Urteil des LAG Baden-Württemberg vom 02.10.2002

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LArbG Baden-Württemberg Urteil vom 2.10.2002, 13 Sa 45/02
Haftungsprivileg - betriebliche Tätigkeit
Tenor
1. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Karlsruhe vom 12.04.2002 -- Az.: 1 Ca 483/01 -- abgeändert:
Die Klage wird abgewiesen, soweit durch das Urteil des Arbeitsgerichts Karlsruhe mehr als EUR 1.860,96 nebst Zinsen
zugesprochen wurden.
2. Von den Kosten des ersten Rechtszuges hat der Kläger 29/30 und der Beklagte 1/30 zu tragen. Die Kosten des
Berufungsverfahrens hat der Kläger zu tragen.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über Schadensersatz, insbesondere Schmerzensgeldansprüche.
2
Beide Parteien sind Arbeitnehmer (Kraftfahrer) bei der Fa. T in K.
3
Am 20.02.2001 nachmittags gegen 15:55 Uhr erhielt der damals 45 Jahre alte Kläger vom Beklagten einen Stoß vor die Brust, worauf er einen
Schritt rückwärts machte und über die Handgriffe einer dort stehenden Schubkarre fiel. Beim Aufprall auf den Boden stieß er mit dem Rücken auf
eine dort verlaufende, erhöht angebrachte Stahlschiene. Dabei verletzte er sich ungewöhnlich schwer. Dem Stoß vorausgegangen war unstreitig
die Frage des Beklagten an den Kläger, warum er erst jetzt gekommen sei. Streitig ist zwischen den Parteien, ob der Stoß als Ausübung einer
betrieblichen Tätigkeit zu werten sei und daher die Haftungsbeschränkungen gemäß § 105 Abs. 1 SGB VII zugunsten des Beklagten eingreifen.
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Zu Fall gekommen, konnte der Kläger nicht mehr aufstehen. Er wurde mit dem Rettungshubschrauber nach L in die Berufsgenossenschaftliche
Unfallklinik gebracht und war dort bis 12.04.2001 in stationärer Behandlung. Bei Einlieferung war er von der Hüfte abwärts an beiden Beinen
komplett gelähmt. Diese Lähmung bildete sich im Verlauf der stationären Krankenhausbehandlung am linken Bein größtenteils, am rechten Bein
nur teilweise zurück.
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Seit der Entlassung aus dem Krankenhaus ist die Sensibilität ab dem Wirbelkörper L3 rechts gestört, ab Wirbelkörper S3 ist rechts wieder
Sensibilität vorhanden. Links ab dem Wirbelkörper L4 beginnt die Asensibilität und ab S2 ist Gefühl wieder vorhanden. An der rechten Extremität
und der Glutealmuskulatur erreicht der Kläger lediglich Kraftwerte zwischen 0 und 1, in allen Abschnitten am linken Bein sind bessere Werte mit
Kraftgraden zwischen 3 und 4 vorhanden.
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Seit dem 04.04.2001 zahlte die Berufsgenossenschaft dem Kläger Verletztengeld in Höhe von DM 97,47 täglich. Im Zeitpunkt der Entscheidung
erster Instanz stellten sich die Verletzungen wie folgt dar:
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-- Starke Lähmungen im rechten, geringere Lähmungen im linken Bein in Verbindung mit starken Schmerzen in beiden Oberschenkeln. Das
Gehen ist nur kleinschrittig und schwankend möglich. In beiden Füßen hat der Kläger kein Gefühl. Er trägt deshalb an den Füßen Schienen,
die die Abrollbewegung des Fußes regulieren, da sich die Füße beim Gehen ansonsten wundscheuern. Das Gehen ist dem Kläger nur mit
diesen Fußschienen und zwei Unterarmgehhilfen (Krücken) möglich.
