die Einschätzung, ob er selbst die
Tatsache als entlastend einstuft. Der Grundsatz der subjektiven Determinierung
reicht nicht soweit, dass der Arbeitgeber von vornherein die abschließende
Entscheidung darüber treffen kann, welche Umstände er als entlastend ansieht.
Soweit der Arbeitsgeber einen Lebenssachverhalt zum Anlass für eine
Kündigung nimmt, muss er dem Betriebsrat diesen Sachverhalt richtig und
vollständig schildern und alle zugehörigen Tatsachen mitteilen, soweit sie ihm
bekannt sind (GK-Raab, 10. Aufl., § 102 BetrVG Rn. 68). Für die Verpflichtung
zur Mitteilung an den Betriebsrat reicht es daher aus, dass dem Arbeitgeber die
Umstände bekannt sind, dass sie den Arbeitnehmer möglicherweise entlasten
und dass dies Einfluss auf die Stellungnahme des Betriebsrats haben kann. Dies
war vorliegend hinsichtlich des faktischen Tankvolumens der Fall.
139 c) Darüber hinaus war die Beklagte verpflichtet, die Anhörung des Betriebsrats zu
wiederholen, nachdem sich im Rahmen des Verfahrens vor dem Integrationsamt
wesentliche Änderungen bezogen auf den dem Betriebsrat am 16.09.2013
mitgeteilten Sachverhalt ergeben hatten:
140 Am 19.09.2013 erfuhr die Beklagte von Art und Schwere der Erkrankung des
Klägers und erhielt sie dessen 26 Seiten umfassende schriftliche Stellungnahme
zu sämtlichen gegen ihn erhobenen Vorwürfen. In der Folge erhielt sie Kenntnis
von dem Privatgutachten B.. Damit waren gegenüber dem dem Betriebsrat am
16.09.2013 mitgeteilten Sachverhalt erhebliche Änderungen eingetreten.
141 Die Beklagte hatte dem Betriebsrat mitgeteilt, dass der Kläger keinerlei
Stellungnahme abgegeben und somit nichts zur Entkräftung der gegen ihn
erhobenen Vorwürfe beigetragen habe. Demgegenüber lag am 19.09.2013 eine
ausführliche Stellungnahme vor. Der Kläger äußert sich darin Punkt für Punkt zu
allen gegen ihn erhobenen Vorwürfen. Es kommt nicht darauf an, ob die vom
Kläger in diesem Schreiben behaupteten Sachverhalte sämtlich zutreffend
und/oder entlastend sind. Vielmehr war dem Betriebsrat schon die Tatsache
mitzuteilen, dass eine Stellungnahme vorliegt. Es gilt das unter b) bereits
Ausgeführte: Der Arbeitgeber darf nicht der Entscheidung des Betriebsrats
vorgreifen, ob dieser die veränderten Umstände als entlastend wertet. Vorliegend
kann aber auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Inhalt des
Schreibens vollkommen unerheblich für die Stellungnahme des Betriebsrats
gewesen wäre. Zwar kann nicht ausgeschlossen werden, dass im Einzelfall ein
Arbeitnehmer rechtsmissbräuchlich eine Stellungnahme erst nach Abschluss der
Betriebsratsanhörung abgibt, um eine Verzögerung des Verfahrens zu erreichen.
Derartiges kann vorliegend dem Kläger angesichts der Schwere seiner
Erkrankung aber nicht unterstellt werden.
142 Die Beklagte hat in der ursprünglichen Betriebsratsanhörung vom 08.08.2013,
auf die sie Bezug nimmt, ausgeführt, der Kläger habe so oft seine Pflichten
verletzt, dass er sich in einem dauerhaften Konflikt zwischen privaten Interessen
und dienstlichen Pflichten befunden und dabei jeweils den privaten Interessen
Vorrang eingeräumt habe. Es liege kein Einzelfallversagen vor, sondern sein
Fehlverhalten sei ein Dauerzustand gewesen. Sie hat daraus, dass der Kläger
über die besonders schweren Vorwürfe des Arbeitszeit- und des Tankbetrugs
weiteres weniger schweres Fehlverhalten an den Tag gelegt habe, den Schluss
gezogen, „dass Herr R. ein Mitarbeiter ist, der nicht nur auf einem Gebiet sehr
kritisch zu betrachten ist, sondern der zahlreiche Pflichtverletzungen über eine
große Breite von Sachverhalten gezeigt hat“. Damit hat die Beklagte dem
Betriebsrat gegenüber den Kläger als einen Mitarbeiter dargestellt hat, der
insgesamt seine arbeitsvertraglichen Pflichten nicht ernst nimmt. Diesen Schluss
hat sie aus einer Gesamtbetrachtung einer Vielzahl einzelner Sachverhalte
gezogen. Schon die Entkräftung eines Teils der Vorwürfe kann daher geeignet
sein, zu einer anderen Gesamtabwägung zu gelangen.
