Urteil des LAG Baden-Württemberg vom 11.09.2002

LArbG Baden-Württemberg: treu und glauben, verletzung der anzeigepflicht, wider besseres wissen, betriebsrat, absichtserklärung, vertragsschluss, begünstigung, anschluss, zusicherung, ausnahme

LArbG Baden-Württemberg Urteil vom 11.9.2002, 2 Sa 13/02
Regelungsabrede zugunsten Dritter
Tenor
1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart vom 08.11.01 - Az.: 6 Ca 9575/00 abgeändert: Die Beklagte wird
verurteilt, das Angebot des Klägers auf Abschluss eines zukünftigen Arbeitsvertrages zu den Bedingungen des Vertrags vom 01.03.2000 unter
Anrechnung einer ununterbrochenen Betriebszugehörigkeit seit 09.11.98 anzunehmen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1 Von der Darstellung des Tatbestandes wird gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG abgesehen, da das Urteil des Berufungsgerichts der Revision nicht
unterfällt.
Entscheidungsgründe
I.
2
Die gemäß § 64 Abs. 1 u. 2 ArbGG statthafte Berufung des Klägers ist fristgerecht eingelegt und ausgeführt worden. Im Übrigen sind Bedenken
an der Zulässigkeit der Berufung nicht veranlasst.
II.
3
In der Sache hat die Berufung des Klägers Erfolg. Entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichts kann der Kläger von der Beklagten beanspruchen,
sein Angebot auf Abschluss eines zukünftigen Arbeitsvertrages zu den Bedingungen des Vertrages vom 01.03.2000 und Anrechnung einer
ununterbrochenen Betriebszugehörigkeit seit dem 09.11.1998 anzunehmen.
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1. Die erkennende Kammer ist der Ansicht, dass sich der Anspruch des Klägers auf Abschluss eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses im
Anschluss an das bis zum 08.11.2000 befristete Arbeitsverhältnis aus der zwischen dem Betriebsrat des Werkes ... und den Vertretern der
Beklagten getroffenen Regelungsabrede vom 24.05.2000 ergibt.
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Unter einer Regelungsabrede ist eine Einigung der Betriebsparteien zu verstehen, die nicht den Anforderungen einer Betriebsvereinbarung im
Sinne des § 77 BetrVG entspricht. Soweit sie schuldrechtliche Vereinbarungen beinhaltet, gelten für ihre Auslegung grundsätzlich die §§ 133,
157 BGB. Danach sind Verträge so auszulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern. Zudem ist bei der
Auslegung der einem Vertragsschluss zugrundeliegenden maßgeblichen Willenserklärungen der wirkliche Wille der Parteien zu erforschen und
nicht an dem buchstäblichen Sinn des Ausdruckes zu haften (§ 133 BGB). Empfangsbedürftige Willenserklärungen – so auch das Angebot eines
Arbeitgebers auf Abschluss einer Regelungsabrede und die Annahme eines solchen Angebotes durch den Betriebsrat – sind demnach so
auszulegen, wie sie der Erklärungsempfänger nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte verstehen musste (Palandt-
Heinrichs BGB, 61. Aufl., § 133 Rz. 9 ff. m.w.N.).