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-- Um die Belastungsschmerzen, die besonders am rechten Oberschenkel und der linken Wade vorhanden sind, ertragen zu können, muß
der Kläger täglich 3-4x ein Schmerzmittel einnehmen.
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-- Die Blase des Klägers ist gelähmt. Er kann also nicht willentlich Wasser lassen. Der Kläger muß deshalb 5-6x täglich einen
Autoeinmalkatheter durch die Harnröhre in die Blase einführen und damit Urin ablassen.
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-- Die Darmmotorik ist sehr verhalten. Damit der Kläger seinen Stuhlgang kontrollieren kann, muß er 3x täglich Abführmittel nehmen.
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-- Die Ausführung des Geschlechtsverkehrs ist dem Kläger seit dem Verletzungstage nicht mehr möglich. An diesem Zustand wird sich
zeitlebens nichts ändern.
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-- Der Kläger hat auch beim Sitzen Beschwerden. Es stellen sich starke Rückenschmerzen ein, wenn er längere Zeit sitzt.
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-- Er leidet an ständigen starken Magenschmerzen.
14
-- Er leidet an Depressionen.
15 Hierfür verlangt der Kläger Schmerzensgeld, welches er mit DM 100.000,00 als angemessen betrachtet.
16 Mit seiner Klage verfolgt er darüber hinaus die Differenz zwischen seinem Nettoarbeitsentgelt und geleistetem Verletztengeld für den Zeitraum
vom 04.04.2001 bis 31.03.2002 in Höhe von DM 5.105,10. Er verlangt ferner einen Ausfallschaden für eine Nebentätigkeit als Hausmeister, die
er ebenfalls nicht mehr ausführen kann, in Höhe von DM 6.213,68. Des weiteren macht der Kläger folgende Schäden geltend:
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a) Ersatz für eine Sehbrille, die beim Vorfall am 20.02.2001 zerstört wurde, unter Abzug der Zuzahlung der Krankenkasse i.H.v. DM 675,80
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b) Kauf von einem Paar Sportschuhe für krankengymnastische Übungen i.H.v. DM 109,00
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c) Kauf von Sportbekleidung für die Krankengymnastik (T-Shirt und 2 Sporthosen) in Wert von DM 103,40
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d) Kauf von speziellen Sportschuhen, die der Kläger benötigte, da er an seinen Beinen Stützschienen tragen mußte, i.H.v. DM 169,90
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e) Ersatz von Telefonkosten während des Krankenhausaufenthalts in der Unfallklinik i.H.v. DM 140,00
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f) Ersatz von Reisekosten, da der Kläger eine gebuchte Urlaubsreise vom 23.02.2001 bis 04.03.2001 nach Spanien aufgrund der
Verletzungen nicht ausführen konnte, i.H.v. DM 1.760,00
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g) Ersatz des Urlaubsgelds für 6 Urlaubstage aus dem Jahr 2000, die der Kläger aufgrund seiner Erkrankung nicht mehr nehmen konnte
und dann am 31.03.2001 verfallen sind, i.H.v. DM 629,28
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h) Ersatz der Arbeitgeberanteile für die vermögenswirksamen Leistungen für die Monate Mai bis einschließlich Juli i.H.v. DM 156,00
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i) Ersatz der Arbeitskleidung, die bei der Behandlung am Unfallort aufgeschnitten wurde; der Neupreis dieser Arbeitskleidung, bestehend
aus Hose, Hemd, T-Shirt und Schuhen, habe DM 300,00, der Zeitwert DM 200,00 betragen
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j) Ersatz der Benzinkosten, die seiner Frau dadurch entstanden sind, daß sie ihn während seines Krankenhausaufenthalts vom 20.02.2001
bis 12.04.2001 an ca. 40 Tagen besucht habe. Die einfache Wegstrecke zwischen der Wohnung des Klägers in H und der Unfallklinik
betrage 58 km. Bei einem Durchschnittsverbrauch von rund 10 I ergebe dies bei den ca. zurückgelegten 4.640 km Benzinkosten i.H.v. DM
913,92.