143 Die Beklagte hat dem Betriebsrat in der Anhörung nicht nur mitgeteilt, dass der
Kläger keine Stellungnahme abgegeben habe. Sie hat das Fehlen der
Stellungnahme auch bewertet, nämlich zu Lasten des Klägers. Sie hat den
Eindruck erweckt, dass der Kläger keine Stellung genommen habe, weil er zu
seiner Entlastung nichts vorzubringen habe. Hier kann auch nicht außer Acht
gelassen werden, dass die Beklagte in dem Anhörungsschreiben vom
09.09.2013 (das sie inzwischen als irrelevant behandelt wissen möchte) noch
Zweifel geäußert hat, ob der Kläger erkrankt und/oder behindert sei. Sie hat dort
ausgeführt, dass sie aufgrund dieser Zweifel an ihrer Kündigungsabsicht
festhalten wolle. Dieser Passus fehlt zwar in der entscheidenden Anhörung vom
16.09.2013, die Beklagte hat sich hiervon aber nicht ausdrücklich distanziert. Es
wäre deshalb angezeigt gewesen, dem Betriebsrat nach der Verhandlung beim
Integrationsamt mitzuteilen, von welcher Art und Schwere die Erkrankung des
Klägers ist. Nach dem Duktus der Anhörungsschreiben kann wiederum nicht
ausgeschlossen werden, dass dies Einfluss auf die Stellungnahme des
Betriebsrats und im Ergebnis auf den Kündigungsentschluss der Beklagten
gehabt hätte.
144 Nicht entscheidungserheblich ist, ob die Beklagte auch verpflichtet gewesen
wäre, dem Betriebsrat das Gutachten B. zur Kenntnis zu geben, nachdem sie
unter Berufung auf den Grundsatz der subjektiven Determinierung die
Auffassung vertritt, dieses Gutachten belaste den Kläger mehr als es ihn
entlaste. Denn wie unter b) ausgeführt, war die Betriebsratsanhörung bezogen
auf den Vorwurf des Tankbetrugs von vornherein nicht ordnungsgemäß.
145 Zur Mitteilung entlastender Umstände ist die Beklagte sowohl im Rahmen einer
Tat- wie auch einer Verdachtskündigung verpflichtet. Dasselbe gilt für die
Verpflichtung der Wiederholung der Betriebsratsanhörung, wenn derartige
Umstände nach Abschluss des Anhörungsverfahrens aber noch vor Ausspruch
der Kündigung bekannt werden.
146 Die außerordentliche Kündigung vom 26.09.2013 ist daher gemäß § 102 Abs. 1
S. 3 BetrVG mangels ordnungsgemäßer Betriebsratsanhörung unwirksam.
147 Das Arbeitsgericht hat im Ergebnis zu Recht die Kündigungen vom 13.08.2013
und vom 26.09.2013 für unwirksam gehalten.
148
B. Berufung des Klägers
149 Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet.
I.
150 Auch die Berufung des Klägers ist nach § 64 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. c ArbGG
statthaft sowie gemäß §§ 66 Abs. 1 Satz 1, 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG, §§ 519, 520
ZPO frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden. Den vom
Arbeitsgericht als unzulässig abgewiesenen allgemeinen Feststellungsantrag hat
der Kläger nicht zum Gegenstand seiner Berufung gemacht.
II.
151 Die Berufung des Klägers ist begründet.
152 Die Kündigungsschutzklage ist zulässig. Mit der Klageerweiterung vom
31.10.2013 hat der Kläger die maßgebliche Kündigungsfrist nach § 4, 7 KSchG
eingehalten.
153 Auch die Kündigung vom 28.10.2013 ist nach § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG
unwirksam. Ihrem Ausspruch ging die Betriebsratsanhörung vom 16.09.2013
voraus, die wie soeben unter A.II.2. ausgeführt, nicht ordnungsgemäß war.
154
C. Auflösungsantrag der Beklagten
155 Der zulässige Auflösungsantrag der Beklagten nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG ist
unbegründet.
I.
156 Der Auflösungsantrag konnte von der Beklagten im Termin zur
Berufungsverhandlung am 12.06.2015 fristgerecht gestellt werden, denn § 9 Abs.
1 Satz 3 KSchG enthält eine gesetzliche Sonderregelung, die allgemeinen
zivilprozessualen Bestimmungen der Prozessförderungspflicht, §§ 296, 530, 531
ZPO, 67 ArbGG vorgeht.
II.