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Die Auslegung einer Regelungsabrede nach diesen Grundsätzen kann durchaus ergeben, dass die Betriebsparteien die Begünstigung eines
Dritten im Sinne des § 328 BGB beabsichtigen und dieser einen unmittelbaren Leistungsanspruch gegenüber dem Arbeitgeber erwerben soll (so
grundsätzlich auch Fitting-Kaiser-Heither-Engels BetrVG, 20. Aufl., § 77 Rz. 187; Kreutz in GK-BetrVG, 6. Aufl., § 77 Rz. 12). Dem steht nicht
entgegen, dass die Schaffung normativer betriebsautonomer Regelungen der schriftformgebundenen Betriebsvereinbarung vorbehalten ist,
wohingegen die schuldrechtliche Regelungsabrede grundsätzlich nur Verpflichtungen zwischen den beiden vertragsschließenden Parteien
(Arbeitgeber und Betriebsrat) schafft und für die Einzelarbeitsverhältnisse der im Betrieb Beschäftigten erst mit ihrer entsprechenden Umsetzung
durch den Arbeitgeber auf individualautonomer, arbeitsvertraglicher Basis relevant wird. Dass die in einer Regelungsabrede vereinbarte
Gestaltung der Arbeitsbedingungen sich rechtstechnisch nicht unmittelbar auf den Inhalt der Arbeitsverhältnisse der im Betrieb beschäftigten
Arbeitnehmer auswirkt, schließt rechtsdogmatisch nicht aus, dass aufgrund der zwischen den Betriebsparteien abgesprochenen Regelungen
Ansprüche auf arbeitsvertraglicher Ebene nach den allgemeinen Bestimmungen des Schuldrechts entstehen können. Wenn es nämlich in der
Rechtsmacht der Betriebsparteien steht, nach allgemeinen Grundsätzen ein Schuldverhältnis zu begründen, so können sie auch einen Vertrag
zu Gunsten Dritter im Sinne des §328 Abs. 1 BGB mit der Wirkung schließen, dass ein einzelner Dritter oder eine Gruppe von Dritten das Recht
erwerben soll, eine Leistung zu fordern. Selbst wenn eine derartige Regelungsabrede im Grenzbereich bei Begünstigung einer Vielzahl von
Arbeitnehmern quasi kollektiv-rechtliche Wirkungen zu entfalten scheint, bewegen sich diese doch ausschließlich auf arbeitsvertraglicher Ebene,
ohne in den Funktionsbereich der formgebundenen Betriebsvereinbarung einzugreifen. Nach Auffassung der erkennenden Kammer bestehen
keine sachlich zu rechtfertigenden Bedenken, den Betriebsparteien zuzubilligen, im Gewand einer formlosen Regelungsabrede einen Vertrag zu
Gunsten Dritter, insbesondere zu Gunsten Einzelner oder einer Gruppe von Arbeitnehmern des Betriebs, im Sinne des § 328 Abs. 1 BGB zu
schließen, solange der Verpflichtungswille klar und der Kreis der Begünstigten im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses bestimmt oder bestimmbar
ist. Dabei wird man in der Regel davon ausgehen können, dass der zu begünstigende Dritte ein unmittelbares Recht dann erwerben soll, wenn
der Vertragsschluss einen Akt der Fürsorge für ihn beinhaltet oder aus sonstigen Gründen ausschließlich in seinem Interesse abgeschlossen
worden ist (Palandt-Heinrichs ZPO, 61. Aufl., § 328, Rz. 3).
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Dass ein Vertrag zu Gunsten Dritter in Gestalt einer Regelungsabrede dem Schriftformerfordernis des § 77 Abs. 2 BetrVG unterläge, ergibt sich
weder aus dieser Vorschrift noch aus § 328 BGB noch gar aus Sinn und Zweck der Regelungsabrede bzw. der Betriebsvereinbarung (anderer
Ansicht Kreutz a.a.O.). Für eine derartige Beschränkung der Betriebsparteien besteht nach Auffassung der Kammer auch kein sachlich gebotener
Grund (so auch in einem Parallelfall LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 11.10.2001, 21 Sa 56/01).
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Bei Anlegung der obengenannten Kriterien ist die Regelungsabrede vom 24.05.2000 als Vertrag zu Gunsten Dritter, nämlich zu Gunsten 296
langfristig befristet beschäftigter Mitarbeiter, unter anderem auch des Klägers, in dem Sinne zu qualifizieren, dass diese Mitarbeiter gegenüber
der Beklagten einen unmittelbaren Anspruch auf Abschluss eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses erwerben sollten, wenn nicht verhaltens-
oder leistungsbedingte Gründe dagegensprechen. Dies kann unschwer dem Inhalt der im Ergebnisprotokoll für den Betriebsausschuss am
24.05.2000 festgehaltenen Regelungsabrede (Anlage K6, Bl. 101 d. erstinstanzl. Akte) sowie den konkreten betrieblichen Umständen
entnommen werden.