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k) Darüber hinaus unterzog sich der Kläger 2-3x pro Woche (ca. 10x im Monat) einer krankengymnastischen Behandlung in B Die einfache
Fahrtstrecke von H nach B beträgt 12 km. Dies bedeutet eine Mindestfahrleistung von 240 km pro Monat. Unter Zugrundelegung von
Betriebskosten pro km i.H.v. DM 0,90 ergebe sich für den Zeitraum der Behandlung von 3 1/2 Monaten ein Schadensersatzanspruch i.H.v.
DM 700,00.
28 Der Kläger ist der Ansicht, daß der Beklagte in vollem Umfang für den eingetretenen Schaden einschließlich des Schmerzensgeldes hafte. Ein
Haftungsausschluß gemäß § 105 Abs. 1 SGB VII greife vorliegend nicht ein, da es sich bei dem streitgegenständlichen Stoß nicht um eine
betriebliche Tätigkeit gehandelt habe. Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt:
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1. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger EUR 8.649,05 nebst 5% Zinsen über dem Basiszinssatz aus EUR 3.903,87 ab Klagzustellung
und weitere 5% Zinsen über dem Basiszinssatz aus EUR 4.745,19 ab 26.02.2002 zu bezahlen.
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2. Der Beklagte wird weiter verurteilt, an den Kläger ein angemessenes Schmerzensgeld für den Zeitraum vom 20.02.2001 bis 01.,03.2001
nebst 5% Zinsen über dem Basiszinssatz hieraus seit Klagzustellung zu bezahlen.
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3. Es wird festgestellt, daß der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger sämtliche materiellen und immateriellen Schäden -- letztere, soweit sie
nach dem 01.03.2002 entstehen -- aus dem Vorfall vom 20.02.2001 auf dem Gelände der Fa. ... zu erstatten, soweit die Ansprüche nicht auf
Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen.
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4. Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
33 Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Er vertritt die Auffassung, daß es sich bei dem Vorfall um eine betriebliche Tätigkeit gehandelt
habe. Er habe den Unfall auch nicht vorsätzlich herbeigeführt, so daß nur eine Haftung für Sachschäden in Betracht komme.
34 Das Arbeitsgericht Karlsruhe hat mit Urteil vom 12.04.2002 nach Klageantrag erkannt. In den Entscheidungsgründen, auf die der Einzelheiten
wegen verwiesen wird, hat es einen Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB zuerkannt, da der Beklagte durch den Stoß den Sturz und
die daraus resultierenden Körperverletzungen adäquat kausal verursacht habe. Sowohl der Sturz und die daraus resultierenden
Körperverletzungen als auch die daraus resultierenden Schäden seien ihm zuzurechnen. Er habe bei der Begehung auch fahrlässig gehandelt.
Ein besonders grober Pflichtverstoß oder gar eine vorsätzliche Handlungsweise seien hingegen nicht ersichtlich.
35 Der Schadensersatzanspruch gemäß § 105 Abs. 1 SGB V sei vorliegend nicht auf die sogenannten Sachschäden begrenzt. Der Stoß des
Klägers stelle sich nicht als betriebliche Tätigkeit dar. Hierunter verstehe man jede auf den Betrieb bezogene Tätigkeit, und zwar auch dann,
wenn der Schädiger bei der Verrichtung der Arbeit fehlerhaft und leichtsinnig verfahre. Daher unterfielen alle Handlungen, die ihm vom oder für
den Betrieb übertragen worden seien oder von ihm ohne besondere Weisung, aber im betrieblichen Interesse ausgeführt würden, dem
gesetzlichen Haftungsprivileg. Neben der eigentlichen Arbeit seien auch solche Handlungen geschützt, die der Verursacher unter Anlegung
eines großzügigen Maßstabs als betriebsnützlich ansehen dürfe. Hier seien auch fehlerhaftes und leichtsinniges Handeln sowie
Fehleinschätzungen des Kompetenzbereichs unschädlich für die Geltung des Haftungsausschlusses. Entscheidend sei, ob der Verursacher das
schadensstiftende Verhalten als betriebsnützlich, d.h. im Interesse des Betriebes, habe ansehen dürfen. Dies sei zu verneinen. Der Stoß eines
Kollegen aus Verärgerung über dessen Zuspätkommen sei nicht betriebsnützlich. Es sei gerade nicht in Ausübung einer Tätigkeit, z.B. beim
Entladen eines LKWs, erfolgt; vielmehr sei er eine Sanktion, die der Beklagte aus Verärgerung über das vermeintliche Zuspätkommen des
Klägers habe vornehmen wollen. Eine solche handgreifliche Disziplinierungsmaßnahme stelle keine betriebsnützliche Tätigkeit dar.