157 Der Auflösungsantrag der Beklagten kann sich allein auf die ordentlichen
Kündigungen vom 13.08.2013 und vom 28.10.2013 beziehen. Da die Beklagte
nicht angibt, zu welchem Zeitpunkt das Arbeitsverhältnis durch gerichtliche
Entscheidung aufzulösen sein soll, bestehen Bedenken gegen die Bestimmtheit
des Antrags. Dies kann jedoch offenbleiben: Da beide in Betracht kommenden
Kündigungen nicht nur sozialwidrig, sondern auch aus anderen Gründen
unwirksam sind, kann das Arbeitsverhältnis des Klägers auf Antrag der Beklagten
nicht nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG aufgelöst werden.
158 1. Das Bundesarbeitsgericht geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass
ein Arbeitgeber nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG die Auflösung des
Arbeitsverhältnisses im Fall einer sozialwidrigen ordentlichen Kündigung nur
verlangen kann, wenn die Rechtsunwirksamkeit der Kündigung allein auf der
Sozialwidrigkeit, nicht jedoch auch auf anderen Gründen im Sinne des § 13 Abs.
3 KSchG beruht. Die Lösungsmöglichkeit nach § 9 KSchG bedeutet für den
Arbeitgeber eine Vergünstigung, die nur in Betracht kommt, wenn eine Kündigung
„nur“ sozialwidrig und nicht (auch) aus anderen Gründen nichtig ist. Lediglich in
den Fällen, in denen die Norm, aus der der Arbeitnehmer die Unwirksamkeit der
Kündigung neben der Sozialwidrigkeit herleitet, nicht den Zweck verfolgt, dem
Arbeitnehmer einen zusätzlichen Schutz zu verschaffen, sondern allein der
Wahrung der Interessen Dritter dient, steht die sich daraus ergebende
Unwirksamkeit der Kündigung einem Auflösungsantrag des Arbeitgebers nicht
entgegen. Dabei führt das Vorliegen eines anderen Unwirksamkeitsgrundes im
Sinn von § 13 Abs. 3 KSchG nicht zur Unzulässigkeit des Auflösungsbegehrens
wegen Fehlens einer Prozessvoraussetzung. Es mangelt dem Begehren
vielmehr an einer materiellen Voraussetzung des § 9 Abs. 1 KSchG wie beim
Fehlen von Auflösungsgründen im Sinn von § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG auch (BAG
23.02.2010 - 2 AZR 554/08, juris Rn. 54; 28.05.2009 - 2 AZR 949/07, juris Rn. 15;
28.08.2008 - 2 AZR 63/07, juris Rn. 25 ff.; 10.11.2005 - 2 AZR 623/04, juris Rn.
48).
159 2. Die Kündigung vom 13.08.2013 ist mangels Zustimmung des Integrationsamts,
die Kündigung vom 28.10.2013 mangels ordnungsgemäßer
Betriebsratsanhörung unwirksam. Sowohl § 85 SGB IX als auch § 102 Abs. 1
BetrVG sind Schutzgesetze im Sinne der ausgeführten Rechtsprechung (vgl.
BAG 28.05.2009 - 2 AZR 949/07 - juris Rn. 12; 28.08.2008 - 2 AZR 63/07 - juris
Rn. 41; 10.11.2005 - 2 AZR 623/04 - juris Rn. 48; LAG Köln 12.11.2014 - 11 Sa
493/14 - juris Rn. 59; LAG Schleswig-Holstein 13.06.2013 - 5 Sa 21/13 - juris Rn.
50).
160 Danach war die Berufung der Beklagten insgesamt zurückzuweisen.
161
D. Nebenentscheidungen
162 Die Kostenentscheidung folgt aus § 46 Abs. 2 ArbGG in Verbindung mit § 91 Abs.
1 Satz 1 ZPO: Die Beklagte hat als unterliegende Partei die Kosten des
Rechtsstreits zu tragen. Soweit sie hinsichtlich des allgemeinen
Feststellungsantrags obsiegt hat, wirkt sich dieser auf den Wert des
Streitgegenstandes nicht aus und findet, da der Kläger mit seinem Begehren im
Ergebnis voll durchgedrungen ist, im Rahmen der Kostenentscheidung keine
Berücksichtigung.
163 Die Revision wird für die Beklagte gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zugelassen,
da die Frage, ob eine nach Abschluss des Betriebsratsanhörungsverfahrens
erfolgte Stellungnahme des Arbeitnehmers eine so wesentliche Änderung in den
dem Betriebsrat mitgeteilten Umständen bedeutet, dass eine Wiederholung der
Betriebsratsanhörung erforderlich ist, von grundsätzlicher Bedeutung und
höchstrichterlich bislang nicht abschließend geklärt ist.