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Zunächst spricht der Wortlaut „werden ... übernommen“ gegen eine bloße Absichtserklärung der Beklagten. Auch die in diesem Zusammenhang
gemachte Einschränkung „bei denen nicht verhaltens- oder leistungsbedingte Gründe dagegensprechen“ spricht für die Übernahme einer
Verpflichtung durch die Beklagte, weil die Einschränkung einer rechtlich unverbindlichen Absichtserklärung wenig Sinn macht. Weiter spricht der
Gesamtzusammenhang des Informationsgespräches vom 24.05.2000 für einen Vertrag zu Gunsten Dritter: Die Personalverwaltung hatte einen
weiteren Personalbedarf für das Werk in ... festgestellt und war an der Zustimmung des Betriebsrates zu erforderlichen Sondermaßnahmen,
insbesondere auch zur Einführung einer zweiten Samstagsschicht oder Wochenendschicht, interessiert, während dem Betriebsrat im Interesse
der längerfristig befristet beschäftigten Arbeitnehmer – wie schon in der Betriebsvereinbarung vom 23.04.1998 – deren Übernahme in ein
Dauerarbeitsverhältnis am Herzen lag. Daraus ist auf die Absicht der Betriebsparteien zu schließen, dass den langfristig befristet beschäftigten
Mitarbeitern ein einlösbarer eigenständiger Rechtsanspruch eingeräumt werden sollte, zumal bereits 400 vergleichbaren Mitarbeitern aufgrund
der Betriebsvereinbarung vom 23.04.1998 ein selbstständiger Rechtsanspruch zugebilligt worden war. Der Betriebsrat musste aufgrund des
Versprechens der Beklagten vom 24.05.2000 nicht davon ausgehen, dass er im Streitfall im Interesse der begünstigten Arbeitnehmer ein
langwieriges Beschlussverfahren zur Durchsetzung der Regelungsabrede würde führen müssen und damit Sinn und Zweck der getroffenen
flexibel gestalteten Vereinbarung konterkariert werden könnte.
10 Die Beklagte war deshalb aufgrund der Absprache vom 24.05.2000 verpflichtet, den dort genannten 296 Mitarbeitern entsprechende Angebote
auf Abschluss eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses zu unterbreiten. Nachdem der Kläger mit seiner Klage vom 29.11.2000 konkludent ein
Angebot auf Abschluss eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses im Anschluss an das bis zum 08.11.2000 befristete Arbeitsverhältnis abgegeben
hatte, war die Beklagte zu verurteilen, dieses Angebot des Klägers unter Anrechnung einer ununterbrochenen Betriebszugehörigkeit seit dem
09.11.1998 anzunehmen.
11 2. Soweit die Beklagte hiergegen einwendet, leistungs- und verhaltensbedingte Gründe hätten einer Übernahme des Klägers in ein unbefristetes
Arbeitsverhältnis entgegengestanden, ist die erkennende Kammer der Auffassung, dass der Vortrag der Beklagten hierzu entweder
unsubstanziiert oder nicht hinreichend substanziell ist.
12 Aus dem unstreitigen im Betriebsausschussprotokoll vom 24.05.2000 festgehaltenen Inhalt der Regelungsabrede folgt, dass grundsätzlich alle
296 längerfristig befristet beschäftigten Mitarbeiter in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis übernommen werden sollten, wenn nicht verhaltens- oder
leistungsbedingte Gründe dagegen sprachen. Aus dem Regel-Ausnahme-Verhältnis und der negativen Formulierung der
anspruchsausschließenden Umstände ist zu schließen, dass diejenige Partei, welche sich auf letztere berufen will, für ihr Vorliegen auch
darlegungs-und beweisbelastet sein sollte. Dabei wollten die Betriebspartner erkennbar im Wege der formlos getroffenen Regelungsabrede die
in den Vorjahren geübte Praxis der Übernahme befristet beschäftigter Arbeitnehmer in ein Arbeitsverhältnis von unbestimmter Dauer fortsetzen,
ohne erneut eine förmliche Betriebsvereinbarung auszuhandeln und abzuschließen. Dies ergibt sich aus der Zusicherung der
Personalverwaltung, „vergleichbar der letztjährigen Praxis, die Kriterien nicht zu verschärfen“. Mit dem Verweis auf die zuvor geübte Praxis
haben die Betriebspartner aber auch die inhaltlichen Kriterien für die einer Übernahme entgegenstehenden Gründe festgelegt. Mit der Wortwahl
„verhaltensbedingte Gründe“ haben die Betriebsparteien eine Formulierung gewählt, die sich in § 1 KSchG wiederfindet. Die Betriebsparteien
wollten damit allerdings nicht die rechtlichen Anforderungen an eine verhaltensbedingte Kündigung zum Maßstab für die Ablehnung der
Übernahme in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis machen. Die Formulierung zeigt jedoch, dass die Betriebsparteien
Ablehnungsvoraussetzungen vereinbart haben, die ein Gewicht haben und nicht nur der Willkürkontrolle unterliegen sollen.