36 Hinsichtlich des Schmerzensgeldes hat das Gericht den vom Kläger angenommenen Betrag von EUR 51.000,00 als gerechtfertigt angesehen.
37 Gegen dieses dem Beklagten am 22.04.2002 zugestellte Urteil wurde am 17.05.2002 Berufung eingelegt und am 21.06.2002 begründet.
38 Soweit die Verurteilung Sachschäden betrifft, wird das Urteil nicht angegriffen. Anerkannt wird deshalb seitens des Beklagten die zerstörte
Sehbrille, Telefonkosten, die Stornierung einer Urlaubsreise, der Ersatz von Arbeitskleidung und von Benzinkosten der Besuchsfahrten der
Ehefrau, alles zusammen in Höhe von DM 3.639,72. Die übrigen Positionen beträfen Personenschäden, die von der Privilegierung des § 105
Abs. 1 SGB VII erfaßt seien.
39 Im Gegensatz zur Auffassung des Arbeitsgerichts sei das Schadensereignis im Rahmen einer betrieblichen Tätigkeit eingetreten. Zutreffend sei
das Arbeitsgericht davon ausgegangen, daß jede auf den Betrieb bezogene Tätigkeit auch dann vorliege, wenn der Schädiger bei der
Verrichtung der Arbeit fehlerhaft und leichtsinnig verfahren sei, und daß daneben solche Handlungen geschützt seien, die der Verursacher unter
Anlegung eines großzügigen Maßstabes als betriebsnützlich ansehen dürfe. Es habe aber bei der Würdigung wesentliche Gesichtspunkte außer
Acht gelassen: Die Vorschrift des § 105 SGB VII dürfe im Rahmen einer verständigen Würdigung nicht restriktiv verstanden werden, denn die auf
sie verweisenden Regelungen des § 106 SGB VII dienten u.a. auch der Wahrung des Betriebsfriedens. Dieser könne nicht durch
haftungsrechtliche Auseinandersetzungen aufgrund von Schadensfällen während des eigentlichen Arbeitsbetriebs, sondern in vergleichbarer
Weise auch wegen solcher Unfälle gestört werden, die sich nicht unmittelbar aus der betrieblichen Tätigkeit, sondern aus dem Zusammenleben
der Betriebsangehörigen in dem Betrieb mit ihren spezifischen Gefahren ergeben und deshalb in engem Zusammenhang mit dem Betrieb
stünden. Hier liege ein räumlicher, zeitlicher und unmittelbarer sachlicher Zusammenhang des Unfalls mit dem betrieblichen Geschehen vor. Er
habe sich während der Arbeitszeit, am Arbeitsort innerhalb des Arbeitsverhältnisses zugetragen, wobei der Beklagte ausschließlich die
betriebsnützliche Aufmunterung des Klägers zur Arbeit im Sinn gehabt habe und keinesfalls den Kläger habe verletzen wollen. Falsch sei die
Ansicht des erstinstanzlichen Gerichts, daß der Stoß des Beklagten als Sanktion aus Verärgerung über das vermeintliche Zuspätkommen
geschehen sei. Der Beklagte habe den Kläger nicht gestoßen, sondern geschubst. Der Schubs sei derart schwach gewesen, daß es seitens des
Klägers nicht einmal eines Schrittes zurück bedurft hätte. Der Schubs sei nicht Ursache dafür gewesen, daß der Kläger einen Schritt zurück
gemacht habe. Es falle daher allein in seinen eigenen Verantwortungsbereich, wenn dieser Schritt die folgenschwere und leidvolle Kausalkette
ausgelöst habe. Der vorliegende Schubs des Klägers sei nicht mit dem Fußtritt eines Vorgesetzten in das Gesäß eines Mitarbeiters vergleichbar,
den das LAG Düsseldorf beurteilt habe. Zu Recht habe das Gericht festgestellt, daß der Kläger fahrlässig und nicht vorsätzlich gehandelt habe.