13 Wenn man diesen Maßstab vorliegend anwendet, kommt die erkennende Kammer zu dem Ergebnis, dass die von der Beklagten für den Kläger
vorgebrachten Ablehnungsgründe nicht ausreichen, um die Übernahme in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis abzulehnen. Soweit die Beklagte
die Übernahme in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis mit der Begründung verweigert, dass der Kläger verspätet am Arbeitsplatz erschienen sei
und manchmal während der Arbeitszeit Zeitung gelesen habe, ist dieser vom Kläger bestrittene Vortrag der Beklagten unsubstanziiert und
deshalb nicht ausreichend. Soweit die Beklagte die Verletzung der Anzeigepflicht für die Arbeitsunfähigkeit des Klägers vom 16.08. – 18.08.1999
vorbringt, ist dieser Vortrag an sich geeignet, einen verhaltensbedingten Grund im Sinne der Regelungsabrede vom 24.05.2000 zu begründen.
Dabei kommt der Arbeitnehmer seiner Anzeigepflicht gemäß § 5 Abs. 1 EFZG in der Regel nicht nach, wenn er die
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung beim Pförtner des Industriewerkes abgibt. Allerdings hat der Kläger unbestritten vorgetragen, dass er
(vergeblich) versucht habe, seinen Meister telefonisch zu erreichen. Auch der Vortrag der Beklagten, dass der Kläger am 25.01.2000 eine
größere Anzahl von Kurbelgehäusen mangelhaft produziert habe, ist an sich geeignet, einen leistungsbedingten Grund im Sinne der
Betriebsabsprache vom 24.05.2000 zu begründen. Hier ist zwischen den Parteien streitig, ob die Kurbelgehäuse mit oder ohne Nacharbeit
weiterverwendet werden konnten.
14 Die beiden von der Beklagten substanziiert vorgetragenen Vorfälle reichen nach Ansicht der erkennenden Kammer jedoch nicht aus, um einen
Übernahmeanspruch für den Kläger entfallen zu lassen. Die Beklagte hatte nämlich im Geltungsbereich der noch bis zum 31.12.2000 laufenden
Betriebsvereinbarung vom 23.04.1998 das zunächst bis zum 08.11.1999 befristet abgeschlossene Arbeitsverhältnis mit dem Kläger zunächst bis
zum 30.04.2000 und dann bis zum 08.11.2000 verlängert. Daraus folgt indiziell, dass die von der Beklagten im vorliegenden Verfahren
angeführten Vorfälle nicht so gravierend sein können, dass sie einer Übernahme in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis entgegenstehen, nachdem
sich beide Vorfälle bereits vor der Verlängerung des Arbeitsvertrages am 01.03.2000 zugetragen haben, danach aber keine weiteren Ereignisse
mehr eingetreten sind. Nach Ziffer 2 der Betriebsvereinbarung vom 23.04.1998 sollten die Verträge längerfristig beschäftigter Mitarbeiter nur
dann auf einen planerisch absehbaren Zeitraum verlängert werden, sofern die persönlichen und fachlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Daraus
folgt nun die Vermutung, dass der Kläger diese Voraussetzungen erfüllt hatte, andernfalls sein Vertrag nämlich nicht hätte verlängert werden
dürfen. Dass die Beklagte die von ihr mitgetragene Betriebsvereinbarung nicht eingehalten oder den Vertrag des Klägers wider besseres Wissen
über seine mangelnden persönlichen und fachlichen Voraussetzungen verlängert hätte, hat sie selbst nicht behauptet.
15 Aus allem folgt, dass der Kläger einen Anspruch auf Übernahme in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis hat.
III.
16 1. Die Kosten des Rechtsstreits waren der Beklagten gemäß § 64 Abs. 6 ArbGG i.V.m. § 91 ZPO aufzuerlegen.
17 2. Ein Rechtsmittel ist gegen dieses Berufungsurteil nicht gegeben. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen
nicht vor. Auf § 72a ArbGG wird hingewiesen.