40 Der Beklagte beantragt:
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1. Das Urteil des Arbeitsgerichts Karlsruhe -- 1 Ca 483/01 -- vom 12.04.2002 wird im Kostenpunkt aufgehoben und im übrigen wie folgt
abgeändert:
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Die Klage wird abgewiesen, soweit durch Urteil des Arbeitsgerichts Karlsruhe mehr als EUR 1.860,96 zugesprochen wurden.
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2. Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.
44 Der Kläger beantragt Zurückweisung der Berufung. Nach seiner Ansicht bleibt unstreitig, daß der Beklagte dem Kläger, ohne Anlaß hierfür zu
haben, mindestens mit einer Hand einen Stoß, mindestens aber einen Schubs gegen den Körper versetzt und den Kläger dazu veranlaßt habe,
einen Schritt zurück zu machen, in dessen Folge er dann über die hinter ihm stehende Schubkarre gestolpert sei. Der Vorwurf der fahrlässigen
Körperverletzung bleibe daher bestehen. Er empfinde den Stoß, den ihm der Beklagte versetzt habe, nach wie vor als absichtlich und
zielgerichtet und deshalb als vorsätzliche Körperverletzung.
45 Der einzige Gesichtspunkt, der die Durchführung eines Berufungsverfahrens rechtfertigen könne, sei die vom Beklagten diskutierte Frage, ob er
sich auf das Haftungsprivileg des § 105 Abs. 1 SGB VII berufen dürfe. Diese Frage hat das Arbeitsgericht zutreffend verneint. Der Beklagte stelle
Erwägungen nur zur Betriebsbezogenheit seiner Handlung an, nicht aber zur Betriebsnützlichkeit. Keineswegs aber sei alles Betriebsbezogene
auch betriebsnützlich.
46 Das gegen den Beklagten eingeleitete Strafverfahren wurde nach § 153a StPO eingestellt.
Entscheidungsgründe
47 Die unbedenklich zulässige Berufung ist auch begründet. Die zwischen den Parteien einzig streitige Rechtsfrage, ob vorliegend das
Haftungsprivileg der §§ 106 Abs. 1, 105 Abs. 2 SGB VII zugunsten des Beklagten eingreift, wird im Gegensatz zur Auffassung des Arbeitsgerichts
bejaht.
48 1. Nach § 105 Abs. 1 SGB VII sind Personen, die durch eine betriebliche Tätigkeit einen Versicherungsfall von Versicherten desselben Betriebs
verursachen, nur dann zum Ersatz von Personenschäden verpflichtet, wenn sie den Versicherungsfall vorsätzlich herbeigeführt haben. Der
dadurch gesetzlich bestimmte Ausschluß der Haftung bei fahrlässigen Verhaltensweisen berücksichtigt die Tatsache, daß es für Arbeitnehmer
zur Erzielung ihres die Existenzgrundlage bildenden Einkommens vielfach unausweichlich ist, sich im betrieblichen Geschehen in einer
Risikogemeinschaft mit anderen Arbeitnehmern zu befinden. Gleichzeitig soll im Interesse des Betriebsfriedens vermieden werden, daß sich
Arbeitnehmer untereinander in Haftungsstreitigkeiten befinden (BAG, Großer Senat, Beschluß vom 25.09.1957, AP Nr. 4 zu §§ 898, 899 RVO;
BGH, AP Nr. 12 zu § 637 RVO; BVerfG, AP Nr. 6 zu § 636 RVO; zuletzt BAG, Urteil vom 14.12.2000, NJW 2001, S. 2039). Letztlich soll der
Arbeitgeber, der durch seine Unfallversicherungsbeiträge (§ 150 Abs. 1 Satz 1 SGB VII) den eigenen Haftpflichtversicherungsschutz finanziert,
von Freistellungs- und Erstattungsansprüchen der nach den Regeln über den innerbetrieblichen Schadensausgleich nur eingeschränkt oder gar
nicht haftenden Arbeitnehmer entlastet werden (BAG, a.a.O.). Nimmt man hinzu, daß die Haftung des Arbeitnehmers jedenfalls gegenüber dem
Arbeitgeber zumindest bis zum Schuldgrade mittlerer Fahrlässigkeit erheblich eingeschränkt ist, so ergibt sich als Ausgleich für diese Entlastung
der Anspruch des Verletzten aus der gesetzlichen Unfallversicherung, die über das, was ggf. ein Arbeitskollege leisten müßte, hinausgeht.
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Unter Zugrundelegung dieser gesetzlichen Haftungsbeschränkung hat der Beklagte für die Personenschäden, zu denen auch der Anspruch
auf Schmerzensgeld gehört, nicht einzustehen. Nach dem von den Parteien Vorgetragenen wird der Vorfall als Arbeitsunfall und damit als
Versicherungsfall gemäß § 7 SGB VII behandelt. Auch ist davon auszugehen, daß die Verletzungsfolgen bei der in § 105 SGB VII
geforderten betrieblichen Tätigkeit entstanden sind. Beide Arbeitnehmer waren auf dem Betriebsgelände, während ihrer jeweils
individuellen Arbeitszeit. Auch hatte der Vorhalt des Beklagten gegenüber dem Kläger, daß er verspätet erscheine, ersichtlich betrieblichen
Bezug. Dieser Vorhalt stand in enger Berührung mit der Arbeitsleistung. Dies wird letztlich vom Berufungskläger auch nicht anders gesehen.
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Die Handlung des Beklagten gegenüber dem Kläger war auch in einem weiteren Sinne für den Arbeitgeber von Nutzen: Es ist prinzipiell
nützlich, wenn Arbeitnehmer in Ausführung ihrer Tätigkeit wechselseitig kommunizieren, um sich in ihrem Verhalten aufeinander
abzustimmen. Hierzu gehört auch die Kundgabe einer subjektiven Einschätzung des Verhaltens eines Kollegen. Unabhängig davon, ob ein
geäußerter Vorhalt berechtigt ist oder nicht, hat der Arbeitskollege die Möglichkeit, zu überprüfen, ob der Vorhalt berechtigt ist und eine
zukünftige Verhaltensänderung seinerseits angezeigt erscheint oder ob er ihn zurückweist. Geschieht dies, kann die Streitfrage nötigenfalls
unter Einschaltung eines Vorgesetzten oder anderer Dritter geklärt werden. Auch wenn die als Vorhalt gemeinte Frage an den Kläger,
warum dieser so spät komme, mit einem Schubs vor die Brust verbunden war, kann dies die Betriebsnützlichkeit im Rechtssinne noch nicht
beseitigen. Eine Schädigung eines Arbeitskollegen wird in aller Regel auf einem nicht sachgerechten Verhalten beruhen, und weder dieses
noch erst recht die Verletzung eines Mitarbeiters sind im engeren Sinne betriebsnützlich (vgl. auch BGH, VersR, 68, 353). Es ist aber nicht zu
verkennen, daß man nicht die Verletzungsfolge in die Frage der Betriebsnützlichkeit einbeziehen kann, sondern die Verletzungshandlung,
die die Kausalkette in Gang setzt. Wollte man von der Verletzungsfolge auf die Betriebsnützlichkeit schließen, wäre die
Haftungsprivilegierung nach § 105 SGB VII weitgehend obsolet. Bei der Bejahung der Betriebsnützlichkeit ist ein großzügiger Maßstab
anzulegen (LAG Baden-Württemberg, Urteil v. 06.07.1997 -- 10 Sa 26/99 -- juris; LAG Düsseldorf, Urteil v. 27.05.1998 -- 12 (18) Sa 196/98 --
BB, 1998, 1695). Nicht mehr tolerierbares Verhalten wie der Tritt ins Gesäß zur Förderung der Arbeitsleistung (LAG Düsseldorf, a.a.O.) oder
Stichverletzung (LAG Baden-Württemberg, a.a.O.) ist zu unterscheiden von dem fast durchgehend ganz und gar verletzungsfolgenfreien
Schubs oder Stoß vor die Brust, der allenfalls zu einem Schritt rückwärts veranlaßt. Es kommt deshalb nur darauf an, inwieweit der den
Vorhalt begleitende Schubs als solcher im erweiterten Sinne des Gesetzes als betriebsnützlich angesehen werden kann. Dies hat die
Kammer im Gegensatz zum Arbeitsgericht bejaht, weil sie darin eine Verhaltensweise sieht, die unter Arbeitnehmern vergleichbarer
gesellschaftlicher Stellung als nicht unüblich angesehen werden kann. Mit seinem Schubs wollte der Beklagte ersichtlich seine Rede nur
unterstreichen und bekräftigen. Auch der Kläger geht nicht davon aus, daß es dem Beklagten auf eine Körperverletzung angekommen ist.
Wäre hinter dem Kläger nicht die Schubkarre gestanden, so wäre ein Schritt zurück die einzige Folge gewesen, ohne daß es zur geringsten
Körperverletzung gekommen wäre. Erst die weitere, zwar adäquat-kausale, aber vom Beklagten offensichtlich nicht vorhergesehene
schwere Verletzung ist geeignet, die Betriebsnützlichkeit zu verneinen. Auf sie aber kann es bei der Bewertung nicht ankommen.
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Die Kammer geht deshalb von einer betrieblichen Tätigkeit i.S. des § 105 Abs. 1 SGB VII aus.
52 2. Der Beklagte hat nicht vorsätzlich gehandelt. Davon sind auch das Arbeitsgericht und die Staatsanwaltschaft ausgegangen. Bei der
unerlaubten Handlung, um die es sich hier handelt, genügt für den Vorsatz Wissen und Wollen der Verletzung des geschützten Rechtsgutes, hier
der körperlichen Unversehrtheit. Es steht zwischen den Parteien außer Streit, daß der Beklagte die Verletzungsfolgen nicht gewollt hat. Bei der
Arbeitnehmerhaftung, um die es sich letztlich auch handelt, muß sich der Vorsatz sogar auf die Verletzungsfolgen beziehen (vgl. BAG, Urteil v.
18.04.2002 -- 8 AZR 348/01).
53 3. Die Haftung des Beklagten war daher auf die Sachschäden, die das Arbeitsgericht auch zugesprochen hat, begrenzt.
54 4. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 46 Abs. 2 ArbGG, 92 ZPO. Bei der Quotelung wurde davon ausgegangen, daß die rechtskräftig
gewordene Feststellung der Schadensersatzpflicht des Beklagten in der Zukunft keinen meßbaren Wert darstellt. Jedenfalls ist Ersichtliches
hierzu nicht dargelegt.
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(Althaus)
56
(Dr. Kadel)
57
(Keller)